EWR 7 (2008), Nr. 5 (September/Oktober)

Die Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Defizitstörung (ADHS) – eine Sammelbesprechung

Gerhild DrĂĽe
ADHS kontrovers
Betroffene Familien im Blickfeld von Fachwelt und Ă–ffentlichkeit
Stuttgart: Kohlhammer 2006
(266 S.; ISBN 978-3-17-019086-3; 24,80 EUR)
Cordula Neuhaus
ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen
Symptome, Ursachen, Diagnosen und Behandlungen
Stuttgart: Kohlhammer 2007
(178 S.; ISBN 978-3-17-019743-5; 17,00 EUR)
Bernd Ahrbeck (Hrsg.)
Hyperaktivität
Kulturtheorie, Pädagogik, Therapie
Stuttgart: Kohlhammer 2007
(192 S.; ISBN 978-3-17-018445-9; 24,00 EUR)
Miriam Stiehler
Konzentrationserziehung statt AD(H)S-Therapie
Ein Modell nach Paul Moor
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2007
(323 S.; ISBN 978-3-7815-1555-0; 32,00 EUR)
ADHS kontrovers ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen Hyperaktivität Konzentrationserziehung statt AD(H)S-Therapie Die vier Bände greifen mit der Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Defizitstörung (ADHS) ein öffentlich brisantes und erziehungswissenschaftlich bislang vernachlässigtes Thema auf. Sie lassen sich zunächst grob nach der favorisierten Sichtweise auf die Entstehung und somit auch Behandlung von ADHS einteilen: Drüe und Neuhaus gehen von einem biologischen Erklärungsmodell aus, nachdem die ADHS eine primär genetisch bedingte Krankheit ist, die man durch eine Kombination von Medikamenten und Verhaltenstherapie, wenngleich nicht heilen, so doch behandeln kann. Die psychoanalytisch orientierten Beiträge in dem von Ahrbeck herausgegebenen Band sowie die pädagogisch ausgerichtete Publikation von Stiehler stellen eine biologische Verursachung der ADHS grundsätzlich in Frage und richten den Blick auf die Entwicklungs- und Lerngeschichten Betroffener.

DrĂĽe: ADHS kontrovers

Gerhild Drüe möchte in ihrem Buch „ADHS kontrovers“ die schwierige Lage von Familien aufzeigen, die Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen haben. Die ehemalige Hauptschullehrerin berät Eltern in einer ADHS-Selbsthilfegruppe und bezieht in ihre Darstellung u.a. Erfahrungsberichte von betroffenen Eltern, Erzieherinnen und Lehrerinnen ein. Als forschungsorientierten Beitrag kann man das Buch nicht bewerten; Falldarstellungen dienen ausschließlich der Illustration bestimmter Schwierigkeiten, denen die Betroffenen ausgesetzt sind und werden nicht systematisch ausgewertet. Drüe beginnt ihre Darstellung mit einem „Vorwort und Bekenntnis“ (11ff), in dem sie ihre Haltung zum Thema ADHS deutlich macht: „ADHS ist keine Modediagnose, keine Kinderkrankheit, keine Fernsehfolge und keine Ausrede für erziehungsschwache Mütter und Väter“ (12). Vielmehr handele es sich um eine, wenngleich in ihrem Erscheinungsbild widersprüchliche, so doch ernst zu nehmende Krankheit, die, werde sie nicht rechtzeitig erkannt, dramatische Folgen mit sich bringe: „ADHS zerrüttet Familien, lässt Schulversagen, Süchte, manchmal sogar Verwahrlosung, Kindesverwahrlosung, Kriminalität und sogar Selbsttötung folgen“ (ebd.).

Das erste Kapitel „Zumutungen“ (15ff) behandelt die Vorurteile, denen sich Eltern mit verhaltensauffälligen Kindern ausgesetzt fühlen. Die Autorin greift aus ihrer Sicht typische negative Reaktionsweisen und Äußerungen von Ärzten, ErzieherInnen, LehrerInnen und TherapeutInnen heraus und stellt dar, dass sich Mütter auf ihrer Suche nach Hilfe häufig allein gelassen und abgewertet fühlen (19ff). In den drei sich anschließenden Fallberichten (24ff) werden problematische Familienkonstellationen beschrieben, die sich erst durch eine medikamentöse Behandlung mit Methylphenidat (MPH) entspannen. Im folgenden zweiten Kapitel „Zur ,Sache’ ADHS“ betont die Autorin nochmals, dass die Ursache der Störung nicht im familiären Umfeld zu suchen sei. Im Unterkapitel „Was ist ADHS?“ (47ff) werden zwar die Standarddefinitionen nach ICD-10 und DSM-IV aufgeführt (48), doch bis auf den Verweis auf das Problem der komorbiden Störungen, die häufig mit ADHS einhergingen, erfährt der Leser über das diagnostische Vorgehen nichts. Die zahlreichen Begleitstörungen der ADHS werden aufgelistet und wiederum durch Fallberichte illustriert (65f).

Das Kapitel wirft mehr Fragen auf als es beantworten kann. Spätestens wenn als Beleg für die Grenzen erzieherischer Einflüsse ausgerechnet der vielzitierte Fall des Phineas Gage herangezogen wird, zweifelt man an der Plausibilität der biologischen Begründung. Denn üblicherweise wird der Fall Gage herangezogen, um zu illustrieren, dass ein Mensch infolge von Hirnläsionen das „verlieren“ kann, was er im Laufe seines Lebens durch Erziehungs- und Sozialisationsprozesse erworben hat, und nicht etwa, dass sich Hirnentwicklung gewissermaßen von Umwelteinflüssen entkoppelt vollzieht und Verhalten genetisch festgelegt wäre.

Das dritte Kapitel „Steine im Weg“ (94ff) widmet sich der Frage, weshalb sich bei Laien und Professionellen noch immer kein angemessenes Verständnis der ADHS durchgesetzt habe. Zunächst nimmt Drüe dabei den Markt der Erziehungsratgeber in den Blick (95ff) und kommt zu dem Schluss, dass sich deren Lektüre meist als nutzlos erweise (102), denn Ratgeber bagatellisierten das Problem und suggerierten Eltern, man könne ADHS erzieherisch behandeln. Im Anschluss daran kritisiert die Autorin tiefenpsychologische Erklärungsmodelle, die Mütter zu Unrecht für die Verhaltensauffälligkeiten ihrer Kinder verantwortlich machten (105ff). Bereits zu Beginn des folgenden Abschnitts zur Anlage-Umwelt-Diskussion (115ff) ahnt man, worauf dieser hinauslaufen wird: Vertreter einer Umweltperspektive im Hinblick auf die Genese von ADHS befinden sich laut Drüe im Unrecht (115f), Vertreter einer biologischen Perspektive im Recht (117f).

Ob es überhaupt sinnvoll erscheint, Anlage und Umwelt strikt voneinander zu trennen, wird nicht thematisiert, stattdessen fährt die Autorin mit ihrer polarisierenden Darstellung fort. Auch in späteren Abschnitten wird jeder Autor, der es wagt elterliche Erziehung oder andere sozialisatorische Wirkungen für die Entstehung und den Ausprägungsgrad der ADHS in Erwägung zu ziehen, teilweise unsachlich kritisiert (130; 174ff). Zu den Kernaussagen des Kapitels gehört, dass nur derjenige verstehen kann, was ADHS ist, der es selbst – entweder bei sich selbst oder bei anderen – erlebt hat. Drües Botschaft hat an einigen Stellen sicher ihre Berechtigung: deutlich lässt sich in den von ihr zitierten Quellen eine Frontstellung von umweltzentrierten gegenüber genzentrierten Sichtweisen erkennen. Umso problematischer ist es deshalb, dass Drüe selbst diesem Muster folgt und somit die Kontroverse, die sie im Titel führt, lediglich bestätigt, ohne ihr etwas Neues hinzufügen zu können.

Die Debatte über die Medikamentengabe steht im Zentrum des vierten Kapitels („Knackpunkt MPH (z.B. Ritalin)“, 177ff). Zunächst stellt Drüe einige grundlegende Informationen über die Substanz Methylphenidat (181ff) zusammen. Der Rest des Kapitels schließt sich inhaltlich und argumentativ an die vorangegangenen Abschnitte an: Kritiker der Medikation kennen sich nach Ansicht Drües nicht aus und verharmlosen das Problem (192f). Dabei zeigten doch bisherige Erfahrungen, dass „die medikamentöse Therapie [...] sich fast immer als die wirksamere Methode erwiesen“ hat (206). Früher oder später, so das Resümee der Autorin, müssten deshalb auch Psychotherapeuten, Psychiater und Sozialpädagogen zu der „bitteren Einsicht“ gelangen, dass man ADHS allein durch therapeutische und erzieherische Maßnahmen nicht beikommen könne (211).

Das fünfte Kapitel mit dem Titel „Sackgassen“ (213ff) schildert eindrücklich die Schicksale von Familien, die jeglichen Zugang zu ihren Kindern verloren haben. Die Fallberichte zeigen prekäre Situationen, die durch ADHS und ein Abgleiten in Kriminalität, Obdachlosigkeit und Suchtverhalten geprägt sind. Auch diese Darstellungen lesen sich wie Versagenschroniken seitens verschiedener Institutionen (214ff) und lassen beim Leser die Frage nach der Unterscheidung von ADHS und anderen psychischen Erkrankungen und Störungen des Sozialverhaltens aufkommen. Auffällig ist auch, dass es häufig Adoptiv- und Pflegekinder sind, die von ADHS betroffen sind. Ob sich das – wie die Autorin meint – tatsächlich allein durch eine genetische Belastung (der leiblichen Eltern) erklären lässt, erscheint äußerst fragwürdig. Der Hinweis auf den Fall des Robert Steinhäuser, bei dem die Autorin viele der für die ADHS typischen Anzeichen erkennt, strapaziert die ohnehin dramatische Schilderung über die Maßen.

Der Umgang mit ADHS im schulischen Kontext steht im Mittelpunkt des sechsten Kapitels (230ff). Drüe kritisiert hierbei insbesondere den defizitären Wissensstand von Lehrkräften und Berufsverbänden im Hinblick auf ADHS (231f) und fordert eine Neuorientierung im praktischen Umgang mit betroffenen Kindern. Lehrerinnen und Lehrer „machen oft einen mangelnden Willen oder elterliche Erziehungsfehler verantwortlich“ für Konzentrations- und Lernstörungen (231) und damit beginne nicht selten eine „Abwärtsspirale“ für die betroffenen SchülerInnen. Hinzu komme „die Tatsache, dass ADHS genetisch bedingt ist, was für Pädagogen doch schwer zu akzeptieren ist“ (233). Ähnlich wie andere Teilleistungsschwächen (als Beispiel nennt Drüe hier Dyslexie) müsse ADHS als eine Krankheit anerkannt werden. Dementsprechend könnten bei der Bewertung von Leistungen und Verhalten auch nicht die gleichen Maßstäbe zugrunde gelegt werden wie bei „gesunden“ Kindern und Jugendlichen (241ff). Wie das konkret aussehen soll, bleibt allerdings unklar, denn anders als die Teilleistungsschwächen wirkt sich ADHS auf nahezu alle kognitiven und sozialen Bereichen aus. Direkt an Lehrkräfte richtet Drüe eine Aufzählung mit ADHS-typischen Eigenschaften von Kindern, Literaturempfehlungen zum praktischen Umgang mit ihnen und den Appell zur Wichtigkeit von systematisch erteilten, angeleiteten und überprüften Hausaufgaben (250f). In einem letzten, „Wünsche“ übertitelten siebten Abschnitt, ruft die Autorin nochmals zum Umdenken auf, es folgen einige (Internet-) Adressen und ein recht umfangreiches Literaturverzeichnis.

Insgesamt fokussiert Drüe, wenngleich nicht im wissenschaftlichen Sinne systematisch, auf betroffene Familien und hält somit, was sie im Titel ankündigt. Ihre Argumentationsweise kann man in dem Sinne als „biologistisch“ bezeichnen, als der Glaube an die genetische Ursache der ADHS den Dreh- und Angelpunkt sämtlicher, stellenweise polemischer Ausführungen bildet. Überzeugende Argumente für eine biologisch bedingte Ursache der ADHS bleibt die Autorin indes schuldig. Die Lektüre ist streckenweise aufgrund der großen Redundanz der Kernaussagen und der gezwungen provokativen Ausdrucksweise anstrengend. Immer wieder betont die Autorin ihre eigene Kompetenz in Sachen ADHS und wertet andere Autoren ab. Mit ironischen Kapitelüberschriften wie „Vorbeugen – der ganz heiße Tipp“ (207) oder „Immer wieder: ,Motherhunting’“ (144) erzeugt sie beim Leser eher Widerstände als den Eindruck einer seriösen, ausgewogenen Darstellung. Es ist fraglich, welche Funktion das Buch haben soll: wissenschaftlichen Ansprüchen genügt es nicht und Betroffene dürften darin zwar Entlastung, aber keine neuen Einsichten finden.

Neuhaus: ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen

Der Titel „ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Symptome, Ursachen, Diagnosen und Behandlungen“ ist in der Reihe „Rat & Hilfe“ im Kohlhammer Verlag erschienen und versteht sich explizit als Ratgeber für Betroffene. Cordula Neuhaus ist Verhaltenstherapeutin und hat bereits einige Ratgeber zum Thema ADHS verfasst. In dem kompakten Band beschreibt sie das Phänomen ADHS in seinen verschiedenen Formen und vergleicht u.a. typische Entwicklungs- und Verhaltensmuster von Menschen mit ADHS mit denen nicht-betroffener.

In den ersten Kapiteln geht Neuhaus knapp auf den Begriff ADHS und dessen Geschichte sowie auf den Begriff der Aufmerksamkeit ein (Kap. 1 bis 5; 11ff). Es folgt ein Abschnitt, in dem zunächst Abweichungen auf neuroanatomischer und hirnphysiologischer Ebene aufgezeigt und im Anschluss daran deren Konsequenzen auf der Verhaltensebene dargestellt werden (Kap. 6; 45ff). Im Anschluss daran vergleicht die Autorin „normale“ und ADHS-typische Entwicklungsverläufe, z.B. im Hinblick auf Sprachentwicklung, soziale Kognition, Empathie, Motorik (Kap. 7; 58ff). Es folgt eine Auseinandersetzung mit den häufig auftretenden komorbiden Störungen und ein kurzer Abriss über vorbeugende Maßnahmen (90ff). Die weiteren Kapitel widmen sich der Darstellung der Diagnostik und den Möglichkeiten der Behandlung; die medikamentöse Therapie wird dabei in einem eigenen Kapitel dargestellt (111ff). Neuhaus gibt konkrete Ratschläge, etwa zur Gestaltung von Arbeitsplätzen und zum Umgang mit alltäglichen, ADHS-typischen Schwierigkeiten (vgl. z.B. 142ff).

Die Stärken des Ratgebers liegen u.a. in der vergleichsweise ausführlichen Beschreibung von problematischen Entwicklungsphasen und der – auch für Laien – verständlichen Darstellung diagnostischer Vorgehensweisen. In jedem Kapitel finden sich weiterführende Literaturhinweise und insgesamt werden Ratsuchenden viele erste Fragen im Hinblick auf Symptome, Diagnose und Behandlung der ADHS beantwortet. Neben den Literaturhinweisen finden sich auch Internetquellen und Adressen von Selbsthilfegruppen. Wie Drüe spricht sich auch Neuhaus eindeutig für eine „konstitutionell bedingte Neurodynamik bei ADHS“ aus und nennt als hervorstechendes Merkmal der Krankheit eine „Dysregulation des Hirnstoffwechsels“ (14). Zwar weist sie darauf hin, dass „bio-psycho-soziale Faktoren für das Entstehen von ADHS verantwortlich sein könnten“ (14), doch insbesondere auf die sozialen Faktoren wird im weiteren Verlauf nicht eingegangen, während die psychischen Faktoren als Resultat genetisch bedingter neurophysiologischer Regulationsstörungen dargestellt werden (vgl. z.B. 112, 146). Als Ursache der Störung wird daher letztlich auch bei Neuhaus primär eine genetische Disposition genannt. Neuhaus schreibt: „Die neurobiologischen Zusammenhänge bei ADHS sind zum Teil recht kompliziert“ (139), stellt eben jene Zusammenhänge an anderen Stellen aber dann doch sehr viel einfacher – und vor allem eindeutiger – dar, als es die neurobiologische Forschung tatsächlich hergibt. Als Ratgeber will die Publikation Eindeutigkeiten erzeugen und eben nicht verunsichern, sie tut es aber auf Kosten einer verlässlichen Aufarbeitung der vorliegenden neurowissenschaftlichen und verhaltensgenetischen Befunde.

Die Diagnostik der ADHS basiert bislang ausschließlich auf Verhaltensdaten, die Ergebnisse hirnanatomischer Studien sind inkonsistent und eine gestörte Transmitterregulation kann ebenso gut das Produkt spezifischer Umwelteinflüsse wie genetischer Dispositionen sein – vermutlich ist sie das Resultat einer Interaktion. Bei Neuhaus und Drüe werden solche Sichtweisen von vornherein als unzulässige Theorien abgewiesen und daher auch nicht diskutiert; stattdessen wird gebetsmühlenartig wiederholt, dass ADHS keinesfalls eine „reaktive“, sondern, wenn man so will, „endogene“ Störung ist. Das langweilt auf die Dauer, vor allem weil es genau diese Einseitigkeit im Umgang mit ADHS ist, die die Autorinnen an anderen Darstellungen kritisieren.

Ahrbeck : Hyperaktivität

Der von Bernd Ahrbeck herausgegebene Band „Hyperaktivität. Kulturtheorie, Pädagogik, Therapie“ nimmt eine vollkommen andere Perspektive ein. Die sieben psychoanalytisch orientierten Beiträge setzen genau dort mit ihren Fragen an, wo Drüe keinen Diskussionsbedarf mehr sieht. Der Band wendet sich dezidiert gegen den „Mainstream der Hyperaktivitätsforschung“, der von einem genetisch bedingten Neurotransmittermangel als Ursache der Hyperaktivität ausgehe (13ff). Vielmehr wird eine interaktionistische Perspektive auf das Verhältnis von Erfahrung und Hirnentwicklung, wenn auch nirgends ausführlich behandelt, so doch erwähnt. Der Nachweis hirnphysiologischer Abweichungen liefere demnach keinen Beweis für die genetische Verursachung von ADHS, seien doch hirnfunktionelle Prozesse hochgradig erfahrungsgeprägt (25).

Leider arbeitet keiner der Beiträge diese Perspektive aus. Einige Autoren belassen es bei einer ausschnittartigen Darstellung psychoanalytischer Modelle, die sie mit Fallbeispielen aus der eigenen Praxis verbinden (vgl. die Beiträge von Perner und Klatterfeld). In einigen Beiträgen finden sich allerdings höchst subjektive Einlassungen über den Zustand unserer Gesellschaft im Allgemeinen und die Beziehungsdefizite moderner Menschen im Besonderen (vgl. die Beiträge von Bergmann und Benz). Immerhin bemühen sich drei Beiträge systematisch um neue Zugangsweisen. Bernd Ahrbeck stellt in seinem Beitrag „Hyperaktivität, innere Welt und kultureller Wandel“ eine Verbindung zwischen psychoanalytischen Theorien und kulturtheoretischen Überlegungen her. Insgesamt beschreibt er die ADHS-Diskussion als eine der „Rebiologisierung und Dekonfliktualisierung“. Man versuche durch vermeintlich gesicherte neurobiologische Modelle eindeutige Erklärungen anzubieten und somit eine Entlastung der Betroffenen zu schaffen (42f). Gleichzeitig verzichte eine „Gleichsetzung von Symptomatik und Störung“ auf eine theoretische Klärung der ADHS (33). Damit gehe auch eine Dekonfliktualisierung einher: Indem man nicht mehr an den lebensgeschichtlichen Entwicklungen, sondern am Symptom ansetze, vermeide man eine verstehende und zwangsläufig konflikthafte Auseinandersetzung (38). Diese Vermeidungsstrategie sei einer Kultur geschuldet, die eine „hohe psychische Funktionalität“ ihrer Subjekte erwarte (44).

Aus einer anderen Perspektive betrachtet Yvonne Brandl in ihrem Beitrag „Einmal bitte Öl wechseln und die Schaltung reparieren“ die ADHS-Debatte. Sie untersucht die Metaphorik in Ratgebern und in der Fachliteratur und zeigt auf, dass sie durch Bilder aus „Maschinentechnik, Informatik und dem Militär“ (108) geprägt sei. Nach Brandl erfüllen die technischen Metaphern in der ADHS-Diskussion diverse Funktionen. Beispielsweise werde durch das Bild einer mechanischen Störung („Festplatte“ funktioniert nicht richtig, „Speicher“ ist überlastet) der Eindruck eines gestörten Funktionsablaufes suggeriert, in den man als Eltern oder Lehrer nicht eingreifen könne. Das böte eine psychische Entlastung. Die Wissenschaft selbst sichere sich und ihre selektiven Forschungsentscheidungen durch ständig wiederholte, öffentlichkeitswirksame Metaphern ab. Der Beitrag von Alex Raffy arbeitet mit Fallbeispielen aus der klinischen Praxis. Durch eine Synthese der Fälle gelangt er zu ADHS-typischen familiendynamischen Konstellationen. In allen beschriebenen Fällen habe beispielsweise mindestens ein Elternteil unter der eigenen Kindheit gelitten und wolle dem eigenen Kind ähnliche Gefühle ersparen. Ferner gaben alle Eltern an, schlecht Grenzen setzen zu können.

In der Gesamtschau wird die Kontroverse des Themas deutlich: Die Beiträge des Sammelbandes kritisieren, was Drüe für einen Durchbruch in der Debatte hielte. Ihr geht es um die Anerkennung von ADHS als einer genetisch bedingten Störung, für die weder Eltern noch Erzieher oder Lehrer verantwortlich seien. Ahrbeck et al. sehen genau hierin das Problem: Ein medizinisches Erklärungsmodell, das mit der Forderung nach Medikation einhergehe, verhindere einen verstehenden Zugang zu den problematischen, aber möglicherweise lebensgeschichtlich „plausiblen“ Verhaltensweisen hyperaktiver Kinder. Die Pädagogik taucht in Ahrbecks Band zwar im Untertitel auf, doch keiner der Autoren geht dezidiert auf sie ein; lediglich bei Ahrbeck selbst tritt sie am Rande als entmachtete Profession auf, die den Herausforderungen durch hyperaktive Kinder nicht gewachsen ist.

Stiehler: Konzentrationserziehung statt AD(H)S-Therapie

Im Gegensatz zu den anderen drei Publikationen bemüht sich Miriam Stiehler in ihrem Buch „Konzentrationserziehung statt AD(H)S-Therapie. Ein Modell nach Paul Moor“ um eine pädagogische Perspektive. Indem sie biologisch-medizinische Sichtweisen kritisiert und das Konzentrationstraining des Heilpädagogen Paul Moor dagegensetzt, möchte sie eine Alternative zu den bisher dominierenden verhaltenstherapeutischen und medikamentösen Behandlungsansätzen schaffen. Das Buch gliedert sich in fünf Abschnitte mit vielen Unterkapiteln. In der Einleitung stellt Stiehler ihre Position klar heraus: Die Medikalisierung resultiere aus einer „Umdefinierung sozialer, pädagogischer und moralischer Probleme (mit möglichen physischen Folgeschäden) zu originär physischen und/oder psychiatrischen Krankheiten“ (9). Außerdem wird eine wichtige Unterscheidung eingeführt: Stiehler differenziert zwischen Aufmerksamkeit, als einer ,gegebenen Größe’ und Konzentration, die erst ,erzieherisch aufgebaut’ werden müsse (10f). An dieser Stelle setzt der später vorgestellte Ansatz Moors an.

Im zweiten Abschnitt skizziert die Autorin den „Ursprung und die Entwicklung der Medikalisierung“. Sie geht kurz auf „Theorien über die körperliche Ursache für ADHS“ (18ff) ein und stellt einige Daten zur Verschreibung von Psychopharmaka vor (22). Anschließend soll die historische Entwicklung der ADHS-Diskussion dargestellt werden. Dieser Abschnitt ist problematisch. Stiehler beginnt im Jahre 1844 und teilt die Zeit bis zum zweiten Weltkrieg in verschiedene Phasen ein, in denen unruhige Kinder mit jeweils „zeittypischen“ Deutungen und Therapien versehen wurden (27ff). Zunächst zeigt sie, wie sich die Konzeptualisierung von Konzentration bzw. kindlicher Unruhe einerseits im Laufe der Jahrzehnte verändert hat, andererseits jedoch konstitutionelle und soziale Erklärungsansätze schon immer existierten und konkurrierten.

Ab 1930 verlagert die Autorin plötzlich ihren Blick auf die USA. Ihre Begründung hierfür ist wenig überzeugend: Das Dritte Reich habe in Deutschland eine Forschungslücke aufgeworfen, während in den USA erste Versuche mit Medikamenten durchgeführt und sich eine biologische Sichtweise durchgesetzt habe, die dann in Deutschland später rezipiert worden sei (37ff). Als forschungsorientiert kann man aber auch das Vorangestellte nicht bezeichnen; denn es bleibt bei den zitierten Autoren bei medizinischen Beschreibungen und möglichen Interpretationen von Symptomen. Und wenn es um die Frage der Biologisierung sozialer Probleme geht, ergibt es wenig Sinn, ausgerechnet die pädagogische Diskussion während der NS-Zeit auszublenden: Eine Biologisierung pädagogischer Probleme ließe sich, ausgehend von der Grenzendiskussion in den 1920er Jahren, hier zweifelsohne aufzeigen.

Das Kapitel leidet, wie viele andere Abschnitte des Buches, vor allem an der Literaturauswahl: Stiehler zitiert fast ausschließlich aus zweiter Hand, über weite Strecken bezieht sie sich auf eine Publikation von Schrag & Divorky (1975), die eine Fokussierung auf die US-amerikanische Debatte selbstredend nahe legt. Für die Zeit ab 1975 wechselt Stiehler dann auch noch ihr Vergleichskriterium, plötzlich geht es nicht mehr um die Konzeptualisierung von Hyperaktivität, sondern um den wachsenden Einfluss von Elternverbänden und gesamtgesellschaftliche Verunsicherungstendenzen (44ff). Der Abschnitt endet mit einem Vergleich von politischen Standpunkten und rechtlichen Regelungen in der ADHS-Debatte (52ff). Im Folgenden widmet sich Stiehler der „ADHS-Darstellung gegenüber Eltern und Pädagogen“ (57ff). Sie arbeitet heraus, dass sowohl in Ratgebern als auch in Materialien von Selbsthilfegruppen „oft schwer zu erkennen [sei, NB], wo die Aufklärung endet und das Marketing beginnt“ (57). Die Autorin untersucht anschließend drei ADHS-Ratgeber auf deren Erklärungsmuster und Empfehlungen. Die Auswahlkriterien werden nicht genannt, aber es scheint sich bei allen drei Ratgebern um vergleichsweise populäre Bücher zu handeln. Eines macht einen Mangel an „Gehirnfettsäuren“ für die ADHS verantwortlich und empfiehlt eine neue Sorte Lebertran zum Ausgleich (61f), in den anderen beiden wird eine biologische Sichtweise vertreten und eine maßgebliche Bedeutung erzieherischer Einflüsse zurückgewiesen. Interessanter wäre sicherlich der Vergleich zwischen biologisch und sozial „argumentierenden“ Autoren bzw. Ratgebern gewesen; wie wir von Drüe wissen, gibt es auch letztere.

Anschließend werden unseriöse und seriöse kritische Sichtweisen zur Medikation dargestellt. Bei der seriösen Kritik bezieht sich Stiehler auf vier Autoren, die ihre Kritik aus unterschiedlichen Perspektiven vortragen; vertreten sind hierbei psychiatrisch/medizinische Einwände ebenso wie sozialpsychologische und soziologische (66ff). Die verschiedenen Perspektiven werden dabei nachvollziehbar miteinander verglichen. In weiteren Unterkapiteln wird auf die Rolle der Schule (häufig sind es LehrerInnen, die den ersten ADHS-Verdacht äußern) (71ff) sowie auf Trends und schwere Nebenwirkungen der Pharmakotherapie eingegangen; bedauerlich ist allerdings, dass die Autorin ausgerechnet über Methylphenidat nichts sagt, obwohl es die am häufigsten verschriebene Substanz darstellt (76ff).

Im dritten Abschnitt der Publikation werden zunächst die anthropologischen und erziehungstheoretischen Ausgangsüberlegungen Pauls Moors dargestellt (85ff). Die Überlegungen Moors hält Stiehler für besonders wertvoll, da er zwischen Aufmerksamkeit und Konzentration unterschieden habe und vor diesem Hintergrund Teile seiner Pädagogik entwickelt habe. Die Erklärungen für die Probleme von unkonzentrierten Kindern klingen durchaus plausibel (94ff), ebenso die Überlegungen zur „Haltung des Erziehers“ (97ff). Neu ist das alles zwar nicht, und doch erscheint die Grundüberlegung gerade im Hinblick auf die ADHS-Debatte wichtig: Nicht „Was kann man dagegen tun?“ müsse im Zentrum der Erziehung stehen, sondern „Wie müssen wir sein?“. Stiehler wird in den folgenden Kapiteln nicht müde, immer wieder zu betonen, dass gerade der Trend zur Medikalisierung diese Perspektive ausschließe, weil sie einem verstehenden Zugang entgegenstehe. Im folgenden Abschnitt „Die Unvereinbarkeit von Innerem Halt und Medikalisierung“ (122ff) kritisiert Stiehler noch einmal ausführlich die Entlastung, die mit einer Biologisierung einhergehe und zeigt Schwächen der bonusbasierten Verhaltenstherapie auf (208f). Schwierig ist in diesem Abschnitt vor allem der ständige Rekurs auf einige Ratgeber, die hier nun plötzlich genutzt werden, als würden sie den Status Quo in der ADHS-Debatte repräsentieren. Auch die unvermittelt auftauchenden Erfahrungsberichte der Autorin (135, 140ff) wirken in diesem Kapitel fehl am Platze.

An die verschiedenen Erziehungsstufen nach Paul Moor, die am Ende des Abschnitts aufgezeigt werden, schließt auch der letzte Teil der Publikation - „ADHS als Folge ungelöster Erziehungsaufgaben“ - an. Zunächst vergleicht die Autorin hier die Darstellung von Symptomen im DSM-IV und bei Moor und arbeitet eine hohe Übereinstimmung heraus. Anschließend stellt sie ihr eigens konzipiertes Seminar- und Beratungsangebot vor (271ff). Anhand zweier ausführlicher Fallbeispiele möchte Stiehler zeigen, „dass Interpretationen auf Basis des vorgestellten pädagogischen Modells [Paul Moors, NB] von Unkonzentriertheit möglich und hilfreich sind“ und illustrieren, „wie Elternberatung und Erziehung nach dem hier vorgestellten Konzept gestaltet werden“ (281) können. Mit der grundsätzlichen Kritik an medizinischen Erklärungsmodellen weisen Stiehlers Argumente an einigen Stellen Parallelen zu den Beiträgen im Band von Ahrbeck auf. Und doch vertritt sie mit dem Rekurs auf Moor eine pädagogische und eben nicht psychoanalytische Sichtweise und das ist an dem Buch positiv hervorzuheben, denn damit sie ist die Einzige, die sich um einen pädagogischen Zugang bemüht.

Kritikwürdig ist dabei jedoch, dass die Autorin die zugegebenermaßen wenigen, aber durchaus vorhandenen erziehungswissenschaftlichen Publikationen zum Thema nicht wahrnimmt. Insbesondere zur Geschichte der ADHS und den medizinischen Erklärungsmodellen hätten sich hier Beiträge einbinden lassen, die der Darstellung gut getan hätten. Formal macht die Publikation stellenweise einen schlecht redigierten Eindruck, neben der uneinheitlichen Belegweise im Text fällt vor allem das ungeordnete Literaturverzeichnis auf; mal werden Autoren nach Vor-, mal nach Nachnamen aufgeführt, mal sind diese abgekürzt, mal ausgeschrieben.

Es ist in der Gesamtschau auch schade, dass Stiehler bei der Darstellung des Moorschen Ansatzes und ihrer eigenen Überlegungen und Erfahrungen nicht systematischer und präziser verfährt. Systematischer hätte die Darstellung ausfallen können, indem etwa zunächst die Ansätze jeweils gesondert beschrieben und anschließend einer Synthese zugeführt worden wären, präziser wäre das Ganze geworden, wenn Stiehler die eingangs vorgestellten Thesen Schritt für Schritt entfaltet hätte, statt hier und dort und immer wieder einmal auf sie zurückzukommen.

Insgesamt zeigen die vier Bände, was für die erziehungswissenschaftliche ADHS-Diskussion typisch ist: Die sieht nämlich so aus, dass man sich entweder auf die Seite der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit Hang zur Verhaltenstherapie schlägt (Drüe und Neuhaus) oder aber deren Erklärungs- und Behandlungsansätze rundweg ablehnt und mit eigenen Ansätzen oder mindestens Überlegungen dagegenhält (Ahrbeck und Stiehler). Sachlich und umfassend informiert fühlt man sich nach der Lektüre nicht; denn eine solide, disziplinübergreifende Aufarbeitung des Forschungsstandes fehlt ebenso wie ein sachlicher Blick auf wiederkehrende, in der Diskussion hervorgebrachte Argumente. Insofern verweisen die vier Publikationen darauf, dass das Thema ADHS, obgleich praktisch von großer Bedeutung, in der erziehungswissenschaftlichen Forschung und Theoriebildung bislang quasi keine Rolle spielt.
Nicole Becker (TĂĽbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nicole Becker: Rezension von: DrĂĽe, Gerhild: ADHS kontrovers, Betroffene Familien im Blickfeld von Fachwelt und Ă–ffentlichkeit. Stuttgart: Kohlhammer 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 5 (Veröffentlicht am 09.10.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317019086.html