Wenn zwei dasselbe sagen, heißt das noch lange nicht, dass sie dann auch dasselbe meinen. Dieser aus der Kommunikationsstrategie bekannte Merksatz eignet sich ebenfalls gut als Überschrift eines Resümees der an der Berliner Humboldt Universität entstandenen und jetzt in leicht gekürzter Fassung im Druck vorliegenden Dissertation von Konstantin Freytag-Loringhoven, in der ihr Verfasser untersucht, warum und auf wessen Betreiben an den deutschen Universitäten der amerikanischen Besatzungszone nach Ende des Zweiten Weltkrieges zwischen 1945 und 1960 Kollegienhäuser entstehen sollten. Denn ganz offensichtlich vereinte in dieser Phase der unmittelbaren Nachkriegszeit etliche deutsche Bildungsreformer und amerikanische Besatzungsoffiziere der Wunsch, an den reorganisierten oder neu errichteten Hochschulen des gerade erst wieder der Demokratie zugeführten Landes ein universitätsnahes Wohn- und Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem die Studierenden neben ihrer akademisch-wissenschaftlichen Ausbildung auch lernen sollten, im reifen Umgang miteinander ganz bewusst als junge Staatsbürger zu leben. Einen solchen Raum der Bewährung junger Wissenschaftler als der Gemeinschaft verpflichtete Menschen sollte nun für die einen ein Ort bieten, den sie als „Kollegienhaus“ bezeichneten. Damit wählten sie aber einen Begriff, den die anderen im Sinne ihrer eigenen Sprach- und Kulturgeschichte zunächst in einfacher Übersetzung als „College“ amerikanischer Tradition interpretierten. Doch was deutsche Bildungsreformer als „Kollegienhaus“ auswiesen, war eben nicht das, wie sich herausstellen sollte, was die Amerikaner unter einem „College“ verstanden.
Freytag-Loringhoven berichtet in seiner Untersuchung eines außerordentlich bedeutenden Abschnitts der deutsch-amerikanischen Bildungsgeschichte somit nicht nur von einem wichtigen Kapitel der Reorganisation deutscher Universitäten – sowie einer Reform der Vorstellung von einem idealen Bildungserlebnis der Studierenden – nach der schlimmen Zeit des Weltkrieges und der nationalsozialistischen Herrschaft, sondern er beschreibt vor allem auch eine hochinteressante Episode des teilweise nicht intendierten, teilweise aber auch durchaus vorsätzlichen kulturellen und akademischen Missverstehens. Die Erzählung dieses eigentümlichen und teilweise bizarren Kommunizierens und Interagierens von Deutschen und Amerikanern, die zwar gemeinsam, doch nicht immer im völligen Einverständnis, die deutschen Hochschulen in eine bessere Zukunft führen wollten, macht den großen Reiz von Freytag-Loringhovens Studie aus – zumal ihr sprachlich versierter Autor stets quellennah arbeitet (ausgewertet wurden Archivalien in deutschen Universitätsarchiven und in den Archiven amerikanischer Stiftungen in New York und Chicago) – und es somit immer versteht, die Zeit des akademischen Aufbruchs nach 1945 dem Leser sehr lebendig vor Augen zu führen. Freigelegt werden dadurch dann auch in beeindruckender Klarheit die großen Linien der deutschen und amerikanischen Bildungstraditionen der vergangenen drei Jahrhunderte, was kein geringes Verdienst ist und die Arbeit zu einem unverzichtbaren Hilfsmittel des Studiums der deutsch-amerikanischen Bildungsgeschichte macht.
In ihrem ersten Teil vergleicht die Studie zunächst die unterschiedlichen Traditionslinien der deutschen Universität und der amerikanischen Hochschulen (23-100). Während die deutsche Universitätsidee spätestens seit dem Wirken Humboldts und Schleiermachers im frühen 19. Jahrhundert ihre Substanz aus der Vorstellung bezog, dass die Studierenden in erster Linie an den Forschungsprozessen ihrer Hochschullehrer teilhaben sollten und „das Lernen des Lernens“ [1] sowie das selbständige wissenschaftliche Arbeiten als ihren eigentlichen und wichtigsten „Ausbildungsauftrag“ (23) in akademischer Freiheit verstehen sollten – bei einer ganz unabhängig davon vorgenommenen, unpolitischen Gestaltung des Privatlebens –, legten die amerikanischen Hochschulen schon seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, also seit Gründung des 1636 eröffneten Harvard College, einen großen Wert darauf, dass neben der wissenschaftlichen Ausbildung auch eine allgemeine moralische Erziehung zum Staatsbürger ein ganz wesentliches „Ziel der Erziehung“ (70) zu sein hatte.
Errichtet wurden deshalb bereits im Nordamerika der Frühen Neuzeit allerorten – ob in Boston, New Haven, Providence oder Philadelphia – in englisch-klösterlicher Tradition stehende „Colleges“, die auf „geschlossenen Campusanlagen“ (71) gebaut wurden. An diesen Stätten des akademischen Lebens, wo die amerikanischen Studierenden dann aber auch den größten Teil ihrer Freizeitaktivitäten organisierten, sollte jener Spiel-Raum gewährt werden, den junge Menschen gerade auch unter dem Dach der Universität benötigten, um als gemeinsam Lernende auch ihr Leben eines „guten Staatsbürgers“ (70) gemeinsam zu entwickeln und zu vervollkommnen. Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert fanden auch in den USA Vorstellungen von der Universität als Forschungsinstitution Eingang in die dortige akademische Wirklichkeit, vor allem an der Johns Hopkins University, die 1876 explizit nach deutschem Vorbild in Baltimore gegründet wurde (vgl. 84). Zu einem vollständigen Bruch mit den eingeführten Collegestrukturen kam es aber in Nordamerika nicht. Umgekehrt gab es in Deutschland erstmals in der Weimarer Republik Bestrebungen, sich am amerikanischen Bildungswesen zu orientieren. Vor allem der preußische Ministerialrat Erich Hylla warb für ein „Sicheinordnen in die menschliche Gemeinschaft überhaupt“ [2] nach amerikanischem Vorbild, ohne sich mit diesen Vorstellungen jedoch bis 1933 durchsetzen zu können (90).
Im zweiten Teil der Arbeit führt Freytag-Loringhoven dann vor, wie die Reflexion über das Versagen der deutschen Studentenschaft – die sich ja schon gegen Ende der Weimarer Republik und somit vor dem Beginn des Dritten Reiches in großer Zahl dem Nationalsozialistischen Studentenbund verschrieben hatte – jene für den Neuaufbau des deutschen Bildungssystems nach 1945 verantwortlichen Männer und Frauen dazu brachte, erneut über die Einführung eines Collegesystems nachzudenken, um den Studierenden nun endlich auch hierzulande außer der wissenschaftlichen Ausbildung einen Sinn für die Bedeutung der Demokratie nachhaltig zu wecken. US-Offiziere und hochqualifizierte Soldaten, die zum Teil eigens für den Einsatz im deutschen Bildungsbereich in der amerikanischen Besatzungszone vorbereitet wurden, hatten im Rahmen der Reeducation-Politik große Sympathien für jene deutschen Bildungsreformer, die an den Universitäten nun allgemeinbildende Vorlesungen anboten oder zur Fairness im politischen Schlagabtausch anhielten (125). Einen eigentlichen amerikanischen Masterplan zur Reform der deutschen Universitäten gab es nicht, vieles wurde „den Offizieren vor Ort“ (120) überlassen, die nach eigenem Gutdünken entscheiden konnten. Durch Fördergelder griffen amerikanische Autoritäten in diesem Zusammenhang dann auch die Frage des Wohnraums der Studenten auf, der analog zu amerikanischen Traditionen nach Möglichkeit auch in entsprechende Gemeinschaftshäuser verlegt werden sollte.
Anhand einer Reihe von Fallbeispielen (Collegium Academicum der Universität Heidelberg, Collegium Gentium in Marburg, Studentenhaus an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, Studentendorf am Berliner Schlachtensee) legt Freytag-Loringhoven dann im dritten und letzten Teil seiner Arbeit dar, dass die nach dem Krieg eingerichteten deutschen Kollegienhäuser und deren „Enthusiasten“ (146), zu denen so prominente Gelehrte wie der Historiker Walther Peter Fuchs und der Germanist Walter Killy zählten, unter einer solchen Institution ganz etwas anderes verstanden, als ihre amerikanischen Gönner und Förderer. Wo immer sie mit der Verwirklichung ihrer Ideen zum Zuge kamen, plädierten sie für ein gemeinsames Wohnen und ein gemeinsames studentisches Leben, das nicht an republikanisch-demokratischen amerikanischen Collegetraditionen orientiert war, sondern an den nicht unproblematischen, häufig demokratiekritischen Gemeinschaftsideen der deutschen Reformpädagogik, die im Wesentlichen von „politisch-romantisch geprägten Männern“ (534) und Verfechtern der „Landschulheim-Romantik“ (536) konzipiert worden waren.
Zu einer gründlichen Abkehr vom Kollegienhausgedanken und einem Auszug aus den entsprechenden Einrichtungen kam es in der Bundesrepublik Deutschland dann in den 1960er Jahren vor allem deswegen, weil die Studenten und jüngeren Dozenten die Gemeinschaftsideen der älteren Generation nicht mehr mittragen wollten. Jürgen Habermas lehnte den Vorschlag, „die in Kollegienhäusern kasernierten Anfangssemester zur akademischen Lebensgemeinschaft zu verpflichten“ [3] rundweg ab, weil dadurch die wichtige Maxime preisgegeben werde, „Bildung durch Wissenschaft“ zu verwirklichen, in einem freiheitlichen Staat, den die Jüngeren nun ohnehin schätzen gelernt hatten (519).
Mit einer Konsolidierung der Gesellschaft löste sich in Deutschland der Konsens eines erzieherischen Ziels wieder auf in Richtung des im 19. Jahrhundert geprägten Verständnisses eines erzieherischen Eigenwertes der Wissenschaft. So gelangt Freytag-Loringhoven zu dem überzeugenden Fazit, dass das Scheitern der von den Amerikanern aus ihrer eigenen Erfahrung als besonders demokratiefördernd empfundenen Kollegienhäuser „paradoxerweise“ als „Erfolg des amerikanischen Werbens für eine liberale Haltung in der Demokratie“ verstanden werden kann (546).
[1] Schleiermacher, F.: Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn, nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende“ (1808), in: Anrich, E. (Hg.): Idee der deutschen Universität, Darmstadt 1956, 291.
[2] Hylla, E.: Staatsbürgerliche Erziehung im Deutschunterricht der Volksschule; zwei Vorträge, Frankfurt am Main 1925, 4.
[3] Habermas, J.: Vom sozialen Wandel akademischer Bildung (1963), in: Hans-Georg Herrlitz (Hg.): Hochschulreife in Deutschland. Paedagogia: Daten, Meinungen, Analysen, Göttingen 1968, 116.
EWR 13 (2014), Nr. 5 (September/Oktober)
Erziehung im Kollegienhaus
Reformbestrebungen an den deutschen Universitäten der amerikanischen Besatzungszone 1945-1960
Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012
(608 S.; ISBN 978-3-515-10240-7; 82,00 EUR)
JĂĽrgen Overhoff (MĂĽnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
JĂĽrgen Overhoff: Rezension von: Freytag-Loringhoven, Konstantin von: Erziehung im Kollegienhaus, Reformbestrebungen an den deutschen Universitäten der amerikanischen Besatzungszone 1945-1960. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978351510240.html
JĂĽrgen Overhoff: Rezension von: Freytag-Loringhoven, Konstantin von: Erziehung im Kollegienhaus, Reformbestrebungen an den deutschen Universitäten der amerikanischen Besatzungszone 1945-1960. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978351510240.html