Historische Phänomene werden seit einiger Zeit und mit beträchtlichem Erkenntnisgewinn aus der Perspektive der Ränder und Peripherien erkundet. In diese Forschungsströmung schreibt sich Machteld Venken, Professorin für transnationale Zeitgeschichte an der Universität Luxembourg, mit ihrer 2018 an der Universität Wien angenommenen und für den Druck überarbeiteten Habilitationsschrift ein. Sie unternimmt einen symmetrischen Vergleich des schulischen Sprachunterrichts in zwei ehemals zum Deutschen Reich gehörigen Grenzgebieten nach dem Ersten Weltkrieg: im Gebiet von Eupen, Sankt Vith und Malmedy, das 1919 an Belgien kam, und im östlichen Oberschlesien, das 1921 Polen zugesprochen wurde. Zum Vergleich tritt die Berücksichtigung von Transfer und Transnationalität: Verbindendes Element war demnach für beide Grenzgebiete die gemeinsame Vergangenheit im Deutschen Reich, für dessen Bildungswesen Venken die frühe Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht und die Bedeutung der Reformpädagogik hervorhebt.
Die Einleitung benennt drei zentrale Motive der Untersuchung: Grenzen, Sprachen und Kinder. Im Einklang mit der neueren raumtheoretischen Forschung sieht Venken Grenzen vor allem durch Praktiken und Vorstellungen vor Ort konstituiert und wirbt für ein „processual understanding of borders“ (31). Sprache als Bestimmungsfaktor für eine ethnisch gefasste nationale Zugehörigkeit unterliege denselben Imaginationsmechanismen wie die Nation selbst und führe zu einer „historical contingency of language learning“ (30). Die Ausführungen zu Kindern sind konzeptionell weniger innovativ und stark mit Schulpolitik verknüpft.
Die Studie ist in ihrer Fragestellung genuin geschichtswissenschaftlich und kommt abgesehen von einzelnen Werken zur Bildungsgeschichte ohne erziehungswissenschaftliche Fachliteratur aus. Für die Quellengrundlage hat Venken rund ein Dutzend Archive in Deutschland, Polen und Belgien genutzt; weitere Quellen sind zeitgenössische Zeitungen, Schulbücher, Berichte, Statistiken, wissenschaftliche Studien und Erinnerungen. Dabei spricht sie offensiv ein methodisches Dilemma an: Während die Childhood Studies zunehmend zur Anforderung erheben, die Eigenperspektive von Kindern und Jugendlichen abzubilden, erweist sich die für die historische Praxis nötige Quellenrecherche oft als recht unergiebig.
Nachdem sich das erste Kapitel der Zeit des Ersten Weltkriegs in beiden Grenzgebieten widmet, kommt Venken im zweiten Kapitel ausführlich auf die Methodik des Vergleichs zu sprechen, wie es in der Einleitung zu erwarten gewesen wäre. Der Vergleich zieht sich über drei Analyseebenen: Grenzen und Territorialität, Machtbeziehungen und Loyalitäten sowie Mikrogeschichte im Mehrebenensystem. Bei den theoretischen Anleihen lässt Venken insbesondere den Geografen Claude Raffestin und den Politologen Mark Haugaard zu Wort kommen.
Das dritte, wieder aufgebaute chronologische Kapitel reicht bis Mitte der 1920er Jahre. Das bislang einsprachige deutsche Schulwesen wurde in den neuen Grenzregionen umgebaut, wobei die sprachliche Trennung der Kinder in jeweils eigene Schulen in Belgien zunächst stärker forciert wurde als in Oberschlesien. Pointiert beurteilt Venken das Wirken des Gouverneurs für die belgischen Grenzgebiete, Hermann Baltia, als quasi-koloniales Regiment, das aber die liberale belgische Verfassung zu achten hatte. In der Schulpolitik manifestierte sich dies über eine Einteilung in Sprachzonen, die das Elternwahlrecht für die Schulbildung ihrer Kinder überlagerte. Dagegen sei die Entwicklung in Oberschlesien deutlich stärker von den Schutzbestimmungen des Völkerbundes und der 1922 eigens für die Region verabschiedeten Genfer Konvention bestimmt gewesen, die internationale Appellationsinstanzen für die schulischen Belange der deutschen Minderheit schufen.
Im vierten Kapitel zeigt Venken, wie die anfänglichen Konzepte in den Mühen der praktischen Umsetzung aufgerieben wurden. Eupen, Sankt Vith und Malmedy wurden 1925 in die Provinz Lüttich integriert, das Interesse an den deutschen Schulen ließ nach, auch weil sich die Haltung festsetzte, dass mit der deutschen Sprache in Belgien geringere Aussichten auf sozialen Aufstieg bestünden. In Oberschlesien kam es trotz der Genfer Konvention zur Schließung deutscher öffentlicher Schulen, wobei eine kleinliche behördliche Vorgehensweise bei Elternwahl oder Sprachtests viele praktische Hürden unterhalb der Ebene des formal bestehenden Rechts auf den Besuch deutschsprachiger Schulen schuf. In beiden Ländern habe sich der Mangel an deutschsprachigen Lehrkräften und die Zirkulation von deutschen nationalistischen Schulbüchern mit veralteten Lehrmethoden nachteilig ausgewirkt.
Das fünfte Kapitel setzt mit den Schulreformen der frühen 1930er Jahre in beiden Ländern ein, die eine weitere Entfernung von den deutschen Traditionsüberhängen im Schulwesen bedeuteten. Noch stärker wirkten außenpolitische Spannungen: Mit dem Auslaufen der Genfer Konvention 1937 konnte deutschsprachiger Schulunterricht in Oberschlesien nicht mehr international eingeklagt werden, während in Belgien das Gebiet von Eupen, Sankt Vith und Malmedy zur Verhandlungsmasse für die äußere Sicherheit geriet. Einen wichtigen Punkt hat Venken sicherlich, wenn sie dafür wirbt, Grenzgebiete nicht nur als Problem, sondern auch als „Ressource“ (60, 158) zu sehen.
Hierzu zählt sie insbesondere in Polen die Aufbrüche zur Reformpädagogik; während sich demgegenüber in Belgien entsprechende Impulse durch die stärkere Rolle der katholischen Kirche im Schulwesen der Grenzgebiete weniger ausgewirkt hätten.
An dieser Stelle zeigt sich ein Manko der Arbeit. Sie bietet eine umfassende (politik-)historische Kontextualisierung des Untersuchungsgegenstandes, was sicherlich nötig ist, da es kaum Forschende geben dürfte, die die Verhältnisse in Belgien und Polen gleichermaßen profund überblicken wie Venken. Die Darlegung des empirischen Materials ist jedoch recht knappgehalten. Schwierig ist dies bei solch weitreichenden Einschätzungen wie derjenigen, dass Polnisch-Oberschlesien ein „transnationales Laboratorium“ der Reformpädagogik (188, 202) dargestellt hätte. Dieser Befund wird auf einige wenige zeitgenössische soziologische Essays, Fragebögen, Schreibwettbewerbe und Kinderbücher gestützt, die Venken zum Teil sogar selbst als eher traditionalistisch im Ansatz charakterisiert. Dezidiert reformpädagogische Programmschriften oder gar Schulgründungen gab es nicht.
Um die These von einem „transnationalen Laboratorium“ zu belegen und abzusichern, wären ein stärker quellengestütztes Ausgreifen auf Praktiken in den Schulen vor Ort und eine differenziert einordnende Wissensgeschichte der Pädagogik nötig gewesen – zumal da punktuell interessante Direktverbindungen zwischen Belgien und Polen, etwa durch das Studium polnischer Pädagoginnen wie Maria Librachowa oder Józefa Joteyko in Brüssel, aufleuchten.
Zusammenfassend hebt Venken hervor, dass die Schulen in den Grenzgebieten stark von internationalen und transnationalen Einflüssen abhängig gewesen seien und die Kinder dies unmittelbar lebensweltlich erfahren hätten. Mit Blick auf das Schulwesen in den Grenzgebieten Europas der Zwischenkriegszeit kommt sie zu dem Befund, dass trotz aller Unterschiede zwischen Polen und Belgien beide Länder auf einer Skala zwischen weitreichender Autonomie für das deutsche Schulwesen (Estland, Dänemark und Tschechoslowakei) und dessen nahezu völligem Verbot (Südtirol und Elsass) in einem mittleren Bereich einzuordnen seien. Damit entwirft Venken ein differenziertes Bild, das dazu mahnt, heutige Vorstellungen über West- und Osteuropa nicht zurück zu projizieren.
Die Studie bietet trotz der kritischen Anmerkung zur Quellenarbeit einen konzisen Vergleich zum Schulunterricht in zwei europäischen Grenzgebieten nach dem Ersten Weltkrieg, argumentiert auf der Höhe des historischen Forschungsstandes und hält bedenkenswerte theoretische Überlegungen zu Grenzen, Territorialität, Loyalität und ihren mikrogeschichtlichen Auswirkungen bereit.
EWR 21 (2022), Nr. 1 (Januar)
Peripheries at the Centre
Borderland Schooling in Interwar Europe
(Studies in Contemporary European History, vol. 27)
(Studies in Contemporary European History, vol. 27)
New York /Oxford: Berghahn 2021
(265 S.; ISBN 978-1-78920-967-9; 123,15 EUR)
Stephanie Zloch (Dresden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Stephanie Zloch: Rezension von: Venken, Machteld: Peripheries at the Centre, Borderland Schooling in Interwar Europe (Studies in Contemporary European History, vol. 27). New York /Oxford: Berghahn 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.01.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978178920967.html
Stephanie Zloch: Rezension von: Venken, Machteld: Peripheries at the Centre, Borderland Schooling in Interwar Europe (Studies in Contemporary European History, vol. 27). New York /Oxford: Berghahn 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.01.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978178920967.html