Die Autor_innen erheben in ihrer acht Kapitel umfassenden Monographie den Versuch, „Vulnerabilität als bedeutsame pädagogische [normative] Kategorie“ (7) zu definieren und systematisch auszuweisen. Das Konzept der Vulnerabilität präsentiert dabei einen Gegenentwurf zur gängigen Perspektive auf den modernen Menschen. Ein neoliberales Subjektverständnis war bis dato eher mit Assoziationen und Schlüsselbegriffen wie „Kontingenz, Pluralität, Komplexität, Offenheit, Unvorhersehbarkeit und Flexibilität“ (9) verknüpft. Mit dem Konzept der Vulnerabilität begreifen Burghardt et al. dagegen die konstitutive Verletzbarkeit des Leibes als neuzeitliche Subjektentwürfe, welche durch Schlüsselbegriffe wie Antastbarkeit, Fragilität oder Dezentriertheit charakterisiert sind.
Der Mensch sei im Kampf gegen eine nicht hinnehmbare Fehlerhaftigkeit stets bemüht gewesen, die grundlegenden Bedingungen des Lebens wie Schmerz, Leiden und Tod zu verhindern oder diesen vorzubeugen. Neben der Verbesserung der Lebensverhältnisse hatte dies auch eine (unberechenbare) Dialektik zur Folge: Es entstanden paradoxerweise neue Risiken und Möglichkeiten des Verletzt-Werdens oder des Verletzens, Diskriminierens und Beschädigens, womit auf die Janusköpfigkeit des Vulnerabilitätskonzepts eingegangen wird. Denn als Kehrseite der Vulnerabilität sei komplementär das Risiko der Vulnerantialität mit den Gefahren individueller Verwundbarkeiten verbunden. Beide Kategorien verstehen sich als Momente oder Bedingungen der Verletzlichkeit in physischer, psychischer oder sozialer Hinsicht und verschränken sich zu einem Konzept unter je spezifischen Konstellationen. Historisch betrachtet entstanden aufgrund der physisch-sozialen und leiblich-symbolischen Verschränkung des Vulnerabilitätskonzepts gesellschaftliche Diskurse, welche in Diskussionen um bspw. Solidarität, Empowerment oder Resilienz mündeten und für die Pädagogik von besonderer Bedeutung erscheinen, so ein hoffnungsvolles und pointiertes Dafürhalten der Autor_innen.
Zum einen skizziert der Band das Verständnis von Vulnerabilität als basale anthropologische Grundbedingung und betitelt diese als Regulativ menschlicher Sozialität, zum anderen zeigt sich anhand der Herausarbeitung des pädagogischen Gehalts eine Theorie der Vulnerabilität (16), an der sich normative Implikationen einer kritischen Pädagogik messen lassen. Im dialektischen Gang der Geschichte sei Vulnerabilität immer schon mitangelegt „im Prozess der bürgerlichen Subjektwerdung qua fortschreitender Naturbeherrschung“ (16). Auf diesem Weg habe sich die Menschheit selbst verstümmeln und entmenschlichen lassen, bis „das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt“ [1].
Im ersten Teil des Buches verweist die historisch-systematische Eruierung des Vulnerabilitätsbegriffs auf den medizinischen Ursprung, wonach die „Verletzlichkeit des menschlichen Körpers und der Psyche“ (19) die Psychologie als Teildisziplin stark prägte. Gegenstandstheoretisch kommen psychisch-physische Formen der Verletzbarkeit ebenso wie latente symbolische Verwundbarkeiten in den Blick weiterer Differenzierungen. Je nach Kontextualisierung, beschreibe Vulnerabilität den Grad der Schadensanfälligkeit oder Verwundbarkeit in Bezug auf eine – „soziale, politische, ökonomische, geographische, klimatische oder seit kurzem auch pädagogische“ (19) – gegebene Gefahr.
Die anthropologischen Dimensionen werden im Kapitel II als Ansatz für „eine Grundlegung der Vulnerabilität als Schlüsselbegriff der (pädagogischen) Anthropologie“ (34) verstanden. Je nach heuristischer Lesart liege der conditio humana eine natürliche Kraft zugrunde, welche zur Kulturalisierung der Lebensverhältnisse verhelfen kann und in einem zweiten Schritt „für eine Analyse von Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozessen“ (35) herangezogen werden muss. Anhand der Kategorien ‚Sozialität‘, ‚Kulturalität‘, ‚Korporalität‘ und ‚Liminalität‘ soll diese Komplexität der Doppelseitigkeit nicht erschöpfend, wohl aber tiefgehend und begrifflich differenziert werden.
Im III. Kapitel werden ‚historische Überlegungen‘ unternommen, die eine kulturgeschichtliche – zumal westlich geprägte – Entwicklungslinie der Vulnerabilitätsbewältigung beleuchten. Vom antiken Kosmos bis in die Neuzeit sind Topoi wie Verletzbarkeit, Leiden, Zerbrechlichkeit, Hinfälligkeit und Endlichkeit wiederkehrende Problemlagen und Schnittpunkte für menschliches Streben nach Vernunft gewesen, die in ihrer Konsequenz ein Spannungsverhältnis aus Leid und Überwindung hervorbrachten und in ihrer pädagogischen Reflexion nur eine Antwort aber niemals eine Lösung auf vorhergehende Herausforderungen darstellten.
In Kapitel IV ‚Familie und Schule‘ wird von einer strukturell-familiären Vulnerabilität in Form eines „hidden concepts“ (72) in pädagogischen Institutionen (von der Erziehungswissenschaft bis zur Psychiatrie) gesprochen, welche in Bezug auf die Relationen von Kindern und Jugendlichen in der Institution Schule wie Familie neu diskutiert wird. Es werden primär versteckte „Strategien und Mechanismen zur (normativen) Regelung von Verhaltens- und Handlungs- bzw. Einstellungsmustern“ (72) in den Mittelpunkt gestellt, die um strukturell angelegte pädagogische Bezüge der Vulnerabilität/Vulnerantialität oszillieren.
Im V. Kapitel zeigt sich der essentielle Wert von Praktiken der Anerkennung der Person in der ‚Heil- und Sonderpädagogik‘, primär für die leiblich-seelische Konstitution des Menschen, aufgrund des notwendigen „Respekt vor der Verletzlichkeit“ (110). „Nicht-Anerkennung kann Leiden verursachen, kann eine Form von Unterdrückung sein, kann den anderen in ein falsches, deformierendes Dasein einschließen“ (109). Eine enge Verschränkung zwischen pädagogisch-psychologischen wie gesellschaftsanalytischen bzw. -kritischen Modellen der Vulnerabilität zeigen die Tiefe der in Anschlag gebrachten ethischen Ansätze, ebenso wie deren Grenzen, in der im engen medizinisch-psychologischen Forschungszusammenhang stehenden Resilienzforschung.
Primär vulnerante (verwundende) gesellschaftliche Faktoren werden in Kapitel VI „Sozialpädagogik“ in den Vordergrund gerückt. Signifikante Arbeitsfelder thematisieren unter der spezifischen Auseinandersetzung mit „der Verstrickung des pädagogischen Feldes in Macht- und Gewaltverhältnisse“ (115) die gegebenen Lebenswelten der Betroffenen. Ihre psychosozialen Bewältigungsprobleme und gesellschaftlichen Bedingungen werden anhand Castels Konzept der „Zonen der Verwundbarkeit“ (117) analysiert.
Kapitel VII beschäftigt sich mit Folgen und Wirkungen von ‚Interkulturalität‘ sowie mit sozialpsychologischen Bedingungen im ‚Umgang mit dem Fremden‘. Anhand der Figur des Flüchtlings und antisemitischer Stereotypen werden diese Figuren skizzenhaft als die Vulnerablen par excellence beschrieben. Der Fremde sei wie ein Stachel laut Waldenfels [2], „der verletzt, weil er unzugänglich, nicht kategorial identifizierbar und irreduzibel erscheint“ (134).
Kapitel VIII öffnet und schließt das nun mehr „pädagogische Konzept der Vulnerabilität“ zwischen Faktizität und Normativität und stellt sechs zentrale Momente in den Blick, welche durchaus selbstkritisch den Möglichkeitsraum der Vulnerabilität nicht vollständig ausleuchten. Die Konzeptionierung des kompilierenden Begriffs wird somit als strukturelle Matrix politisch handlungsrelevant. Das Buch endet mit einer philosophischen, aber auch pragmatischen Aufforderung zur Vertiefung der Diskussionen um Vulnerabilität in der Pädagogik und bildet den Grundstein für weiterführende Arbeiten in „Schlüsselwerke der Vulnerabilitätsforschung“ [3].
Der Vielschichtigkeit und Komplexität des Vulnerabilitätsbegriffs kann man in einem Buch nicht gerecht werden. Daraus resultieren Stärken und Schwächen des Bandes. Indem spezifische empirisch-analytische Zugänge bedient werden, wirkt die gemeinsame interdisziplinäre Arbeit (aus den Bereichen der Heil- und Sonderpädagogik sowie der Allgemeinen Pädagogik) am Konzept der Vulnerabilität in seiner Gesamtheit ausführlich, wenn auch redundant. Zudem könnte der Genderaspekt zu Theorien und Modellen der Vulnerabilität tiefergehend zum Tragen kommen, unterscheiden sich doch Wahrnehmungen und Erfahrungen von Vulnerantialität für Männer und Frauen deutlich.
Insgesamt wird der Band dem Charakter einer Einführung und breit angelegten Orientierung gegenüber den Herausforderungen der Vulnerabilität für die pädagogische Praxis gerecht. Es wäre zu wünschen, dass das Buch im Kontext des Topos der Fragilität des Menschen und der Aufnahme des Vulnerabilitätskonzepts in der Pädagogik breit rezipiert wird.
[1] Horkheimer, Max & Adorno, Theodor W. (Hg.): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam.: Fischer. 1968.
[2] Waldenfels, Bernhard (Hg.): Der Stachel des Fremden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990.
[3] Stöhr, Robert; Lohwasser, Diana; Napoles, Juliane Noack; Burghardt; Dederich, Markus; Dziabel; Krebs, Moritz; Zirfas, Jörg (Hg.): Schlüsselwerke der Vulnerabilitätsforschung. Wiesbaden: Springer Verlag 2019.
EWR 18 (2019), Nr. 2 (März/April)
Vulnerabilität
Pädagogische Herausforderungen
Stuttgart: Kohlhammer 2017
(184 S.; ISBN 978-3-17-030175-7; 29,00 EUR)
Thomas Senkbeil (Zürich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Thomas Senkbeil: Rezension von: Burghardt, Daniel / Dederich, Markus / Dziabel, Nadine / Höhne, Thomas / Lohwasser, Diana / Stöhr, Robert / Zirfas, Jörg: Vulnerabilität, Pädagogische Herausforderungen. Stuttgart: Kohlhammer 2017. In: EWR 18 (2019), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.05.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317030175.html
Thomas Senkbeil: Rezension von: Burghardt, Daniel / Dederich, Markus / Dziabel, Nadine / Höhne, Thomas / Lohwasser, Diana / Stöhr, Robert / Zirfas, Jörg: Vulnerabilität, Pädagogische Herausforderungen. Stuttgart: Kohlhammer 2017. In: EWR 18 (2019), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.05.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317030175.html