(1) Die ganze ReformpÀdagogik in einem schmalen Taschenbuch
Zu den VorfĂ€llen in dem ĂŒber 100 Jahre bestehenden Vorzeige-Landerziehungsheim gibt es inzwischen mehrere Monographien [1], unzĂ€hlige AufsĂ€tze, TV-Features und sogar Dokumentarfilme; demnĂ€chst wird ein Spielfilm zum Thema herauskommen. Wer sich ĂŒber die Medienreaktionen informieren will, kann sich leicht in langen Link- und Literaturlisten zum Beispiel auf den Internetseiten der Odenwaldschule selbst oder der Vereinigung âBlick ĂŒber den Zaunâ [2] bedienen. Schon 2010 hatte sich JĂŒrgen Oelkers zu den Möglichkeiten der Historiographie zur ReformpĂ€dagogik in dieser neuen Konstellation geĂ€uĂert [3]. Statt die Auslegung von Absichten, Personenkult und moralisierende Idealisierung fortzusetzen, votierte er dafĂŒr, die Perspektive auf die epochenĂŒbergreifende praktische BewĂ€hrung von Reformschulen im staatlichen Schulwesen zu richten, denn âdann verliert die ReformpĂ€dagogik ihren Sonderstatusâ (15). Gleichzeitig schlug er einen Ă€uĂerst scharfen Ton an, indem er fĂŒr den Ausschluss der freien LektĂŒre belasteter Autoren aus dem wissenschaftlichen Diskurs (18) eintrat. Den anderen Extrempol in der Kontroverse dieses Jahres bildete Hartmut von Hentigs erneute Verteidigung von Zuneigung und Liebe zum Kind als unverzichtbarem Element von Erziehung in einem Vortrag [4]. âFrĂŒherâ, so Hentig, âhat man das den âpĂ€dagogischen Erosâ genannt. Diesen Gott hat Platon in die Erziehung eingefĂŒhrtâ (90). Verharmlosend kritisierte er die Reaktionen der bundesdeutschen Ăffentlichkeit auf die MissbrauchsfĂ€lle als âin diesem Punkt kleinmĂŒtigâ (ebd.). Offenbar hatte er den Zusammenhang zwischen philosophisch ĂŒberhöhender Rede von pĂ€dagogischem Eros und platonischer Knabenliebe einerseits und pĂ€derastischen Verbrechen unter diesem Schutzmantel andererseits immer noch nicht begriffen.
In dieser aufgeheizten Situation wird man nun in dem BĂ€ndchen des emeritierten WĂŒrzburger Erziehungswissenschaftlers Winfried Böhm knapp, kompakt und kompetent ĂŒber das, was man die internationale ReformpĂ€dagogik nennen könnte, informiert. Zu Beginn unterscheidet er fĂŒnf erziehungswissenschaftliche Rezeptionsweisen der ReformpĂ€dagogik nach 1945 und kritisiert sie allesamt als verfehlt oder unzureichend:
- KANONISIEREN: Die ReformpĂ€dagogik werde in der unmittelbaren Nachkriegszeit als Traditionsquelle und Ideenreservoir fĂŒr pĂ€dagogische Gegenwartslösungen dargestellt.
- IGNORIEREN: In der Bildungsreformphase um 1970 blende man quasi sozialtechnologisch gestimmt selbst offensichtliche ZusammenhÀnge mit historischen Reformmodellen aus.
- POLEMISIEREN: Besonders in der Aufdeckung von KontinuitÀtslinien zwischen ReformpÀdagogen und Nationalsozialismus verabsolutiere man eine Negativsicht.
- DEKONSTRUIEREN: In ideologiekritischen Analysen wĂŒrde die ReformpĂ€dagogik als eine Epochenfiktion von Programmen mit guten Absichten und problematischen Theorieannahmen verworfen.
- REDUZIEREN: Die modernisierungstheoretischen ErklÀrungsversuche verfehlten die historisch konkrete Konzentration der Reformströmungen um 1900.
Die Vielfalt von Strömungen und Richtungen der pĂ€dagogischen Epoche der ReformpĂ€dagogik verdeutlicht Böhm in den folgenden vier Kapiteln durchaus in einem zusammenhĂ€ngend strukturierten und lesbaren Text, der weit ĂŒber ein Fakten-Repetitorium hinausgeht. Langfristige historische Voraussetzungen werden in Kapitel zwei aufgezeigt. Dazu gehören erziehungstheoretische Konzepte der Neuzeit, Traditionen der Schulkritik, die Distanzierung vom Christentum und Varianten des Bezugs auf Rousseau. Im folgenden Kapitel werden hierzulande teilweise unbekannte konzeptionelle und praktische ReformansĂ€tze aus Russland, Italien, Spanien, Frankreich und den USA vorgestellt. Systematischer angelegt ist das vierte Kapitel. In ihm sind Grundkategorien aus dem deutschen Diskurs wie Gemeinschaft, Leben, Kind, Arbeit und Kunst abgehandelt. Das abschlieĂende Kapitel wagt sich dann personenzentriert an eine Auswahl von wiederum deutschen Konzeptionen: Hermann Lietz und die Landerziehungsheime, Peter Petersen und den Jenaplan, Rudolf Steiner und die WaldorfpĂ€dagogik, Maria Montessori und die Kosmische Erziehung sowie Paul Oestreich und die Einheitsschule. Mit Ausnahme von Oestreich werden allen von Böhm zu Recht ideologiekritische und philosophische EinwĂ€nde vorgehalten. Was wollte der Autor mit dieser Selektion belegen? Die Einheit der deutschen ReformpĂ€dagogik als Gruselkabinett? Wohl kaum.
Zwar geht Böhm bereits auf die Missbrauchsskandale an der Odenwaldschule ein. Er arbeitet auch das problematische Familienprinzip der sozialen Organisation in Landerziehungsheimen ebenso heraus wie im Anschluss an Sabine Seichter [5] die mĂ€nnerbĂŒndische und elitĂ€re Legitimationsformel vom platonischen Eros und der pĂ€dagogischen Liebe zum Kind. Gleichzeitig relativiert er diesen Befund aber, indem er den Zusammenhang mit reformpĂ€dagogischem Denken und Handeln auf die Landerziehungsheime beschrĂ€nkt. Nicht die ganze ReformpĂ€dagogik sei diskreditiert. Die vier von Oelkers in âEros und Herrschaftâ 2011 analysierten Internatsschulen machten âbestenfalls gerade einmal zwei Prozent der deutschen Reformschulenâ (16) aus. Auch sei Oelkers Pauschalisierung der ganzen Epoche in sich widersprĂŒchlich; wenn er von âden dunklen Seiten der ReformpĂ€dagogikâ schreibe, dann setze er doch voraus, dass es auch lichte Seiten gebe. Von der von Oelkers seit vielen Jahren vertretenen Gesamtdeutung, die ReformpĂ€dagogik sei eine zuerst geisteswissenschaftliche und seit 1968 links-alternative Erfindung, hĂ€lt Böhm schon gar nichts. Wer wie Oelkers selbst stĂ€ndig LehrbĂŒcher und Handbuchartikel ĂŒber âDie ReformpĂ€dagogikâ schreibe, hebe seine âThese von der ReformpĂ€dagogik als reiner Fiktion selbst aufâ (ebd.).
FĂŒr Böhm gibt es eine âerstaunliche gedankliche Ăbereinstimmungâ (18) der vielen reformpĂ€dagogischen Strömungen. Die ReformpĂ€dagogik sei eine geschichtliche Tatsache und eine unterscheidbare pĂ€dagogische Denkweise. Im Rahmen seiner personalen PĂ€dagogikvorstellung sieht Böhm ihren Kern â in einer an Theodor Litt angelehnten Wendung â in der Anerkennung der Unaufhebbarkeit der beiden Pole FĂŒhren und Wachsenlassen sowie von Reform- und RegelpĂ€dagogik als unendlichem Projekt jeder Erziehung.
(2) Ein erstes Handbuch der deutschen ReformpÀdagogik
Handelt es sich bei dem Ende 2013 erschienenen und von den beiden Bildungshistorikern Wolfgang Keim und Ulrich Schwerdt herausgegebenen Handbuch um einen neuen Aktualisierungsversuch reformpĂ€dagogischer Theorie und Praxis mit historiographischen Mitteln? Und warum benötigt dieses zweibĂ€ndige Werk mehr als 1.250 Druckseiten und 38 BeitrĂ€ge zu Einzelthemen von 27 verschiedenen Autoren, wo doch Winfried Böhm als Einzelautor mit weniger als einem Zwanzigstel des Textumfangs ausgekommen ist, um sogar die ReformpĂ€dagogik in ihrer InternationalitĂ€t darzustellen? Allein der Artikel von Ulrich Schwerdt ĂŒber âUnterrichtâ (949â1009) ist so umfangreich wie das ganze BĂŒchlein von Böhm.
Eine wesentliche Leistung der Autoren und Herausgeber des Handbuchs besteht darin, dass die in den vergangenen Jahrzehnten erschienene Forschung mit regionalgeschichtlichen Schwerpunkten und zu einzelnen Vertreterinnen und Vertretern der deutschen ReformpĂ€dagogik ausgewertet und integriert worden ist. Die beiden Herausgeber haben die Aufgabe gelöst, allen Handbuchartikeln eine gemeinsame Grundstruktur zu geben. Diese besteht zum einen in der durchgĂ€ngig gesellschaftsgeschichtlichen Kontextualisierung pĂ€dagogischer Konzepte in ihren kulturellen, politischen und sozialen ZusammenhĂ€ngen. Zum anderen ist es gelungen, alle BeitrĂ€ge auf eine einheitliche diachrone Strukturierung zu verpflichten, die von (a) lĂ€ngerfristigen Traditionslinien ĂŒber die beiden Hauptabschnitte (b) des wilhelminischen Kaiserreichs bis zum Ersten Weltkrieg und (c) der Weimarer Republik sowie abschlieĂend (d) der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte nach 1933 reicht. Dies ist fĂŒr die Lesbarkeit des Gesamtwerkes von groĂem Nutzen.
Im Unterschied zu allen bisherigen Geschichten der ReformpĂ€dagogik bieten die beiden BĂ€nde keine Einzeldarstellungen der ĂŒblichen reformpĂ€dagogischen Hauptströmungen und der prominenten Hauptprotagonisten, sondern eine systematische Gliederung von Abhandlungen zu vier Themenfeldern:
(A) Als âGesellschaftliche Kontexteâ firmieren BeitrĂ€ge zu politischen Parteien,
der Arbeiterbewegung, der konservativen Revolution, der Friedensbewegung, der Jugendbewegung und zu pÀdagogischen BerufsverbÀnden sowie der Erziehungswissenschaft und Psychologie.
(B) Von den âLeitideen und Diskursenâ werden Entwicklung, Kindorientierung, Ganzheit, Natur, SelbsttĂ€tigkeit, IndividualitĂ€t, ReligiositĂ€t / SpiritualitĂ€t, Gemeinschaft und Gesellschaft, PĂ€dagogischer Eros [6], Zukunft sowie Macht und Grenzen der Erziehung analysiert.
(C) In dem Teil âPraxisfelderâ finden sich Artikel zu Vorschulerziehung, Schule, Berufsbildung, HeilpĂ€dagogik, SozialpĂ€dagogik, Erwachsenenbildung und GefĂ€ngnispĂ€dagogik.
(D) Beim Oberbegriff âHandlungssituationenâ werden Unterricht, Arbeit, Spiel, Sprache und Literatur, Musik, Kunstunterricht, Darstellendes Spiel, LeibesĂŒbungen sowie Feste und Feiern abgehandelt.
Dies mag auf den ersten Blick den Nachteil haben, dass man hier keine konzentrierten Informationen zu den gewohnten Namen und Richtungen findet, die man ĂŒblicherweise mit der deutschen ReformpĂ€dagogik verbindet. Dieser Ansatz eröffnet stattdessen den Blick auf querliegende Konzeptionen und BedingungszusammenhĂ€nge. Die im Text hĂ€ufig anzutreffende parallelisierte und ausdifferenzierte Darstellung des reformpĂ€dagogischen Diskurses in den drei unterschiedlichen politisch-sozialen Milieuvarianten des elitĂ€r-konservativen Nationalismus, des bildungsbĂŒrgerlich-fortschrittlichen Liberalismus und des sozialistisch-emanzipatorischen Kosmopolitismus ist dafĂŒr ein Exempel.
Das Handbuch bietet keine isolierte Geschichte von Motiven und Ideen der deutschen ReformpĂ€dagogik, sondern pflegt eine Historie der Erziehungswirklichkeit, die die Ambivalenz dieser pĂ€dagogischen Bewegung schon in ihrer Genese erkennbar zu machen versucht. Die deutsche ReformpĂ€dagogik wird als ein facettenreicher, aber mit identifizierbaren Gemeinsamkeiten versehener Antwortversuch auf die mentalen und sozialstrukturellen Herausforderungen gesamtgesellschaftlicher Modernisierung in der Hochindustrialisierungsphase gesehen. Sie wird als Teil der Lebensreformbewegungen um die Jahrhundertwende verstanden, die in enger Beziehung zu den sozialen Emanzipationsbewegungen der Jugend, Arbeiter und Frauen stehen. So rekonstruieren die Handbuchautoren ReformpĂ€dagogik auch als kritische Reaktion und Versuch zur Etablierung einer alternativen Sozialisations- und Erziehungspraxis gegenĂŒber Geist und Struktur der starren Institutionalisierung von Schule und Schulsystem, wie sie das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat.
An vielen Beispielen wird ĂŒberzeugend die politische ZĂ€sur von 1918 fĂŒr die quantitative und soziale Verbreiterung reformpĂ€dagogischen Denkens und Handelns verdeutlicht. Was als ĂŒberschaubare Zahl punktueller Projekte im autoritĂ€ren System des Wilhelminismus begann, wird hĂ€ufig in der Weimarer Demokratie von Regelinstitutionen des Bildungs- und Erziehungswesens aufgegriffen und vielfĂ€ltiger praktiziert, jedoch ohne sich wirklich als gesellschaftlicher Standard durchsetzen zu können.
Das Handbuch wird ganz ohne Zweifel zu einem unverzichtbaren Standardwerk der Bildungsgeschichtsschreibung werden. Es hat sein selbst gestecktes Ziel konsequent verfolgt: âWenn das Handbuch zum VerstĂ€ndnis wie zu einer gewissen Distanz gegenĂŒber der historischen ReformpĂ€dagogik einerseits, zu Neugier auf die von damaligen PĂ€dagoginnen und PĂ€dagogen entwickelten Ideen, Projekte und Modelle andererseits anregten, hĂ€tte es seine Intention erfĂŒlltâ (35).
(3) Eine Verteidigungsschrift gegenwÀrtiger ReformpÀdagogik
Ganz anders bestimmt die von Ulrich Herrmann und Steffen SchlĂŒter herausgegebene Textsammlung âReformpĂ€dagogik â eine kritisch-konstruktive VergegenwĂ€rtigungâ ihren Gegenstand. Im einleitenden Beitrag von Theodor Schulze heiĂt es, âReformpĂ€dagogik besteht heute weiterâ (23); diese wird als AnknĂŒpfung an die historische ReformpĂ€dagogik verstanden, wie sie sich gegenwĂ€rtig zum Beispiel in der Vereinigung âBlick ĂŒber den Zaunâ, im âDeutschen Schulpreisâ und der âVereinigung Deutscher Landerziehungsheimeâ (seit 2013: âDie Internate-Vereinigungâ) organisiert. AuffĂ€llig in der Komposition des Buches ist die Argumentationsfigur, jĂŒngere neurowissenschaftliche Befunde und neurodidaktische Konzeptionen wĂŒrden eine kongeniale Aktualisierung und BestĂ€tigung reformpĂ€dagogischer Einsichten ermöglichen.
Der Sammelband besteht aus bereits an anderer Stelle veröffentlichten AufsĂ€tzen, RadiobeitrĂ€gen und Buchkapiteln aus neuerer Zeit sowie einigen OriginalbeitrĂ€gen. Die Verteidigungsschrift ist gegliedert in BeitrĂ€ge zur Kontroverse seit dem Odenwaldschul-Skandal 2010, zu historischen und internationalen BezĂŒgen, zu ihrer Kritik sowie neurowissenschaftlichen und entwicklungspĂ€diatrischen Perspektiven.
Eine sehr differenzierte Position nimmt Sabine Seichter in ihrem Beitrag ein, in dem sie auf fundierte Weise die in der historischen ReformpĂ€dagogik auftretende Reduzierung der erzieherischen Leitidee der Liebe auf Eros rekonstruiert (219â230) und die Möglichkeit konzediert, hierdurch âSchlupflöcher oder Legitimationen fĂŒr erzieherische (auch âprofessionelleâ) GrenzĂŒberschreitungen und -verletzungen aufzutunâ (225). Ăberhaupt tendiere die in vielen reformpĂ€dagogischen AnsĂ€tzen vertretene Einheit von Geist und Körper dazu, die beiden im Eros-Begriff enthaltenen Dimensionen der verstehenden Zuwendung und der sexuellen Beziehung zu integrieren (222).
Das erste und durchaus schlagende Argument gegen die These von einem diskreditierenden Verursachungszusammenhang zwischen ReformpĂ€dagogik und sexualisierter Gewalt in Landerziehungsheimen ist der Hinweis auf ĂŒberzogene Verallgemeinerung. Jörg Link (30â46) weist an Hand von Fritz Karsens Sammlung âDie neuen Schulen in Deutschlandâ von 1924 nach, dass es sehr viele Gegenbeispiele von nicht-gefĂ€hrdenden pĂ€dagogischen Reformprojekten gab.
Zweitens nimmt der Herausgeber Ulrich Herrmann eine Ă€uĂerst bemerkenswerte Problemverschiebung vor: Im Zusammenhang mit dem Odenwaldschul-Skandal gehöre ânicht die ReformpĂ€dagogik oder die Odenwaldschule auf den PrĂŒfstandâ, sondern nur die dortige âOrganisation des Zusammenlebens und -wohnens im Landheimâ und besonders âdie heute ĂŒbliche Lehrerbildungâ, die den âErziehungs- und Bildungsauftrag [âŠ] vollkommen vernachlĂ€ssigtâ (109).
Das dritte wesentliche Gegenargument ist die Trennung zwischen Straftaten des sexuellen Missbrauchs nach § 176 StGB von einzelnen ReformpĂ€dagogen und dem Konzept der Reform- und LanderziehungsheimpĂ€dagogik. Zwischen ihnen gebe es keinen âverursachenden Zusammenhangâ, sondern nur âbegĂŒnstigende Strukturen und pĂ€dagogische Praxenâ (241).
(4) Kritische Aufarbeitung der Odenwaldschul-Vergangenheit
Ulrich Herrmann wirft den Analysen von Oelkers eine Kriminalisierung der ganzen ReformpĂ€dagogik vor. In gleicher Weise, aber mit umgekehrter StoĂrichtung, könnte man Herrmann eine Pathologisierung von EinzeltĂ€tern vorwerfen, die zufĂ€llig auch PĂ€dagogen sind. Eine solche Diskussionsfront fĂŒhrt ganz offensichtlich nicht weiter.
Eine zukunftsorientiertere Themenstellung hatte sich die Tagung âReformpĂ€dagogik nach der Odenwaldschule â Wie weiter?â an der PĂ€dagogischen Hochschule Thurgau in Kreuzlingen am Schweizer Ufer des Bodensees im September 2012 vorgenommen. Die BeitrĂ€ge des von Damian Miller und JĂŒrgen Oelkers herausgegebenen Bandes dokumentieren umfassend ein groĂes Themenspektrum. Neben weiterfĂŒhrenden erziehungswissenschaftlichen und bildungsgeschichtlichen Analysen stehen authentische Berichte von Betroffenen und Verantwortlichen ĂŒber die VorgĂ€nge und Aufarbeitungsversuche an der Odenwaldschule. Aber auch aktuelle Beispiele kritisch-reflektierter Praxis von Reformschulen werden aufgefĂŒhrt. Einen paukenschlagartigen Kontrapunkt zu diesen Versuchen stellte das viel beklatschte Schlusswort des Vortrags von Andreas Huckele (alias JĂŒrgen Dehmers) dar: âSperrt den Laden endlich zu!â (232).
JĂŒrgen Oelkers verlĂ€ngert in seinen VortrĂ€gen auf der Tagung die Liste von bekannt gewordenen pĂ€dophilen PĂ€dagogen aus dem reformpĂ€dagogischen Umfeld. Jeder Leser von Hartmut von Hentigs schultheoretischen und schulpĂ€dagogischen Veröffentlichungen kennt seine Formel, eine Schule mĂŒsse âa place for kids to grow up inâ sein [7]. Sie stammt von dem libertĂ€ren US-Schriftsteller Paul Goodman (1911â1971), der sich fĂŒr eine Entschulung der Gesellschaft eingesetzt hatte. Hentig hatte ihn als GewĂ€hrsmann fĂŒr seine Auffassung von der âEntschulung der Schuleâ hĂ€ufiger angefĂŒhrt. Oelkers berichtet nun, dass Goodman sich öffentlich fĂŒr das Recht des Lehrers auf sexuelle Beziehungen zu SchĂŒlern eingesetzt hat und wegen illegitimer Beziehungen zu jugendlichen SchĂŒlern mehrfach aus dem Schuldienst entlassen worden ist (65).
In einem Tagungsbeitrag von Patrick BlĂŒher zur psychoanalytisch inspirierten ReformpĂ€dagogik in Ăsterreich und der Schweiz wird von dem Jugendheimleiter und Theoretiker der Erziehungsberatung August Aichhorn berichtet, der offensiv fĂŒr eine suggestive Therapie der Ăbertragung eingetreten ist, die gezielt mit einer erotischen Beziehung zwischen Erzieher und Zögling arbeiten soll (264).
Unter den vielen sehr bedenkenswerten AufsĂ€tzen in dem Band von Miller und Oelkers sei nur noch der ĂŒberzeugende Versuch von Christoph Maeder hervorgehoben (112â137). Er kennzeichnet das Landerziehungsheim Odenwaldschule organisationssoziologisch als krasses Beispiel einer âtotalen Institutionâ (nach Erving Goffmann), das Missbrauch und grenzverletzende Gewaltanwendungen institutionell begĂŒnstigt. In diesem Ansatz stimmt er mit Ulrich Herrmann ĂŒberein (Herrmann / SchlĂŒter, 242).
Auf dieser Spur beschreiten die BĂ€nde von Herrmann / SchlĂŒter und Miller / Oelkers parallele ErklĂ€rungsversuche. Es werden begĂŒnstigende und verhindernde Bedingungen von sexualisierter Gewalt in pĂ€dagogischen Institutionen und Interaktionen aufgelistet (Herrmann, 239f) und ansatzweise untersucht. Hier wĂ€ren zu nennen: das Familienprinzip in Internaten [8], die Theorie des pĂ€dagogischen Eros und die Balance zwischen Inhalts- und Beziehungsebene in Lern- und Erziehungsprozessen. DarĂŒber hinaus werden Zukunftsaufgaben fĂŒr Erziehungswissenschaft und Bildungsgeschichte herausgearbeitet: Es mĂŒssen die praktischen Wirkungen pĂ€dagogischer AbsichtserklĂ€rungen erforscht werden sowie die Verbreitung sexualisierter Gewalt auĂerhalb (reform-)pĂ€dagogischer Landerziehungsheime. Es steht zu vermuten, dass auch in Institutionen wie Kirche, MilitĂ€r und Familie solche Bedingungen Missbrauch begĂŒnstigen: 1) totale Machtstrukturen, 2) Hyper-Idealisierungen und 3) Dominanz der Beziehungsebene.
Auf der Homepage der Odenwaldschule ist zu Beginn des Schuljahres 2014 / 15 zu lesen: âDas Zusammenleben von Lehrern / Lehrerinnen und SchĂŒlern / SchĂŒlerinnen in Familien ist ein durch SchĂŒlerinnen und SchĂŒler, Lehrerinnen und Lehrer und Eltern grundsĂ€tzlich positiv bewertetes Konzept, das deswegen beibehalten und zugleich deutlich modifiziert wurde.â [9] Man sieht: Der Versuch die Frage âwie weiter?â zu beantworten, hat gerade erst begonnen. Und die Bildungsgeschichte hat dabei ein wichtiges Problem zu bearbeiten: Wie können machtbasierte Beziehungen in geschlossenen Institutionen entstehen und was kann sie verhindern?
[1] In Auswahl: Kaufmann, M. / Priebe, A. (Hrsg.): 100 Jahre Odenwaldschule. Der wechselvolle Weg einer Reformschule. Berlin: Verlag fĂŒr Berlin-Brandenburg 2010; Oelkers, J.: Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der ReformpĂ€dagogik. Weinheim und Basel: Beltz 2011; FĂŒller, C.: SĂŒndenfall. Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte. Köln: DuMont 2011; Dehmers, J. (alias A. Huckele): Wie laut soll ich denn noch schreien? Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch. Reinbek: Rowohlt 2011.
[2] Odenwaldschule: Wissenschaftliche Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt an der Odenwaldschule â Ein Ăberblick. Stand 12. Juni 2012. URL: http://www.odenwaldschule.de/fileadmin/-user_upload/-resources/pdf/Verantwortung/22.6.2012UEberblick-Wissenschaftl._Aufarbeitung_.pdf (letzter Aufruf 13.09.2014); Schulverbund Blick ĂŒber den Zaun: Zusammenstellung ReformpĂ€dagogik und sexuelle Gewalt. 28. September 2011. URL: http://www.blickueberdenzaun.de/index.php/textarchiv/161-zusammenstellung-reformpaedagogik-und-sexuelle-gewalt (letzter Aufruf 13.09.2014).
[3] Oelkers, J: Probleme der Geschichtsschreibung der deutschen ReformpÀdagogik. Vortrag am 12. Dezember 2010 in Bad Boll. URL:http://www.ife.uzh.ch/research/emeriti/oelkersjuergen/vortraegeprofoelkers/vortraege2010/BadBolldef.pdf (letzter Aufruf 14.09.2014).
[4] Vgl. Hentig, H. von: Die Elemente der Erziehung. In: BlĂ€tter fĂŒr deutsche und internationale Politik. 55. Jg. (2010), Heft 5, 85-98, hier 89f.
[5] Vgl. Seichter, S.: PĂ€dagogische Liebe. Erfindung, BlĂŒtezeit, Verschwinden eines pĂ€dagogischen Deutungsmusters. Paderborn: Schöningh 2007.
[6] In diesem Artikel (559â575) arbeiten Reinhard Uhle und Detlef Gaus (LĂŒneburg) auf ĂŒberzeugende Weise die BegrĂŒndungsmuster von pĂ€dagogischer Liebe und Eros einschlieĂlich ihrer âAbgrĂŒndeâ auf ĂŒberzeugende Weise auf.
[7] Z. B.: Hentig, H. von: Die Schule neu denken. 1. Auflage. MĂŒnchen Wien: Hanser 1993, 9.
[8] Vgl.: Kessel, F. u. a.: Die inszenierte Familie. Familialisierung als Risikostruktur. In: Andresen, S. / Heitmeyer, W. (Hrsg.): Zerstörerische VorgĂ€nge. Missachtung und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen. Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2012, 164â177.
[9] Homepage der Odenwaldschule: Die besondere Verantwortung. URL: http://www.odenwaldschule.de/ver-antwortung/die-verantwortung.html (letzter Aufruf: 16.09.2014).