EWR 9 (2010), Nr. 4 (Juli/August)

Alfred Schäfer / Christiane Thompson (Hrsg.)
Scham
Paderborn: Schöningh 2009
(144 S.; ISBN 978-3-506-76725-7; 19,90 EUR)
Scham Gemeinhin gilt der Mensch als souveränes Subjekt, der sich in Übereinstimmung mit sich selbst befindet. Doch mit dieser Wunschvorstellung neuzeitlichen Denkens ist es nicht weit her, verweist uns doch ein Gefühl auf Grenzen der Selbstverfügung: die Scham. Dieses Gefühl mag peinlich, im Sinne von schmerzvoll genug sein, doch zur Ohnmacht kommen noch pädagogische Konsequenzen. Die intendierte Herausbildung des selbstbestimmten Subjekts als Aufgabe neuzeitlicher Pädagogik verträgt sich schlecht mit einem auftretenden Schamgefühl, das als Ausdruck gescheiterter oder illusionärer Selbstbestimmung gesehen werden kann. Die Bedeutung der Scham für die soziale Existenz des Menschen aufzuzeigen und die Möglichkeiten und Grenzen seiner normativen Qualität zu explorieren, ist die Ausgangslage für den vorliegenden Sammelband.

Die beiden Herausgeber des Sammelbandes, Alfred Schäfer und Christiane Thompson, haben fünf erlesene Autorinnen – nicht nur Erziehungswissenschaftler/innen – eingeladen, zu dem Thema Scham ihre Perspektive aufzuzeigen. So versammeln sich in dem nur äußerlich schmalen Band Beiträge, die auf das Phänomen Scham in philosophischer, soziologischer, psychoanalytischer Annäherung und nicht zuletzt mit den Augen avancierter Bildungstheorie blicken. In der Einführung stellen die beiden Herausgeber Scham als Verschränkung diverser Selbstbezüge vor. Dabei werden Scham und Schamgefühl unterschieden. In der Scham hat das Individuum mit sich selbst und seinem Ungenügen zu tun. Das Schamgefühl offenbart eine Selbstverfehlung und damit auch Kränkung des Individuums. Die AutorInnen entfalten eine Sicht auf die modernen Subjektkonzeptionen, die differenzierte Weisen dieses Selbstverhältnisses und seiner etwaigen Verfehlung frei legen. Erfahrungen von Scham und Schamgefühl wären ohne Bezugspunkte auf Andere/s (wie einer Norm, einer Erwartungshaltung, aber auch ohne den Blick des Anderen oder wenigstens die Vorstellung eines Blicks oder die Anwesenheit des Anderen) undenkbar. Scham ereignet sich damit als Geschehen einer Selbstverfehlung und ist doch notwendig ein soziales Phänomen. Scham ist für Bildung bedeutsam, wenn Bildung in einem sprachlich reichlich komplexen Verständnis als „heute gängige Bestimmung von Transformationsvorgängen in Selbst- und Weltverhältnissen“ (10) verstanden wird. Am Auftreten des Schamgefühls beim Heranwachsenden könne sich das eigene Scheitern des Pädagogen zeigen. Denn der Pädagoge sei zur Vermeidung dieses Gefühls angetreten, aber aufgrund der Unverfügbarkeit der Verhältnisse zu sich selbst und zu anderen wird der illusionäre Charakter angestrebter Souveränität sichtbar. Scham taucht unvermittelt auf, so auch am Beispiel einer heiklen pädagogischen Situation wie Prüfung und Leistungsbeurteilung. Die Dienstbarkeit der Pädagogik, bei „objektiven“ Vergleichsprüfungen und Prüfungen Verfahren einzusetzen, die den Maßstab beim souveränen Subjekt nehmen, wird gelegentlich beschämend, zumal die Rechtfertigung des pädagogischen Stellenwerts des Scheiterns schwierig ist.

Der Beitrag von Käte Meyer-Drawe greift zwei alte Motive der Scham auf, die platonische Darstellung im Dialog Protagoras, in der sie Scham als Geschenk des Zeus an die Menschen hervorhebt, und die „jahwistische“ Version der Genesis-Erzählung, in der Scham als konstitutiv für Selbstbewusstsein gedeutet wird. Durch Kant werde die Verdrängung der Scham angestiftet, Vernunft solle an die Stelle rücken und das sittliche Miteinander organisieren. Der Fokus von Meyer-Drawes subtil argumentiertem Beitrag liegt auf der Analyse der Scham, die sich im menschlichen Gesicht zeigt. Sie erkennt, dass Scham Intimität behütet (47) und verweist auf Kant: „Scham bildet keinen Gerichtshof wie die Vernunft, aber sie wacht“ (49). Und die Schamesröte verrät uns. Scham begleitet, ja ist unser Selbstbewusstwerden.

Der Beitrag des Psychoanalytikers Peter Widmer mäandert – ausgehend von der Beschreibung und Analyse berühmter Fresken, gefunden in der villa dei misteri in Pompeji – von einer Deutung des Bildgehalts der Fresken zu einer Konfrontation der Ansichten Lacans und Sartres zum Thema Subjektwerdung und Scham. Der Mensch als Bewohner der Sprache erfahre im Moment der Scham ein Sprachversagen, das die beiden französischen Meisterdenker in unterschiedlicher Weise erklären. Schlüssellochszenen inkludieren die Umkehrung des Blicks, nämlich auch auf den Voyeur und die Darstellung von Abwesendem. Solche Szenen ergeben eine dichte Themenfolge: Phallus, Tod, Subjekt, Scham, Kultur. Widmer räumt ein, dass „die Analyse mit der Aufdeckung der Scham noch nicht an ihr Ende gekommen ist“ (74). Der Fluss Mäander in Kleinasien ist nicht dafür prominent, das Meer zu erreichen. Verschämt sei die Frage festgehalten: Sind diese gedanklichen Schlingen alle notwendig, um das Verstehen von Scham zu ermöglichen?

Christoph Demmerling versteht in seinem Beitrag Scham als Ergebnis eines Scheiterns, nämlich dem Verstoß gegen verbindlich erlebte Normen und dem auftretenden Gefühl des Versagens. Die Voraussetzungen des Auftretens von Scham sind bei Demmerling „Bindungskraft und Allgemeinheit“ (78) als maßgebliche Merkmale von Normen, deren Missachtung Scham hervorrufen könne. Moralische und nicht-moralische Scham wären dann zwei Weisen des Auftretens von Verfehlungen. Die moralische Scham sei auch von Schuldgefühlen und der dazugehörigen Empörung begleitet. Demmerling stuft Scham als die höchste Form einer Normverfehlung ein, die besonders durch Publikum verstärkt wird. Verwandte, aber deutlich schwächere Formen seien Peinlichkeit, Verfehlungen und Verletzungen der Ehre. Auch für sie gelte, dass sie in sozialen Situationen auftreten und durch den Bezug zur Umgebung verstärkt werden.

Der Aufsatz von Sighard Neckel „Soziologie der Scham“ ist eine zusammengefasste Analyse seines Buches [1], das schon vor knapp zwei Jahrzehnten erschienen ist. Seine Reflexion erfolgt behutsam und aus dem Umstand heraus, dass er als Soziologe den Forschungsgegenstand nicht als Experte für die Auskunft über das Seelenleben des Menschen, sondern als soziale Tatsache behandelt wissen will. Er fokussiert „Scham aus der Eigenart sozialer Prozesse, die sie auslösen können, und auf die Folgen für die zwischenmenschliche Interaktion aus der die Scham entsprungen war“ (105) und analysiert in der modernen Gesellschaft eine zunehmende Angst, beschämt zu werden.

Der Stellenwert der Öffentlichkeit für das Phänomen der Scham wird auch in dem Beitrag von Olaf Sanders sichtbar, dessen Bogen sich von Deleuze und Adorno über moderne Technologien bis zu dem von ihm konstatierten Zunehmen der Schamlosigkeit im öffentlichen Raum spannt. Sanders knüpft an Adorno und dessen Verständnis von Scham an. Der Scham komme „regulative Funktion für die eigenen Lebensführung zu, wenn Tugend kein Ergebnis von Erziehung mehr ist und die kulturindustrielle Produktion des Selbst normal“ (122). Sanders stellt Alltagsbeobachtungen an, in denen er die Veränderungen und das Verschwinden von Scham bzw. ihren Verwandten – der Beschämung oder der Unverschämtheit – ausmacht. Die neuen Kommunikationstechnologien haben unsere privaten Grenzen weithin in die Öffentlichkeit verschoben. Seine Beobachtungen gewinnt er im Nahverkehr und schlägt eine Brücke zur Universität. So wie die Räume fragmentieren, die Grenzen zwischen privat und öffentlich verschwimmen, so gerät auch die Universität in den Sog einer Forderung nach Wirtschaftlichkeit und Effizienz. Eine Universität, die unverschämt diesem Diktat der Modularisierung, der Kontrollgesellschaft und Verschulung nachgibt, habe ihren Anspruch aufgegeben, den Derrida von ihr verlangt, nämlich alles in Frage zu stellen, unbedingte Universität zu sein.

Insgesamt ist der Sammelband eine Fundgrube, die fortgeschrittenen Erziehungswissenschaftlern und Erziehungswissenschaftlerinnen empfohlen werden kann. Die Gründe dieser Empfehlung liegen klar vor Augen: Es handelt sich um eine dichte und dennoch einladende Form der Beschreibung eines öffentlichen Gefühls, das im Privaten Schwierigkeiten macht, durch den Bezug auf den (vorgestellten) Anderen erst soziale und pädagogische Bedeutung gewinnt. Die differenzierten und unterschiedlichen methodischen wie disziplinären Perspektiven machen die blickende Lektüre spannend. Bei der Lektüre kann man sich auch als Voyeur fühlen. Man schaut förmlich dem Denken anderer zu. Ungestraft wird man dabei belehrt und vielleicht dadurch beschämt, was das nichtsouveräne Subjekt noch alles zu bedenken hat, „mit dem Gefühl des Selbstverlustes in den Augen der (möglichen) anderen“ (7).

[1] Sighard Neckel: Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Frankfurt/Main, New York 1991
Reinhold Stipsits (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Reinhold Stipsits: Rezension von: Schäfer, Alfred / Thompson, Christiane (Hg.): Scham. Paderborn: Schöningh 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350676725.html