Klaus Pranges 2005 erschienene „Zeigestruktur der Erziehung“ erfährt gegenwärtig in der Pädagogik eine lebhafte und intensive Diskussion. Der als „Grundriss der operativen Pädagogik“ vorgelegte allgemeinpädagogische Modellentwurf lässt sich durch drei Thesen skizzieren. Erstens geht Prange davon aus, dass Erziehung das eine und ganze Thema der Pädagogik ist – was paradoxerweise gerade seit der Transformation „von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft“ (Brezinka) der wiederholten Nachweispflicht zu unterliegen scheint. An zweiter Stelle steht die zentrale These, dass Erziehung nicht aus den verfolgten Zielen und thematisierten Inhalten hervorgeht und damit auch nicht begrifflich aus ihnen abgeleitet werden kann, sondern nur aus den Formen, durch die das Erziehen das Lernen zur Erscheinung bringt. Es ist laut Prange nach der das Erziehen auszeichnenden und von anderen Handlungsformen abgrenzenden Operation zu fragen. Drittens wird als diese der Erziehung eigentümliche Operation das Zeigen, sofern es sich auf Lernen bezieht, als einheimische Operation der Pädagogik behauptet. Die These ist: immer wenn erzogen wird, wird etwas gezeigt, und zwar in der professionellen pädagogischen Praxis auf eine Weise, dass die zu vermittelnden Inhalte so schematisiert werden, dass sie auf die dem Lernen eigene Zeitstruktur abgestimmt sind.
Der vorliegende (auf eine Tagung in Freiburg zurückgehende) Band versammelt vier Jahre nach Erscheinen der „Zeigestruktur“ neben einer knappen Einführung Pranges insgesamt zwölf Beiträge von ErziehungswissenschaftlerInnen verschiedener theoretischer Herkunft, die sich in weiterführender oder kritischer Rezeption mit dem Ansatz der Operativen Pädagogik befassen. Der Band gliedert sich in die Kapitel „Grundlegung“, „Anschlüsse“ und „Diskussion“. Prange selbst hat im ersten Kapitel einen Beitrag geleistet, in dem das Zeigen als pädagogische Grundoperation stark gemacht wird. Im Kapitel „Anschlüsse“ sollen sich Weiterführungen, Differenzierungen und Ergänzungen finden, im Kapitel Kategorie „Diskussion“ stärker kritische Analysen, wobei die Herausgeber auf die fließenden Übergänge hinweisen (8), so dass der Kategorisierung eher der pragmatische Nutzen einer Orientierung zukommt (ebd.).
Klaus Prange möchte in seinem Beitrag „zeigen, wie man zeigen kann, dass das Zeigen diejenige Operation ist, durch die das Erziehen gekennzeichnet ist“ (16). In phänomenologischer Argumentation macht er dazu die „Wahrnehmungen als Grundlage von Beschreibungen und Beschreibungen als Grundlage von weiteren, genaueren, präzisierten Bestimmungen“ (18) stark. Im Folgenden führt er aber etwas durchaus Anderes durch. Ein von Prange angeführter Fall dient nicht als Ausgangspunkt für Beschreibungen und präzisierte Bestimmungen, sondern als Demonstration dessen, was „die Verfasser schon wissen oder zu wissen meinen“ (19). Diesem Wissen wird im Fall eine Anschauung verschafft, d.h. es wird schematisiert, gezeigt und gelehrt, aber nicht aus der Anschauung gewonnen. Prange ist sich dieser „Einschränkung“ (ebd.) bewusst und erklärt den Fall daher vorsichtiger zum „orientierenden Paradigma“ (ebd). Er macht aber nicht ausdrücklich darauf aufmerksam, dass die Orientierungsleistung eines Paradigmas nicht lediglich in dessen Anschaulichkeit liegt, sondern in den Hinsichten, in denen es zur Erscheinung kommt. Je nach Hinsicht kann etwas Anderes am Paradigma oder sogar das Paradigma als etwas Anderes in den Blick geraten. Mit Blick auf die Beiträge des Bandes: je nach Theoriesprache kann im Fall etwas Anderes gesehen werden, das Zeigen als pädagogische Grundoperation damit ergänzt, differenziert oder auch in seinem Charakter als Fundament der Bestimmung von Erziehung in Frage gestellt werden.
Elmar Anhalt leitet mit seinem Beitrag das Kapitel „Anschlüsse“ ein. Er knüpft grundsätzlich an Pranges These vom Zeigen als pädagogischer Grundoperation an und möchte „die Zeigetheorie in Richtung auf anthropologische Bestimmungsmerkmale hin auslegen“ (31). Mittels der Differenztheorie Luhmanns versucht er zu zeigen, dass in der basalen, rein auf die Operation abhebenden Unterscheidung des Prange’schen Ansatzes – Zeigen und Nicht-Zeigen – Menschen keine „Rolle für die Konstitution der Theorie spielen“ (36). Gleichwohl deckt er anhand von „11 Strukturmerkmale[n] des Zeigens“ (38) anthropologische Bestimmungen des Zeigens auf.
Thomas Fuhr und Kathrin Berdelmann berichten in ihren beiden Beiträgen aus einem gemeinsamen Forschungsprojekt zu Seminaren in der Erwachsenenbildung. Sie strukturieren den Zugriff auf das Forschungsfeld durch Pranges Artikulations- und Synchronisationstheorie. Dabei wird deutlich, dass in faktischen Lehr-Lernprozessen Pranges idealtypische Beschreibungen nur in differenzierter und transformierter Form identifiziert werden können. Fuhr zeigt an einem Beispiel solche Transformationen der Artikulationsmodelle auf. Tatsächliche Erziehung sei „zu komplex“ (67), um mit einem Artikulationsschema vorgängig abgebildet und geplant werden zu können. Letzteres weise nur „auf mögliche Logiken des Lernens“ (ebd.) hin. Berdelmann differenziert unter Rückgriff auf Pranges Unterscheidung von Datenzeit und Modalzeit vier Ebenen von Zeitstrukturen und beschreibt anhand der Studie deren sich faktisch als komplex herausstellendes Bedingungsgefüge. Neben der Synchronisation von Zeigen und Lernen sei auch Asynchronisation zu beobachten gewesen, die sie für das Lernen auch als konstruktiv beurteilt. Sie plädiert daher dafür, das Zusammenspiel von Zeigen und Lernen nicht binär entweder als Synchronisation oder als Asynchronisation zu beschreiben, sondern beide als Pole eines „Kontinuum[s]“ (88) anzuordnen, auf dem zwischen ihnen „oszilliert“ wird. In den Artikeln von Fuhr und Berdelmann wird exemplarisch deutlich, dass sich die „Zeigestruktur“ erstens als anschlussfähig für die (qualitative) empirische Forschung erweist und zweitens als Erziehungstheorie trotz der Entgrenzung pädagogischer Praxis nicht notwendig ihre Bedeutung als allgemeinpädagogischer Entwurf verliert.
Malte Brinkmann befasst sich mit der Lernform des Übens und unterzieht Pranges Ausführungen zum Verhältnis von Üben und Erziehen einer kritischen Lektüre aus der Perspektive phänomenologischer Lerntheorie, die den negativen, brüchigen und wagnishaften Charakter des Lernprozesses betont. Er erarbeitet, dass es Prange zwar gelingt, Üben in seiner zeitlichen Struktur „als ein differentielles Geschehen“ (104) zu fassen, merkt jedoch an, dass die durch Erwartungsenttäuschungen erfahrbare temporale Differenz „ausschließlich im Hinblick auf ihre mögliche Synthetisierung ausgelegt“ (105) sei. Während bei Prange die Negativität im Lernen nur der Ausgangspunkt ihrer Aufhebung sei, sieht Brinkmann in ihr „die Grundstruktur des Lernens und Übens“ (ebd.). Die „elementare Differenz der Zeitlichkeit“ eröffne ein „Surplus, das niemals ganz synthetisiert und normalisiert werden kann“ (107). Brinkmanns Ausführungen gegenüber bleibt gleichwohl zu fragen, wie dieses Surplus handlungstheoretisch verarbeitet werden kann.
Norbert Ricken beleuchtet die „Zeigestruktur“ von dem Grundgedanken her, dass im Zeigen nicht nur etwas gezeigt wird, sondern jemandem etwas, wobei sich der Zeigende zugleich selbst als zeigend zeigt (113). Es sei das Zeigen „als Praktik der Lenkung von Aufmerksamkeit anderer auf etwas“ (118) zu betrachten und zu analysieren, „was das Zeigen macht“ (ebd.), vor allen Dingen mit Blick auf den Umstand, dass das Zeigen den Anderen „auch – als wen – konstituiert“ (119). Die dem Zeigen immanente „Struktur der Adressierung“ und „Subjektivierung“ (ebd.) müsse beachtet werden. Im Zeigen würden die Beteiligten durch (nicht eo ipso als Bestätigung zu begreifende) Anerkennung wechselseitig als bestimmte Subjekte konstituiert. Ricken grenzt sich damit von einem „atomistisch ausformulierten Subjektverständnis“ (122) ab. Zeigen erscheint dann auch als Machtprozedur. Ricken fordert ein, die Zeigestruktur anerkennungstheoretisch weiterzudenken, da Zeigen und Anerkennen „notwendig zusammen gehören“ (130).
Jörg Dinkelaker macht am Beispiel der Sequenz einer pädagogischen Situation deutlich, dass die Perspektive von Jochen Kades Theorie pädagogischer Kommunikation gegenüber der Operativen Pädagogik ein erweitertes Situationsverständnis erlaubt: erst durch (verbale oder non-verbale) Rückmeldungen kann „sich eine Zeigesituation konstituieren und stabilisieren“ (147). Grundsätzlich kritischer äußert sich Bernd Schwarz. Er versucht über die Theorie des selbstgesteuerten Lernens eine „Grenze [...] des Zeigens als Grundlage einer Bestimmung pädagogischen Handelns“ (151) zu markieren. Neben pädagogischen Zeigesituationen schweben ihm Arrangements, Zukunftswerkstätten und Moderationen als pädagogische Handlungsformen vor. Ob und wie aber angesichts der sich dem Zeigen entziehenden Handlungsformen die „Einheit der Pädagogik“ (152) noch fassbar ist, bleibt offen.
Harm Paschen entwickelt im Horizont seiner eigenen Theorie pädagogischer Operationen ein variables Viererschema von Operationen, mit dem sich das Zeigen selbst genauer strukturieren lasse; Paschen sieht das Pädagogische des Zeigens erst in dieser Strukturierung (169). Es lassen sich aber zugleich „alternative Operationen zum Zeigen“ (168) beschreiben. Die „Zeigestruktur“ beruht nach Paschen „auf einer Selektion aus der Menge möglicher Pädagogiken“ (163). Das abschließende Urteil ist daher radikal: „Pranges Pädagogik ist eine Pädagogik unter anderen“ (171).
Im Kapitel „Diskussion“ greift zunächst Markus Rieger-Ladich das Problem der Anerkennung der Erziehungswissenschaft als eigenständiger Forschungsdisziplin mit wissenschaftsgeschichtlichen Ausführungen auf. Es zeigt sich in der historischen Entwicklung eine Heterogenität der Ansprüche und Beziehungen im disziplinären Diskurs (181f), an der plausibel wird, dass auch das System Erziehungswissenschaft „mehrfach codiert“ (184) ist. Aus der mit sauberen binären Kodierungen arbeitenden Sicht der Systemtheorie, die – so Rieger-Ladich – auch Prange bei seinem Blick auf „das akademische Universum“ (185) einnehme, sei der faktische „Streit um die Definitionsmacht“ (186) ein blinder Fleck. Nicht nur Theorie, sondern gerade auch Positionierungskämpfe bestimmen disziplinäre Grenzziehungen und Entgrenzungen. Klärungsbedürftig bleibt hier m.E., in welchen produktiven Zusammenhang die Analyse sozialer Machtpraktiken und der Entwurf einer Erziehungstheorie gebracht werden können.
Jochen Kade sieht sowohl in seiner eigenen Theorie pädagogischer Kommunikation als auch in der „Zeigestruktur“ eine Reaktion auf die Entgrenzung des Pädagogischen, wobei Prange eine „Eindeutigkeit mit Abschlussgestus“ in „anthropologisch-philosophisch orientierte[r] Tradition“ (202) anstrebe. Ein Problem wittert Kade dabei in ihrer „schulnahen Terminologie“ (204) und ihrer Orientierung „am Unterricht als [...] Normalfall“ (206). Sie könne damit die erweiterten „empirischen Horizonte“ (ebd.) nicht einfangen. Er plädiert für die sozialwissenschaftliche Perspektive seiner Theorie. Sie öffne empirisch angesichts „einer Mehr- und Multidimensionalität sowie [...] einer Prozessualität der Welt“ (203) den Blick für die „Reihe zunehmend subtilerer pädagogischer Kunstgriffe“ (ebd.). Die Variationsformen pädagogischer Kommunikationen seien in dieser Perspektive nicht durch eine sich durchhaltende (begrifflich abschließend fixierbare) Identität verknüpft, sondern durch „Familienähnlichkeiten“ (202).
Robert Kreitz argumentiert von einer „‚analytischen’ Position“ (211) aus. Gegenüber Prange fasst er Lernen entweder als „Resultat eines Prozesses“ (214) oder als Handlung, die zum Resultat führt (215). Beides sei empirisch identifizierbar. Pranges Unterscheidung von Modalzeit und Datenzeit wird aus analytischer Perspektive nicht mitgetragen. Pädagogisches Handeln beschreibt Kreitz daher nicht mehr rein operativ (Zeigeakte, die auf Lernprozesse bezogen sind), sondern ko-operativ (pädagogische Handlungen, die sich auf Lernhandlungen beziehen). Im abschließenden Beitrag mahnt Peter Menck die Beachtung des verpflichtenden Charakters der umgreifenden „Lebenskreis[e]“ (229) an, durch die Gezeigtes erst lernend verstanden werden könne.
Der Band zeigt eindrucksvoll, welche Möglichkeiten der Weiterführung und Diskussion der Ansatz der Operativen Pädagogik bietet und zwar nicht nur für die Allgemeine Pädagogik, sondern auch für die Teildisziplinen und die empirische Forschung. Die Beantwortung der Frage nach dessen Tragfähigkeit als allgemeinpädagogischer Entwurf wird nach der Lektüre des besprochenen Bandes nicht abschließend beantwortet werden dürfen und die Stichhaltigkeit der Kritiken wird genauer geprüft werden müssen. Aber es zeigt sich zumindest zweierlei: Die Operative Pädagogik bietet sowohl reichhaltige Möglichkeiten der Weiterführung und Differenzierung als auch der fundamentalen Kritik. Letztere betrifft vor allen Dingen die These vom Zeigen als pädagogischer Grundoperation und ist dabei bisweilen so grundsätzlich, dass eine weite Teile der Disziplin umspannende Anerkennung der Zeige-Variante der Operativen Pädagogik als identitätsstiftender Entwurf theoretisch als problematisch, praktisch als unwahrscheinlich zu bezeichnen ist.
EWR 9 (2010), Nr. 4 (Juli/August)
Operative Pädagogik
Grundlegung, AnschlĂĽsse, Diskussion
Paderborn: Schöningh 2009
(240 S.; ISBN 978-3-506-76669-4; 29,90 EUR)
Torben Pauls (Kiel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Torben Pauls: Rezension von: Berdelmann, Kathrin / Fuhr, Thomas (Hg.): Operative Pädagogik, Grundlegung, AnschlĂĽsse, Diskussion. Paderborn: Schöningh 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350676669.html
Torben Pauls: Rezension von: Berdelmann, Kathrin / Fuhr, Thomas (Hg.): Operative Pädagogik, Grundlegung, AnschlĂĽsse, Diskussion. Paderborn: Schöningh 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978350676669.html