EWR 14 (2015), Nr. 4 (Juli/August)

Michael Wimmer
Pädagogik als Wissenschaft des Unmöglichen
Bildungsphilosophische Interventionen
Paderborn: Schöningh 2014
(456 S.; ISBN 978-3-5067-7949-6; 59,00 EUR)
Pädagogik als Wissenschaft des Unmöglichen Mit dem vorliegenden Sammelband knüpft Michael Wimmer an die in seiner Habilitationsschrift „Dekonstruktion und Erziehung“ (2006) vorgelegten Studien zum Paradoxieproblem an und weist einmal mehr die Annahme zurück, man könne dieses als bloßes Reflexionsproblem mit der stillen Hoffnung auf Lösbarkeit verhandeln. Sein (erneuter) dekonstruktiver Einsatz [1] erinnert vielmehr daran, dass das Unmögliche und das Unentscheidbare konstitutive Elemente nicht nur des pädagogischen Denkens, sondern auch des Handelns sind, die mit der Auflösung der Paradoxien verschwinden.

Der Autor legt in diesem Band 19 Texte vor, die im Zeitraum zwischen 1999 und 2013 entstanden sind, darunter drei Erstveröffentlichungen. Die Beiträge sind nicht chronologisch geordnet, sondern thematisch nach sechs Themen (zu je drei Texten) gebündelt, denen eine einleitende Erläuterung des vielleicht für manche befremdlich klingenden Titels „Pädagogik- eine Wissenschaft des Unmöglichen?“ vorangestellt ist. In dieser äußerst lesenswerten Einleitung wird die Themenstellung auf die eher randständige Thematisierung von Negativität (vgl. Benner, Buck, Fischer / Ruhloff , Koch, Kokemohr, Koller) bezogen und die Modalkategorie des Möglichen insofern neu gefasst, als das hier zur Rede stehende Unmögliche nicht bloß das noch nicht Mögliche meint, sondern als logisch wie ontologisch, epistemisch wie praktisch Unmögliches (10) verstanden wird, das den Gegensatz zwischen positiver Möglichkeit und negativer Unmöglichkeit transzendiert (13) und insofern nicht in bloßer Opposition zur „Hegemonie der Möglichkeitswissenschaften“ (16) steht. Der zweite Abschnitt erörtert „Kontingenz, Ungewissheit und Nichtwissen“ in drei Beiträgen. Der erste fokussiert auf Ungewissheit als Konstitutionsbedingung (und Bedrohung) der Pädagogik, während der zweite die Potentialität und Positivität der verschiedenen Formen das Nichtwissens und der Negativität auslotet und damit dem Vorbehalt, man habe es bloß mit dysfunktionalen Störungen zu tun, durch Aufweis des praktischen Werts des Nichtwissens begegnet. Dass Unwissen (in der Lehre) Machbarkeitsphantasien begrenzt und das Rätsel des Lehrens gegen das Schließen der Lehr-Lern-Differenz bewusst hält, verdeutlicht der letzte Text dieses Abschnittes.

Um „Unbestimmtheit und Unvorhersehbarkeit der Zukunft“ kreisen die Themen des dritten Abschnittes. Die Beiträge erstrecken sich vom Habilitationsvortrag, in dem Wimmer den Status und den Wandel pädagogischer Zukunftsvorstellungen und insbesondere die Möglichkeit des Redens von der Zukunft nach dem Ende der großen Erzählungen diskutiert und zuletzt mit Levinas, Lyotard und Derrida das Utopische als in der Zeitlichkeit des Handelns und Denkens enthalten (131) ausweist, über „Anmerkungen zum Diskurs über die Zukunft der Bildung“, die auf die Begründungsfunktion des Begriffs der Wissensgesellschaft in diesem Diskurs aufmerksam machen, die insofern für Bildung ruinös sei, als verkannt werde, dass Wissen nicht nur eine Ressource und Bildung kein Produkt sei, bis zur Frage nach dem „Subjektsein morgen“ (151). In diesem Text wird die Thematisierung des Subjekts in der Spur des Poststrukturalismus (psychoanalytisch mit Lacan, machtanalytisch mit Foucault) durch die Frage nach dem Außen im Selbstverhältnis (Hantologie), die Frage nach der Technik und den Medien (Pharmakologie) und die Frage nach der Macht und dem Status des Selbst (Psychotechnologie) (157) zugespitzt.

Mit „Grundlose Bedingungen: Alterität – Autorität – Medialität“ ist der vierte Abschnitte überschrieben. Er wird eingeleitet mit Überlegungen zum Paradoxon des Vertrauens als einer der Bedingungen des Menschseinkönnens, über die man nicht verfügen kann: „Auch wenn Vertrauen sich nicht seines Grundes sicher sein kann, so vertraut es doch darauf, dass es einen Grund gibt oder dass es ihn selbst schafft allein dadurch, dass Vertrauen statthat“ (184). Insofern ist auch Vertrauen eine Erfahrung des Unmöglichen, weil die Vertrauensfrage unentscheidbar ist – und als solche ausgehalten werden muss (192). Auch Autorität – als Thema des nächsten Textes – ist, wie Wimmer nach einem theoriegeschichtlichen Rückblick und einem Blick auf gegenwärtige Entwicklungen herausstellt, „weder eindeutig fassbar noch vermeidbar, sie ist fiktional und grundlos, aber zugleich wirksam und notwendig“ (209). Gerade weil sie grundlos und paradoxal verfasst sei, sei sie auch dekonstruierbar, könne man den Gegensatz zwischen Zwang und Freiheit, der in ihr versöhnt oder aufgehoben scheint, aus dem Gleichgewicht bringen (ebd.). Der letzte Beitrag in dieser Themengruppe hat den Titel „Vom individuellen Allgemeinen zur mediatisierten Singularität“ und befasst sich mit der Sprache als „Bildungsmedium bei Humboldt und Derrida“ (213). Es geht, unter Rückgriff auf Kittler, Foucault, Derrida, um die Frage nach einem posthumanistischen und posthermeneutischen Bildungsbegriff, der die Medialität der Sprache nicht unterschlägt.

Rahmenthema des fünften Abschnittes ist „Grenzerosion und Zwischenreich: Traum – Wahn – Wissen“. Der erste Traum, den es auszuräumen gilt, ist jener von einer „zwanglosen Erziehung und einer aggressionsfreien Gesellschaft“ (241). Wimmer zeigt (exemplarisch an Thoreau und Kant resp. Skinner und Rousseau), dass es weder den Utopien bzw. Alternativentwürfen noch wissenschaftlich-philosophischen Begründungsdiskursen gelingt, die Grundfrage moderner Pädagogik zu lösen, ob und wie eine Erziehung zur Freiheit möglich ist, und arbeitet die in der Frage steckende Paradoxie heraus, dass Pädagogik sich selbst so begründen muss, dass sie nicht als Verhinderin von Autonomie erscheint, sondern als deren Ermöglicherin, während der Objektstatus des Adressaten durch seine Subjektivität ebenso unterminiert wird wie die unterstellte Gleichheit durch die Differenz der Interaktionspartner (252f). Interessant ist die Wendung, dass gerade diese Paradoxie in eine Unentscheidbarkeit stelle, in der man nur mehr dem Imperativ folgen könne: „Antworte! Und sei gerecht!“ (256).

Der zweite Wahn, mit dem sich der Autor auseinandersetzt, ist der des Wissens („Wahnhaftes Wissen und gewusster Wahn im pädagogischen Diskurs“ (259)). Es scheint, als könne die Grenze zwischen Wissen und Wahn nicht mehr klar gezogen werden. Es wird aufgezeigt, dass für diese Grenzerosion „die epistemologischen Konsequenzen des linguistic turns, die Krise der Repräsentationslogik, die Entsicherung des ontologischen Wahrheitsbegriffs und die Entdeckung des Anderen als eines der Zentralthemen der Philosophie des 20. Jahrhunderts sowie die von der Ethnologie ausgehende Relativierung des Wirklichkeitsbegriffs und die zunehmende Virtualisierung und Kontingenzsteigerung im Zuge der medien- und informationstechnischen Transformationsprozesse“ (265) verantwortlich sind. An vielen Beispielen, wie z. B. dem der universalisierenden Tribunalisierung in Form laufender Evaluationen, wird augenfällig, dass das Wissen einen wahnhaften Charakter annehmen kann, wenn die Ungewissheit des Wissens und die Unbestimmtheit der Grenze zwischen Wahn und Wissen verleugnet werden. Schließlich, so das Anliegen des dritten Textes „Bildung und Wahn“ (289), kann auch gezeigt werden, „dass sowohl der Diskurs über Bildung als auch sie selbst auf mehrfache Weise mit Wahnelementen durchsetzt sind“ (ebd.), und zwar sowohl konstitutiven als auch pathologischen Charakters.

„Aporetische Verhältnisse: Pädagogik – Ethik – Politik“ sind das gemeinsame Anliegen der Beiträge des sechsten Themenblocks. Der erste Beitrag führt die pädagogische Relevanz der Philosophie von Emmanuel Levinas vor Augen, indem er den Zusammenhang zwischen dem Alteritäts- und dem Paradoxieproblem mit Blick auf das Verhältnis von Wissen und Handeln diskutiert, um die Tragweite der Frage der Gerechtigkeit für die Pädagogik aufzuzeigen. (Diese Überlegungen sind auch aus der Habilitationsschrift bekannt.) In der Spur von Levinas diskutiert Wimmer im nächsten Beitrag („Ethik des Antlitzes und Politik der Sichtbarkeit“) an sehr anschaulichen Beispielen (Nacktscanner, Street-View, Burkas) die Ambivalenz des Bilderverbots. Der anschließende Beitrag erörtert „Die Agonalität des Demokratischen und die Aporetik der Bildung“ (359) vor dem Hintergrund der alarmierenden Transformation der Universität. Im Diskurs um die neue Steuerungslogik, die an den Universitäten Platz gegriffen hat und die im Dienste der „Transformation von Bildung in Humankapital“ steht, positioniert sich der Autor mit der These, „dass der Verleugnung des Poltischen auf dem Feld der Politik die Verleugnung des Pädagogischen in den (von der Bildungsforschung z. T. flankierten) Bildungsreformen korrespondiert“ (360), denn es bestünden zwischen dem Pädagogischen und dem Politischen auf struktureller Ebene Homologien. Bildung an der Universität dürfe „weder dem neuhumanistischen Bildungsversprechen noch dem ökonomischen Imperativ der Selbstbewirtschaftung“ (ebd.) verfallen. Vielmehr gehe es darum, Subjektivität nicht im Gegensatz von individueller Bildung und gesellschaftlicher Brauchbarkeit zu begreifen, sondern an die Tradition des bildungstheoretischen Diskurses anzuknüpfen und ihn zu dekonstruieren; es bedürfe also des erneuten Versuches, das Pädagogische zu denken, „da es, wie auch die Demokratie, stets nur im Kommen bleiben kann“ (360). Der Beitrag versucht das Verhältnis von Pädagogik und Politik resp. Bildung und Demokratie in zwölf Thesen zu klären.

Im letzten Abschnitt des Sammelbandes wird Pädagogik als „Heterologische Grenzwissenschaft des Nicht-Darstellbaren“ angesprochen. Hier findet sich der (überarbeitete) Wiederabdruck des seinerzeit viel diskutierten Beitrages im Beiheft eins der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft „Forschungsfelder der Allgemeinen Erziehungswissenschaft“ (2002), in dem Wimmer das Programm einer kulturwissenschaftlichen Orientierung der Allgemeinen Erziehungswissenschaft als Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit vorgeschlagen hatte, denn von einer solchen sei „die Dekonstruktion der Verwicklung der Pädagogik mit denjenigen Verhältnissen, die heute ihren Horizont zu verschließen drohen, und zugleich die Erneuerung der Idee einer kritischen Erziehungswissenschaft, die gegen diese fatalen Strategien Widerstand entwickeln könnte“ (388f), zu erwarten. „Unmögliche Empirie oder Empirie des Unmöglichen? Der Status des Undarstellbaren in der empirischen Bildungsforschung“ (391) ist ein Originalbeitrag, in dem Wimmer, anknüpfend an die Aporien des pädagogischen Diskurses (auf der Ebene der Gegenstandsbestimmung, der Handlungstheorie, der Methodologie, der Forschungslogik oder auch als systemische Reflexionswissenschaft, 391), der Frage nachgeht, welche Konsequenzen sich daraus für die empirische Forschung ergeben, ob eine Empirie des Undarstellbaren möglich, ja vielleicht sogar notwendig sei. Vor dem Hintergrund neuerer Theorieentwicklungen (wie dem linguistic turn, dem Strukturalismus und Poststrukturalismus) erweisen sich die bisherigen Verhältnisbestimmungen als unzureichend; daher gilt es, die Frage nach einem anderen Theorie- / Empirieverständnis zu stellen und an Beispielen poststrukturalistisch orientierter Empirie (417) zu exemplifizieren. Der letzte Beitrag des Sammelbandes mit dem empathischen Titel „Vergessen wir nicht – den Anderen! Anmerkungen zur Konjunktur des Diskurses über Heterogenität in der Pädagogik“ (431) (in Anspielung an Derridas Vortrag „Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse!“) erinnert einmal mehr an den Anderen. Wimmer treibt hier die Sorge um, dass die Frage des Anderen durch den aktuellen Diskurs über die Verschiedenheit der Menschen vermeintlich beantwortet wird – und somit in Vergessenheit gerät. Wichtig und besonders lesenswert ist der Beitrag deshalb, weil er die Mehrdeutigkeit des Heterogenitätsbegriffs und den Zusammenhang zwischen der Nivellierung des Heterogenitätsbegriffs im Sinne von Gleich-Gültigkeit und der Vergessenheit des anderen aufzeigt.

Dieser verdichteten Darstellung der Einzelbeiträge ist unschwer zu entnehmen, welche Themen sich mit welchem methodischen Zugang resp. welchen Argumentationsstrategien durchhalten und auf welche Autoren bevorzugt zustimmend rekurriert wird. Man könnte gegen die Neuedition einwenden, die Themen der Ungewissheit und Kontingenz, der Alterität und Heterogenität (u. a. m.) seien in den letzten Jahren im Horizont der Bildungsphilosophen längst angekommen. Ungeachtet dessen ist es erfreulich, die verstreuten Texte nun gebündelt griffbereit zu haben. Die sehr vorteilhafte Zusammenstellung bringt wichtige Anregungen in den pädagogischen Diskurs ein, die freilich von jenen bevorzugt aufgegriffen werden dürften, die schon eine gewisse Sensibilität für die problematische Konstitution der Pädagogik entwickelt haben und denen das Denken eines Derrida oder Levinas (u. a. m.) nicht gänzlich fremd ist. Allerdings verwundert, dass das bisweilen kryptische Denken und die esoterischen Formulierungen Levinas‘ Wimmer an keiner Stelle zu befremden scheinen, dass er auf ihn nur affirmativ rekurriert, ihn von jeder Kritik freistellt, obwohl Levinas selbst vielfach mit vor-werfender Kritik aufwartet, dass er den Widerspruch der Levinas‘schen Transzendentalontologie im Versuch das Andere, das grundsätzlich unverfügbar ist, zugleich in einem philosophischen Akt der Letztbegründung zu postulieren, nicht anspricht. Ob die teilweise sehr dichte Darstellung geeignet ist, die Brücke zu den „hegemonialen Möglichkeitswissenschaften“ zu schlagen, oder zur weiteren Ausgrenzung der Bildungsphilosophie beiträgt, mag dahingestellt sein. Letzteres wäre gerade wegen der Triftigkeit vieler Überlegungen sehr bedauerlich.

[1] Wimmer, M.: Dekonstruktion und Erziehung. Bielefeld: transcript, 2006.
Ines Maria Breinbauer (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ines Maria Breinbauer: Rezension von: Wimmer, Michael: Pädagogik als Wissenschaft des Unmöglichen, Bildungsphilosophische Interventionen. Paderborn: Schöningh 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 4 (Veröffentlicht am 07.08.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350677949.html