EWR 21 (2022), Nr. 1 (Januar)

Tom Holert
Bildungsschock
Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren
Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2020
(303 S.; ISBN 978-3-11-070126-5; 28,00 EUR)
Bildungsschock Am 4. Oktober 1957 brachte die sowjetische Raumfahrt den Erdsatelliten „Sputnik“ in die Erdumlaufbahn. Der „Sputnik-Schock“ gilt bis heute als Wendepunkt des Bil-dungssektors auf globaler Ebene. Er provozierte Maßnahmen fĂŒr die Modernisie-rung und Ausweitung von Bildungsangeboten und Wissensproduktion. Bildung galt fortan als entscheidende Ressource fĂŒr die Zukunftsgestaltung einer Gesell-schaft. Reformdruck entstand dabei nicht nur auf pĂ€dagogischer, sondern auch auf architektonischer Ebene. Damit beschĂ€ftigt sich das von dem Kunsthistoriker Tom Holert kuratierte Projekt „Bildungsschock“, das von Mai bis Juli 2021 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin ausgestellt wurde. Wissenschaftler:innen, KĂŒnst-ler:innen und Architekt:innen dokumentierten die global auftretenden pĂ€dagogi-schen, politischen und architektonischen Innovationen, Reformen und Experimen-te der 1960er- und 1970er-Jahren unter BerĂŒcksichtigung der geopolitischen Kon-texte des Kalten Krieges, der Entkolonialisierung, der sozialen Bewegung und der Transformation von einer Industrie- zu einer Wissensgesellschaft. Dabei wurden nicht nur die Ergebnisse von Forschungsreisen und Archivrecherchen in Form von Fallstudien und kĂŒnstlerischen Arbeiten ausgestellt, sondern auch alternative For-men des Umgangs mit den Exponaten durch Workshops oder Befragungen erprobt [1].

Der Sammelband ist einerseits als ErgĂ€nzung und Vertiefung der Ausstellung so-wie andererseits als eigenstĂ€ndige und weiterfĂŒhrende Publikation einzuordnen. Angestrebt wird eine engere Vernetzung pĂ€dagogischer, architektonischer und stadtplanerischer Diskurse, wobei vor allem die Rolle des Raums in Bildungspraxis und -theorie akzentuiert wird. Im Zentrum stehen Praktiken und Politiken des Raums sowie die Verwendung der LernrĂ€ume durch ihre Benutzer:innen. Damit schließt das Projekt an den „spatial turn“ der Bildungsforschung an. Anhand ver-schiedener Experimente im architektonischen Bereich der Schule sowie im urba-nen Raum werden die politischen Dynamiken von Bildung und Raum untersucht, die eine entscheidende Rolle fĂŒr die Gestaltung von ZukĂŒnften und Gesellschaften spielten. Aus globaler Perspektive wird gefragt, inwiefern sich das Primat der Bil-dung in den 1960er- und 1970er-Jahren politisch und rĂ€umlich manifestierte und welche Theorien und Programme den geplanten neuen Lernumgebungen zugrun-de lagen. Zudem wird untersucht, wie sich die Politik der Bildung zur Politik des Raums verhielt und wie die rĂ€umliche Dimension umkĂ€mpfter Begriffe wie Segrega-tion, Integration oder Partizipation politisch ausgespielt und verhandelt wurde.

Neben der Einleitung enthĂ€lt der Band 24 BeitrĂ€ge, die diverse Forschungsergeb-nisse und kĂŒnstlerische Arbeiten zu den Themen Schul- und UniversitĂ€tsarchitek-tur, Schulversuche, neue Lernformen oder außerschulische Lernorte vorstellen. ErgĂ€nzt werden diese durch 13 Quellentexte. In einem einfĂŒhrenden Beitrag gibt Tom Holert zunĂ€chst einen breit gefĂ€cherten Überblick ĂŒber die wĂ€hrend der „Bil-dungsexpansion“ angestoßenen politischen, pĂ€dagogischen und rĂ€umlichen Ent-wicklungen sowie deren ZusammenhĂ€nge. Dabei zeichnet er den Wandel von der Reformeuphorie zu Beginn der 1960er-Jahre zu einer Stagnation der Reformpro-zesse zum Ende der 1970er-Jahre nach. Schlaglichtartig werden die zentralen For-derungen der Zeit nach Chancengerechtigkeit, Desegregation, Partizipation, In-tegration und Emanzipation sowie das Streben nach einer „Wissenschaftsorientie-rung der Bildung“ als Voraussetzung fĂŒr eine moderne „Leistungsgesellschaft“ be-leuchtet (48). Mit Blick auf die rĂ€umliche Gestaltung von Schule wird unter anderem die Hinwendung zur „Offenheit“ von SchulgebĂ€uden erlĂ€utert, die fortan als „Lern-orte“ oder „Lernumwelt“ bezeichnet wurden (45). Holert greift außerdem die Schat-tenseiten der westlichen Reformpolitik in den 1960er- und 1970er-Jahren auf, wenn er auf die Missachtung des Zusammenhangs von Schule und Wohnen und die damit verbundene Ausgrenzung benachteiligter Gruppen verweist.

Es folgen BeitrĂ€ge, die sich mit nationalen und internationalen ReformansĂ€tzen wĂ€hrend der 1960er- und 1970er-Jahre beschĂ€ftigen. Gregor Harbusch diskutiert etwa die 1971 entstandenen EntwĂŒrfe des Architekten Ludwig Leos fĂŒr die Labor-schule in Bielefeld als „kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Pra-xis hochtechnisierter Schulbauten“ (98). Vor allem die Neuauslegung der Idee der Großraumschule mit ihren flexiblen Wandsystemen beeinflusste das VerhĂ€ltnis von Architektur und Technik sowie PĂ€dagogik und Mensch und sei bis heute in der Praxis der Bielefelder Schule erkennbar.

Mit Blick auf Ostdeutschland untersucht zum Beispiel Dina Dorothea Falbe die ver-schiedenen Varianten des DDR-Typenschulbaus der 1960er- und 1970er-Jahre. Falbe erlĂ€utert die seit 1959 durch den Architekten Heinz PrĂ€ĂŸler initiierten BemĂŒ-hungen, eine republikweite Verbindlichkeit von Typenprojekten mit Ă€hnlichen Grö-ßen, Grundrissen und einer deutlich reduzierten Gestaltung zu erreichen. Im Laufe der 1960er-Jahre sei es zwar gelungen, zentral verbindliche Typenbauprojekte wie die „Schulbaureihe 66“ einzufĂŒhren. Die voneinander abweichenden bezirklichen Produktionsbedingungen fĂŒhrten jedoch zu vielfĂ€ltigen Abwandlungen der rĂ€umli-chen Strukturen.

Aus internationaler Perspektive untersucht etwa Catherine Burke die Konzepte des britischen PĂ€dagogen und Schriftstellers Colin Ward, die von einer Mitgestaltung der lokalen Umgebungen durch die freie Erkundung und Interpretation von Kindern ausgingen. Im Fokus stand dabei das Lernen außerhalb des SchulgebĂ€udes. Burke verdeutlicht in ihrem Beitrag, dass sich die Idee der Stadt als eigentlicher Schule, in der ein Lernen durch Bewegung oder eine „beilĂ€ufige Erziehung“ (76) stattfindet, aufgrund ihrer RadikalitĂ€t nicht langfristig umsetzen ließ. Dennoch seien Wards AnsĂ€tze weiterhin relevant, wenn es um das Nachdenken ĂŒber abweichende Bil-dungserfahrungen geht.

Die beigefĂŒgten Quellentexte ermöglichen zusĂ€tzliche vertiefende Einblicke in die globale Reformeuphorie der 1960er- und 1970er-Jahre. Unter anderem verweist ein Aufsatz des Architekten Lothar Juckel aus dem Jahr 1967 auf die Potenziale der zu dieser Zeit bereits realisierten Reformen und Modernisierungen sowie der neuen Organisationsformen des Schullebens. Ein Aufsatz der Architektin Marie-Christine Gangneux aus dem Jahr 1976 setzt ĂŒberdies die Beziehungen zwischen Universi-tĂ€t und Stadt, Bildung und RegionalitĂ€t sowie BĂŒrger:innen und Studierenden in ein neuartiges VerhĂ€ltnis.

Mit dem Sammelband zum Projekt „Bildungsschock“ werden interessante und viel-fĂ€ltige Einblicke in die Verflechtung pĂ€dagogischer, stadtplanerischer und architek-tonischer Diskurse wĂ€hrend der „Bildungsexpansion“ in den 1960er- und 1970er-Jahre gewĂ€hrt. Die Kombination wissenschaftlicher, kĂŒnstlerischer und architekto-nischer BeitrĂ€ge demonstriert nicht nur das Potenzial interdisziplinĂ€rer Kooperation, sondern hĂ€lt außerdem AnknĂŒpfungspunkte fĂŒr weiterfĂŒhrende Forschungen be-reit. Besonders die zahlreichen BezĂŒge zwischen den Reformvorhaben der 1960er- und 1970er-Jahre und den gegenwĂ€rtigen bildungspolitischen und -planerischen Debatten, etwa im Bereich der Inklusion, untermauern dabei die Relevanz des the-matischen und methodischen Zugriffs. Die reichliche und anschauliche Illustration erleichtert zum einen das LeseverstĂ€ndnis und hebt zum anderen den ursprĂŒngli-chen Ausstellungscharakter des Projekts hervor. Zu bemĂ€ngeln ist die teils unent-schieden wirkende Struktur des Bandes. Die Anordnung der vergleichsweise vielen BeitrĂ€ge und Quellentexte lĂ€sst kein festgelegtes Schema erkennen. Zwar werden vereinzelt BezĂŒge zwischen den ForschungsbeitrĂ€gen oder Quellentexten herge-stellt, einen globalen Überblick ĂŒber die politischen und rĂ€umlichen Manifestatio-nen sowie deren Dynamik in den 1960er- und 1970er-Jahren zu erlangen, ist je-doch nur schwer möglich. An dieser Stelle wĂ€ren eine chronologische oder nach LĂ€ndern geordnete Strukturierung sowie eine genauere BegrĂŒndung der gewĂ€hlten Struktur durch BezĂŒge zur Ausstellung hilfreich gewesen. Dennoch handelt es sich bei dem Band um eine spannende LektĂŒre, die nicht nur die AtmosphĂ€re von Zu-kunftsoptimismus und Reformeuphorie in den 1960er- und 1970er-Jahren andeu-tet. Auch mit Blick auf die gegenwĂ€rtigen, durch die Corona-Pandemie offenbarten MissstĂ€nde und VerĂ€nderungsbedarfe an deutschen Schulen regt der Band zum Nachdenken ĂŒber neue Lernumgebungen und -formen an.

[1] Vgl. Haus der Kulturen der Welt: Bildungsschock. Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren. Online abrufbar unter: URL: https://www.hkw.de/de/programm/projekte/2021/bildungsschock/bildungsschock_start.php [Abrufdatum 29.12.2021].
Dana Maria Kier (Essen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dana Maria Kier: Rezension von: Holert, Tom: Bildungsschock, Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2020. In: EWR 21 (2022), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.01.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978311070126.html