Ich lese das Buch also, nachdem ich es gelesen habe, zunächst einmal als ein Dokument des – pädagogischen – Bildungsgangs seines Autors: Oft sieht man ihn im Seminar (z. B. 105); man findet zwischen den Zeilen die engagierte, politische Position (z. B. 170). Und dann explizit der „Rückblick und Ausblick“ (Kap. VIII). Da ergänzt er den Eingangssatz dahingehend, dass er Reichwein überdies „den Anstoß zur […] Erschließung eines geistigen Horizontes“ (335) verdankt – auf den er mit seinem Buch den Blick des Lesers richtet. Das Buch lebt von den Erfahrungen, die sein Autor „in [s]einem eigenen Leben und als professioneller Gestalter und Beobachter von Lehr-Lernprozessen von Kindern und Jugendlichen über viele Jahrzehnt sammeln konnte“ (ebd.). „Réflexion engagée“, engagierte Reflexion, hat Wilhelm Flitner das genannt. So schließt das Buch im Anschluss an ein Vorhaben von Reichwein mit einer Reihe von weiterführenden Fragen, die in die eine münden: „Was können wir – im Geiste Reichweins – für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung tun?“ (339)
Nun aber Reichwein: Keine immanente Interpretation, der „Geist der deutschen Klassik“ ist ernst zu nehmen. Schernikau baut die „Reformarbeit Reichweins“ in eine umfangreiche Rekonstruktion der geistes- und gesellschaftsgeschichtlichen Wurzeln der Reformpädagogik ein, genauer: Er nimmt Hinweise Reichweins auf die sein Werk bestimmende Tradition auf: die „deutsche Klassik“, namentlich Herder, Goethe, die Humboldts, insbesondere Alexander, den didaktischen Klassiker Harnisch. Damit ist bezeichnet, was Schernikau als den Dreh- und Angelpunkt einer Geschichte in Anspruch nimmt, die ihm Reichweins – im weitesten Sinne – Didaktik erschließt: die „Wendezeit“, die „Jahrzehnte des auslaufenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts“ (23 und passim), oder mit Herman Nohls bekanntem Buchtitel formuliert: die „deutsche Bewegung“ (27–31). Abkürzend spricht Schernikau, sich auf Nohl beziehend, von einem „Paradigmenwechsel“, dem Wechsel „von der ‚alten großen Naturwissenschaft […]’, die auf der ‚Zerlegung der Erscheinungen und ihrer gedanklichen Konstruktion aus rationalen Begriffen’ beruhe“, zu „einer ‚neuen Wissenschaft’ und ihrem neuen wissenschaftlichen Weltbild“. „An die Stelle“ – so referiert er zustimmend – „des analytisch-induktiven Verfahrens trete der […] intuitive Erkenntnisakt und die ganzheitliche Wesensschau“ (27). Das ist eine wissenschaftsgeschichtlich nicht ganz unbestrittene Position. Aber warum soll sie nicht einen vorläufigen Ausgangspunkt markieren, dessen Berechtigung das Ergebnis der Untersuchung zu erweisen hätte?
Zunächst (Kap. II) setzt Schernikau einen Anfangspunkt: das Konzept des „Weltbilds“, das er bei Herder, Goethe und Alexander von Humboldt ermittelt, Repräsentanten „des auf Welt- und Selbstverständnis zielenden ganzheitlich-systemischen Bildes von der Natur- und Menschenwelt“(21), dient ihm methodisch dazu, die Ganzheit im Vielfältigen festzuhalten.
Die beiden folgenden Kapitel bzw. Unterkapitel sind einigermaßen parallel aufgebaut: „Bildungsarbeit im ‚Weltbild’-Horizont“
- „der ‚heimatkundlichen’ Fächer“ (Kap. III), untergliedert nach dem biologischen, dem geographischen, dem volkskundlichen und dem volks- und kulturgeschichtlichen Aspekt; sowie
- „der Heimat- und Lebenskunde“ (Kap. IV).
Am Anfang steht jeweils eine Skizze des fachwissenschaftlichen „Paradigmenwechsels“. Danach zeichnet Schernikau an bedeutsamen Repräsentanten die Entwicklung des fachdidaktischen Diskurses nach. Das erlaubt ihm dann, Reichweins Arbeit in der Volksschule von Tiefensee zu erschließen. Nebenbei: Die Arbeiten der – wenn man so sagen darf – Vorgänger und auch Zeitgenossen Reichweins machen auch durchweg die Formulierungen und Bilder verständlich, die die Herausgeber von Reichweins didaktischen Hauptschriften entnazifizieren zu müssen glaubten [1]. Angesichts einer verbreiteten, unvermittelten Politisierung von Reichwein [2] finde ich es hilfreich, dass Schernikau diesem kontrastierend jeweils maßgebliche zeitgenössische, insbesondere auch nationalsozialistische Didaktiker gegenüber stellt, so etwa bei der Heimatkunde (199–292) und der Volkskunde (165–174).
Schernikaus Vorgehen ist allerdings auch riskant. Reichwein hat sich eher selten ausdrücklich auf Kollegen oder Zeitgenossen als Referenzen bezogen, weder ausdrücklich zustimmend, noch kritisch (so z. B. zur Heimatkunde, 228). Er hat über seine Praxis berichtet und hat sie dabei klug reflektiert. Dabei kann es gar nicht ausbleiben, dass er in der Begrifflichkeit seiner didaktischen Reflexion vom Diskurs seiner Zeit beeinflusst war. Dem Interpreten erschwert das sein Geschäft. Es lässt sich nicht vermeiden, dass er oft Zuflucht zu Vermutungen nehmen muss: „Nehmen wir an, Reichwein hätte die Bachsche Volkskunde […] nicht nur gelesen, sondern wäre […] mit dem Autor auch ins Gespräch gekommen …“ (172). Sonst nicht so deutlich markiert, aber oft hilft sich Schernikau mit einer solchen Annahme weiter.
Das methodische Risiko mildert er durch ungewöhnlich ausführliche Zitate. Ich habe nicht nachgezählt, bin aber ziemlich sicher, dass nicht weniger als ein Viertel des Textes auf Zitate entfallen, die ihm zum Beleg seiner Aussagen dienen und es uns Lesern ermöglichen, sie zu überprüfen. Allerdings verschiebt sich das Problem nur ein wenig: Dass die zitierten Textstellen, auch die herangezogenen Autoren den jeweiligen Diskurs treffend charakterisieren, können nur Experten gegenlesend prüfen. Ich bin keiner. – Immerhin zeigt Schernikau in einem wiederum ungewöhnlich umfangreichen Anmerkungsapparat, dass er sich da maßgeblichen Sachverstandes versichert hat [3].
Bislang war die Didaktik Reichweins nur sozusagen zwischen den Abschnitten zu lesen, und es sind die fachdidaktischen Aspekte, die in den beiden Kapiteln erschlossen werden. In den beiden folgenden Kapiteln geht Schernikau nun ausdrücklich auf die Didaktik als ganze ein: die Themen des Unterrichts (V) in der Tiefenseer Dorfschule, und zwar auf ihre zeitliche Ordnung in einem „Jahresplan“ und ihre didaktische Organisation unter dem Stichwort der „Formenkunde“; sowie im VI. Kapitel die Unterrichtsmethodik.
Hier greift er zwar den abgegriffenen Topos einer „kopernikanischen Wende“ von der „katechetischen Didaktik“ zur „Didaktik der ‚pädagogischen Bewegung’“ auf. Aber in der Folge verzichtet er auf solche Abgrenzungen. Vielmehr würdigt er „Reichweins Lehrkunst […] als klassisches Beispiel einer exemplarischen Lehre“, „den Lehrkünstler in seiner Funktion als interaktiver Lehrer und Gestalter von Unterricht“ und besonders von „sinnerschließender und zugleich sinnklarer Bauformen der Vorhaben“ (263), von denen er zwei detaillierter beschreibt (257ff; 263ff). In der Terminologie deutet es sich schon an: Er stellt dann noch eine Verbindung zum „Lehrkunstprojekt“ unserer Tage von Theodor Schulze und Christoph Berg her.
Im vorletzten Kapitel (VII) versucht Schernikau schließlich, Reichweins „Schulmodell“ in die „Geschichte des nationalen Sozialismus in Deutschland“ einzuordnen (282). Deren Grundzüge rekonstruiert er zunächst; und dann stellt er Reichweins „sozialistische Reformarbeit“ dar (306–323). Bis dahin wäre das Kapitel nur dann kein Fremdkörper im Ganzen, wenn es ihm gelänge zu zeigen, dass Reichweins politische Überzeugungen Spuren in der Schularbeit in Tiefensee hinterlassen haben, die nicht auf die didaktischen Wurzeln zurück geführt werden könnten. Über die Vorhaben und die Werkaufgaben versucht Schernikau das, und über die bei der Arbeit zu erwerbenden Arbeitstugenden im weitesten Sinne. Mich überzeugt das Argument nicht; ich finde tatsächlich, dass er mit diesem Kapitel den Rahmen überschreitet, den er seiner Untersuchung gesteckt hatte.
Der Beckmesser fügt noch ein: Er mag die „ebd.“-Nachweise durchaus nicht. Will er mal was wissen, muss er unter Umständen seitenweise zurück blättern; und er ärgert sich, wenn es dann noch nicht einmal stimmt (so bei Anm. 85). Etwas Anderes mag er noch weniger: die, wie er sie nennt, „Als-ob-Anführungszeichen“. Gerade wo Zitate sich häufen und dazwischen termini technici markiert werden, haben diese Dinger nichts zu suchen, weil sie verwirren. Welche der auf S. 329 in Anführungszeichen gesetzten Begriffe sind Zitat? Erkennbar ist nur, dass die „Solidaritätsfähigkeit“ keines ist – oder hatte Reichwein den schon?
Was habe ich aus dem Buch gelernt? Ich bin kein Fachdidaktiker und für die Heimatkunde und ihre Äquivalente nicht zuständig. Aber auch ich werde jetzt die einschlägigen, fachdidaktischen Passagen von Reichweins didaktischen Schriften genauer lesen können, sie werden mir plastischer. Und: Dass keine Didaktik ohne das auskommt, was Schernikau als ‚Weltbild’ umfassend entfaltet, war mir wohl klar. Wie das im Einzelnen eingelöst werden kann, das hat er mir an Reichweins – nun ja, „Schulmodell“ ist vielleicht gar nicht sein Anspruch gewesen – an Reichweins Arbeit in einer kleinen Dorfschule nahe Berlin gezeigt. Und die war insofern denn doch etwas Anderes als diejenige, die ich ein paar Jahre nach seinem Experiment – so wird man wohl sagen können – besucht habe.
Damit habe ich schon gesagt, wen ich mir als Leser des Buches vorstellen kann: Wer Reichweins Schriften kennt, dürfte es mit Gewinn lesen, sich vielleicht auch ein wenig von dem reformpädagogischen Pathos des Autors anstecken lassen. Wer sich um die Pflege der ‚Lehrkunst’ bemüht, findet die Spur von Reichwein bis vor die Haustür gelegt. Obwohl ich gelegentlich den Eindruck habe, die ausführlichen Texte oder ihre Ausführlichkeit gingen darauf zurück, dass sie (in Teilen) auf Vorlagen für die Seminararbeit an der Hochschule zurückgehen – ich denke, dass das Buch seinerseits für diese nicht geeignet ist. Da müsste man schon, wie sein Autor, bei Reichwein selbst anfangen. Von ihm aus weiter fragen, da kann man sich von Schernikau vielfältig anregen lassen.
[1] Menck, Peter (1999): Geschichte der Erziehung. Donauwörth: Auer (2. Aufl.), 44–46.
[2] Menck, Peter (2007): Rezension von: Hohmann, Christine: Dienstbares Begleiten und später Widerstand. Der nationale Sozialist Adolf Reichwein im Nationalsozialismus. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2007. In: EWR 6, Nr. 4 (Veröffentlicht am 26.07.2007), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151510.html
[3] Das Literaturverzeichnis umfasst ziemlich genau 10% des Buchumfangs.