„Bildung im Bermuda-Dreieck“ nennt sich Ludwig Pongratz’ Monographie, bei der schon im Titel deutlich wird, dass es sich hierbei um eine kritische Abrechnung mit bildungsreformerischen Ideen handelt. Die Metapher des Bermuda-Dreiecks ist wohl sicher nicht zufällig gewählt, impliziert jene doch den Untergang, den plötzlichen Verlust dessen, was unter dem Begriff der Bildung bereits seit dem Neuhumanismus wohlbekannt scheint. Wenn Bildung also im Bermuda-Dreieck verloren geht, sich bloß noch wenige, verschwommene Indizien für ihre einstige Existenz finden lassen, so wird auch deutlich, dass Pongratz’ kritische Auseinandersetzung eher einem alltäglichen Begriff von Kritik folgt. Kritik in diesem Zusammenhang versteht sich also – mag man dem ersten Eindruck folgen – als Aufspüren und Anprangern von Schwachstellen der Bildungsreform.
Zunächst skizziert Pongratz den Ist-Zustand der Bildungsreform (9-28), die sich für ihn um die drei Markierungspunkte Berlin, Bologna und Lissabon zentriert – allesamt Städte, in denen wesentliche Entwürfe zur Veränderung des bestehenden Bildungssystems von den daran beteiligten Staaten der EU verfasst und unterzeichnet wurden. Pongratz’ Vorwurf an diese Konzeptionen ist wohl einer, der seine Herkunft aus der Schule der Kritischen Erziehungswissenschaft nicht verleugnen kann und dies auch nicht will. Emanzipation des Menschen und zwar des einzelnen Individuums aus seiner gesellschaftlichen Abhängigkeit, aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (59), wäre durch Bildung zu erreichen. Dieser Bildungsbegriff sei jedoch dem, was in Reformpapieren unter dem Begriff der Bildung subsumiert würde, nicht bloß fremd, sondern werde vielmehr von Befürwortern und Vorantreibern dieser Reform bestenfalls als nicht mehr zeitgemäß abgetan.
Interessanterweise vollzieht Pongratz die theoretische Fundierung seiner Ausführungen in zwei „Exkursen“, in denen er sich einerseits auf die Theorie Heinz-Joachim Heydorns bezieht (87-111), andererseits Foucault und dessen Macht-Analysen sowie die an ihn anschließenden Gouvernementalitäts-Studien in den Blick nimmt (131-136). Die doch stark differierende Länge dieser Exkurse mag ein weiterer Hinweis darauf sein, in welcher wissenschaftlichen Schule Pongratz sich selbst verorten würde. Gerade diese Präsentation wesentlicher theoretischer Grundannahmen in den Exkursen, die sich erst im Laufe der Lektüre erschließen, machen Pongratz’ Werk nicht gerade zu einem Einführungswerk in die Themenstellung, weil von Anfang an Kenntnisse vorausgesetzt werden, die innerhalb der beiden Exkurse verdichtet werden. Gleichzeitig aber, und dies scheint m.E. auch Pongratz’ Absicht zu sein, ermöglicht der Autor damit einem an der Thematik interessierten Laien, wesentliche Inhalte nachvollziehen zu können, ohne sich in die theoretische Fundierung vertiefen zu müssen. Darauf weist Pongratz unter anderem an jener Stelle hin, an der er expliziert, dass die einzelnen Kapitel seines Werkes in mehreren Anläufen entstanden sind, und nicht ohne Sollbruchstellen aneinander zu reihen wären (131). Dass Pongratz dies so deutlich anspricht, verhindert, dass beim Leser / bei der Leserin der Eindruck entsteht, jene Theoriekomplexe wären ineinander auflösbar. Zwar spricht Pongratz ihnen zu, dass sie sich in einigen Annahmen einander annähern, dennoch bleiben Unterschiede bestehen.
Wiewohl Pongratz’ Kritik sich explizit gegen bildungswissenschaftliche Befürworter der Reform richtet (hier wären von allem Heinz-Elmar Tenorth und Dieter Lenzen zu nennen), bleibt seine Kritik an diesen Vertretern eigentümlich subtil. Pongratz zeigt nämlich in Kapitel 2 („Rolle rückwärts: Philanthropie – Gymnasien – ‚Glücksritterakademien‘“, 31-62) nicht bloß, weswegen die Rückbesinnung auf einen neuhumanistisch gefärbten Bildungsbegriff wünschenswert wäre. Er bedient gerade nicht den alten Streit von Allgemeinbildung versus Berufsbildung (was er übrigens den beiden oben genannten Vertretern vorwirft), sondern zeigt, wie jene Gegner selbst in jenem Bildungsbegriff verstrickt sind, obwohl sie sich davon distanzieren wollen. Wiederum ist die Eingangsmetapher – „Rolle rückwärts“ – klug gewählt, macht sie doch deutlich, wie in aktuellen Reformideen ein alter Hut (nämlich Ideen des Philanthropismus) neu an den Menschen gebracht werden soll. Pongratz argumentiert bildungstheoretisch, worin die Schwachstellen der aktuellen Reform denn liegen und vor allem, welche theoretischen Konzeptionen und Ansätze ihr zugrunde liegen. Unter dem Deckmäntelchen altbekannter, kritisch-emanzipatorischer Begriffe wie jenem zentralen Begriff der Autonomie verberge sich eine durch und durch ökonomisch orientierte Idee der Selbstvermarktung des einzelnen Individuums. Pongratz macht deutlich, dass Autonomie in aktuellen Bildungskonzeptionen bloß als eine „lebenslange Pflicht zur marktkonformen Selbstoptimierung“ (53) zu verstehen sei.
Nicht nur im ersten Exkurs über Heinz-Joachim Heydorns Kritik der Bildungsreform der 60er-Jahre wird die theoretische Fundierung Pongratz in der Kritischen Bildungstheorie sichtbar, vielmehr stützt sich die theoretische Konzipierung seines Werkes hauptsächlich auf Ausführungen Heinz-Joachim Heydorns. Der Werkstitel bietet hierzu einen ersten Anhaltspunkt: „Eine Kritik der Bildungsreform“ impliziert, dass die Ausführungen eine mögliche Kritik darstellen, nicht aber absolute Gültigkeit erhalten. Gerade der kritische Impetus, den Pongratz geltend macht, widerspricht in gewisser Weise den normativen Annahmen, mit denen er die Bedeutsamkeit der Kritischen Bildung hervorhebt. Während Pongratz nämlich in seinen Ausführungen generell dazu neigt, verschiedene Standpunkte zu theoretischen Konzeptionen einander gegenüber zu stellen (vgl. z.B. im Exkurs über Foucault und dessen Studien zur Gouvernementalität) und kritisch deren Schwachpunkte zu beleuchten, tut er dies bei der Erläuterung des Begriffs „Kritische Bildung“ plötzlich nicht mehr. Vielmehr postuliert er an dieser Stelle „Dimensionen“, die kritische Bildung charakterisieren. Diese Dimensionen werden allerdings hinsichtlich ihrer Schwachpunkte vom Autor nicht mehr kritisch geprüft (82f.). Verwunderlich ist, dass Pongratz diese Dimensionen nicht im ersten Exkurs über Heydorn darlegt, sondern in seine sonstigen Ausführungen immer wieder einwebt – was den Eindruck bestätigen kann, er selbst stamme aus dieser theoretischen Schule der Kritischen Erziehungswissenschaft.
Kapitel 4 des Buches (112-137) widmet sich den Subjektivierungspraktiken, die durch aktuelle Reformprogramme etabliert und forciert werden. Hier bezieht Pongratz seine theoretische Fundierung aus den Konzeptionen Michel Foucaults zur Disziplinargesellschaft sowie zur Gouvernementalität. Mit dieser theoretischen Abstützung vermag er zu zeigen, wie die Bildungsreform selbst Ausdruck einer gouvernementalen Strategie ist. Pongratz greift im Kapitel 5 seiner Ausführungen (138-151) jenen zentralen Begriff der bildungsreformerischen Programme auf, mit dem das scheinbar autonome Subjekt lebenslang an seiner Bildungsbiographie arbeiten soll: „Lernen lebenslänglich“ tituliert Pongratz dieses Kapitel, der Konnex zum juristischen Begriff „lebenslang“ ist offensichtlich. In vier Unterkapiteln zeigt Pongratz, wie sich dieser Begriff seit seiner Etablierung in den 60er Jahren beständig transformiert hat. Einst noch als Idee eines Lernens, das allen Menschen ermöglicht werden sollte (im Sinne eines lernen dürfens) wandelt sich dieser Leitbegriff im Laufe der Jahrzehnte zu einem normierenden Zwang, lebenslang lernen zu müssen.
Der abschließende Epilog rundet Pongratz’ Ausführungen auch in einer literarischen Weise ab, in dem er einen französischen Autor (Jacques Lusseyran) die Bedeutsamkeit der humanistischen Bildung hervorheben lässt. Es scheint bemerkenswert, dass deren Bedeutsamkeit von Pongratz mit biographischen Erfahrungen und mit subjektiven Einschätzungen gestützt wird. Auf diese Weise folgt er Heinz-Joachim Heydorn argumentativ insofern, als dieser die Bedeutung der humanistischen Bildung ebenfalls auf diese Weise zu stützen sucht. [1] Vielleicht aber kann – so Pongratz – auf diese Weise in den Blick gerückt werden, dass „die Determinanten subjektiver Bildungsproduktion weder gänzlich bekannt, noch gänzlich funktionalisierbar sind. Letztlich bleibt es der Urteilskraft reflektierender Subjekte überlassen, den Zusammenhang zu stiften“ (80).
Ludwig Pongratz beschreitet in seinem Werk den schmalen Grat zwischen journalistisch-ansprechender Sprache und wissenschaftlich-exaktem Duktus, was ihm durchaus gelingt. Viele ironische Bonmots und klug gewählte Metaphern machen das Werk nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich anspruchsvoll. Trotz der vielen Schwachpunkte, Defizite und Kritikpunkte, die Pongratz mit seinen Ausführungen in Sachen Bildungsreform ausmachen kann, bleibt von Seiten des Autors wenig Raum für tatsächlichen Pessimismus. Wenn er innerhalb des Werkes mögliche Wege des Widerstands auch nicht beschreitet, so zeigt Pongratz doch Formen auf, wie sich dieser vollziehen könnte (150f.).
Dennoch erscheint es auch abschließend nicht einfach, Pongratz’ Werk eindeutig zu klassifizieren. Sein Werk ermöglicht, einen ersten Eindruck davon zu gewinnen, wie Kritische Erziehungswissenschaft anhand einer bestimmten Thematik methodisch vorgeht. Zudem wirft Pongratz einen differenzierten Blick auf die Bildungsreformen und deren Vertreter – was auch für interessierte Laien lesenswert sein dürfte. Trotzdem ist dieses Werk m.E. nicht zur Einführungsliteratur in das Studium der Erziehungswissenschaft zu zählen. Zu Vieles wird dafür an inhaltlichen Kenntnissen vorausgesetzt. Zudem fehlt an manchen Stellen eine gewisse selbstkritische Haltung, was den humanistisch gefärbten Bildungsbegriff betrifft. Allerdings ermöglicht Pongratz dem Leser / der Leserin dadurch, an die von ihm aufgestellten Thesen wiederum mit kritischem Blick heranzugehen, und Bildungsprogramme sowie deren Kritiken unter einem neuen Blickwinkel (wieder) (anders) zu lesen.
[1] Vgl. Heydorn, Heinz-Joachim (2004): Bildungstheoretische und pädagogische Schriften 1971-1974, Werke 4, Studienausgabe. Herausgegeben von Irmgard Heydorn et al. Wetzlar: Büchse der Pandora, 13ff.
EWR 9 (2010), Nr. 4 (Juli/August)
Bildung im Bermuda-Dreieck: Bologna – Lissabon – Berlin
Eine Kritik der Bildungsreform
Paderborn: Schöningh 2009
(169 S.; ISBN 978-3-506-76728-8; 22,90 EUR)
Susanne Tschida (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Susanne Tschida: Rezension von: Pongratz, Ludwig A.: Bildung im Bermuda-Dreieck: Bologna – Lissabon – Berlin, Eine Kritik der Bildungsreform. Paderborn: Schöningh 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350676728.html
Susanne Tschida: Rezension von: Pongratz, Ludwig A.: Bildung im Bermuda-Dreieck: Bologna – Lissabon – Berlin, Eine Kritik der Bildungsreform. Paderborn: Schöningh 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350676728.html