EWR 14 (2015), Nr. 3 (Mai/Juni)

Max van Manen
Phenomenology of Practice
Meaning-Giving Methods in Phenomenological Research and Writing
Walnut Creek, CA: Left Coast Press 2014
(412 S.; ISBN 978-1-6113-2944-5; 32,95 EUR)
Phenomenology of Practice Das fast vierhundertseitige Werk kann als Gesamtertrag der ĂŒber vier Jahrzehnte dauernden vielfĂ€ltigen Forschungs- und LehraktivitĂ€ten von Max van Manen gewĂŒrdigt werden. Van Manens Forschungsinteresse lag und liegt darin, europĂ€ische, insbesondere geistes- und humanwissenschaftliche Forschungstraditionen der PĂ€dagogik in den anglo-amerikanischen Diskurs einzubringen.

FĂŒr van Manen ist PhĂ€nomenologie eine Quelle, um ĂŒber den Sinn des Lebens, ĂŒber persönliche Verantwortung im Handeln und Entscheiden zu befinden. Sie zeigt sich auch als ethische Haltung, stĂ€rkt die Subjekte und kĂ€mpft gegen ungeprĂŒfte Annahmen, persönliche, kulturelle und soziale Vorurteile und objektivistische Theorien. Sie klammert wissenschaftliche Konstruktionen, Ontologien, Vernunftkonzepte ein und plĂ€diert fĂŒr den Primat der Praxis, der vortheoretischen und lebensweltlichen Erfahrungen gegenĂŒber theoretischen Abstraktionen und alltagsweltlichen Weltansichten.

„Phenomenology of Practice“ ist, so van Manen im ersten Kapitel seines Buches, eine EinfĂŒhrung in das Projekt „Doing phenomenology“ (23).

Die 14 Hauptkapitel von „Phenomenology and Practice“ behandeln zentrale Themen phĂ€nomenologischer Forschung: einer EinfĂŒhrung in das philosophische VerstĂ€ndnis von PhĂ€nomenologie als Methode, Forschungshaltung und Gegenstand (Kapitel zwei) folgen in den Kapiteln 3–7 knappe Darstellungen einer Auswahl von Vertretern des fĂŒr die PhĂ€nomenologie wichtig gewordenen philosophischen Denkens wie Descartes, Kant, Hegel, Nietzsche (Kapitel: „Openings“), der GrĂŒnder und Vertreter unterschiedlicher HauptstrĂ€nge phĂ€nomenologischer Philosophie (Husserl, Scheler, Stein, Heidegger, Patoĉa) (Kapitel 4; „Beginnings“), unterschiedlicher gegenstĂ€ndlicher und systematischer Ausrichtungen der PhĂ€nomenologie (Gadamer, Alfred SchĂŒtz, Arendt) und sich darauf beziehender französischer Philosophen, deren Hauptwerke ins Englische ĂŒbersetzt worden sind, u. a. LĂ©vinas, Sartre, Merleau-Ponty, Ricoeur, de Beauvoir, Blanchot, Bachelard, Henry, Derrida (Kapitel 5; „Strands and Tradition“).

Das Kapitel sechs „New Thoughts and Unthoughts“ stellt zeitgenössische phĂ€nomenologische und postphĂ€nomenologische Denker samt ihrer besonderen Schwerpunktsetzung vor (vgl. u. a. Nancy, Marion, Figal, Dreyfus). Sie sind meines Erachtens fĂŒr van Manens eigene phĂ€nomenologische Auffassung und Forschung eher peripher.

Im siebenten Kapitel „Phenomenology and the Professions“ skizziert van Manen Hauptvertreter der Utrechter Schule in ihren speziellen Fachgebieten, dann die amerikanische psychologische Richtung an der Duquesne UniversitĂ€t in Pittsburgh (Giorgi, Moustakas) und schließlich unter dem Titel „Phenomenology and Pedagogy“ seine eigene Forschungsausrichtung.

Die Kapitel 8–11 bilden den systematisch-methodischen und methodologischen Schwerpunkt des Buches. Hier diskutiert van Manen sehr differenziert und angereichert mit vielen ergiebigen und anschaulichen Beispielen aus der phĂ€nomenologischen Forschungsliteratur wesentliche inhaltliche und methodische Merkmale phĂ€nomenologischer Forschungen. Nach der Erörterung des Wahrheitsgehalts und den Verifikationsmöglichkeiten phĂ€nomenologischer Erkenntnisse in Abgrenzung von traditionellen Validierungskriterien empirisch-qualitativer Forschungen (Kapitel zwölf; „Issues of Logic“) widmet sich der Autor ausfĂŒhrlich dem Schreiben und Verfassen von phĂ€nomenologischen Texten (Kapitel 13; „Phenomenological Writing“ und Kapitel 14; „Draft Writing“). Wie wichtig ihm diese beiden Kapitel sind, kommt in der These zum Ausdruck, dass phĂ€nomenologische Forschung wesentlich auch als Schreiben, als sprachliche Arbeit an den PhĂ€nomenen zu verstehen sei (363ff).

„The phenomenological pathos is the loving project of bringing all the living of life to meaningful expression through the imageries and languages of phenomenological writing, composing, and expressing” (17). Die PhĂ€nomenologie ist vom Pathos der Suche nach den ursprĂŒnglichen Geheimnissen des Sinns der Welt beseelt. Das geschieht mit den Mitteln der Sinnsuche und Reflexion in den Bereichen der empfundenen und erlebten Welt der Dinge, der Anderen und des Selbst. Als „hermeneutic or interpretative – descriptive phenomenology“ (26) thematisiert die Forschung die FĂŒlle unserer Erfahrungs- und LebensvollzĂŒge in ihren sinnlich-leiblichen und sozialen wie auch Ă€sthetischen Gestalten und vorreflexiven oder vorprĂ€dikativen Dimensionen. In ihnen artikulieren sich mehr oder weniger deutlich konkret erfahrbare existentielle Sinnstrukturen in ihrer KomplexitĂ€t. Da wir uns immer schon in einem Dickicht von vorwissenschaftlichen, nichtwissenschaftlich-alltĂ€glichen und auch wissenschaftlich-methodisch vermittelten Welt- und Selbstdeutungen bewegen, bedarf es einer kritischen Abstandnahme und Kontrolle von solchen Deutungen. Die in der phĂ€nomenologischen Tradition erprobte kritische Methode der epochĂ©, der Einklammerung und Abstandnahme, zielt auf die Kritik vorgefasster Meinungen, gĂ€ngiger Theoreme und Simplifikationen. Sie kritisiert wissenschaftliche und auch philosophische Deutungsschemata und Abstraktionen ebenso wie alltĂ€gliche Vorurteile, die den deutenden Zugang zu den SinnphĂ€nomenen versperren. PhĂ€nomene, so van Manen in Anlehnung an Heideggers ontologische Deutung, sind das, was sich von sich aus als sinnhaft zeigt und auch zugleich verbirgt, ein VerhĂ€ltnis von Bezug und Entzug, das zum Wesen des Sich-Zeigenden gehört (27). Existentieller Erfahrungssinn, Wesens- oder Sinnstrukturen werden im Variieren thematisch einschlĂ€giger Erfahrungen und konkreter Beispiele aus den unterschiedlichsten Sinnquellen des Alltags, der Kunst und Literatur, der wissenschaftlichen Erfahrung, auch der philosophischen Reflexion herausprĂ€pariert. Was jedoch ihren Erkenntnis- und Wahrheitsanspruch angeht, schließt sich van Manen mal mehr, mal weniger explizit und konsistent der folgenden in der neueren nachhusserlschen PhĂ€nomenologie und der philosophischen Hermeneutik geĂ€ußerten Erkenntnis- und Erfahrungskritik an: Jede menschliche Erfahrung und Erkenntnis ist sozial, leiblich und historisch situiert. Eine letztinstanzliche Quelle apodiktisch evidenter und damit unmittelbarer und unvermittelter Wesenswahrheiten, in denen Husserl das AufklĂ€rungsprojekt PhĂ€nomenologie grĂŒnden lĂ€sst, kann es nicht geben. Da die phĂ€nomenologische Beschreibung den aktuellen Erfahrungsvollzug thematisiert, kommt sie stets und unvermeidlich „zu spĂ€t“, es entsteht also eine unĂŒberbrĂŒckbare reflexive und temporĂ€re Distanz zwischen PhĂ€nomenen und Reflexion. Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand kommen nie zur Deckung. Wie komplex auch immer die phĂ€nomenologisch beschreibende Sprache ausfĂ€llt, ob in differenzierter Prosa oder poetisch, ob kognitiv oder pathisch, bildlich und metaphorisch, ob in Anekdoten und plausiblen Beispielen eingebettet oder auf eher systematisch organisierten Reflexionen und Erfahrungen beruhend, ihre „vokativischen und appellativen Eigenschaften“ dĂŒrfen nicht vernachlĂ€ssigt werden. Denn eine lebendige und engagierte Beschreibung von PhĂ€nomenen soll den Leser zum Mit- und Nachvollzug solcher ErfahrungsvollzĂŒge anstiften. Abstrakter formuliert: PhĂ€nomenbeschreibungen werden nicht mittels standardisierter objektivierender Methoden validiert, sondern erfolgen kommunikativ nachvollziehend. Sie bedĂŒrften der Resonanz im Leben des Lesers (29ff) und zielen auf die reflexive Sensibilisierung und die Ausbildung von Takt im Umgang mit den Menschen, wenn man mehr oder weniger professionell mit ihnen zu tun hat (31).

Eindrucksvoll dokumentiert van Manen seine umfassende Kenntnis phĂ€nomenologisch orientierter Forschungen in Philosophie und Human- wie auch Sozialwissenschaften in einem eher kursorischen Überblick ĂŒber Autoren und ihre Forschungsschwerpunkte (35 Skizzen) aus dem angelsĂ€chsischen, niederlĂ€ndischen und französischen Sprachraum (letzterer, soweit in englischer Übersetzung zugĂ€nglich).

FĂŒr den in der PhĂ€nomenologie kundigen Leser erschließt sich die Auswahl mancher Philosophen kaum, besonders nicht derjenigen, die eher am Rande oder jenseits des phĂ€nomenologischen Denkens stehen. Van Manen selbst charakterisiert sie als „New Thoughts and Unthoughts“ (159–193). Zudem wird die plakative Charakterisierung phĂ€nomenologisch arbeitender Autoren der thematischen Vielfalt ihrer Arbeiten nicht gerecht. So erhalten zum Beispiel Merleau-Pontys Forschungen den Titel: „Embodiment Phenomenology“. Dieser Titel markiert jedoch nur einen Teil seiner Arbeiten und ĂŒbersieht dessen einflussreiche sprachtheoretische wie auch Ă€sthetische Forschung, in der er die Grenzen eines intentional verfassten Erfahrungs- und Erkenntnisbewusstseins samt dem darin beruhenden ReprĂ€sentationsmodell von Wahrheit aufsprengt. Zudem ist es nach meiner EinschĂ€tzung systematisch irrefĂŒhrend, Emmanuel LĂ©vinas‘ Ethik des Anderen als eine „Ethical Phenomenology“ zu kennzeichnen (113ff), der als Methode die „Ethical Reduction“ zukomme. Gerade LĂ©vinas‘ radikale Fassung des ethischen Anspruchs des Anderen fĂ€llt aufgrund ihres anarchischen Ereignischarakters aus dem Rahmen einer wie auch immer bestimmten Reduktion und LogizitĂ€t. Sie ist deshalb auch nicht unter PhĂ€nomeno-„logie“ und unter „Reduktion“ zu verorten, sondern geschieht als Ethik jenseits allen Seins, aller PhĂ€nomenalitĂ€t und Methodik. Prominente Vertreter der PhĂ€nomenologie aus dem deutschsprachigen Raum wie der Philosoph Bernhard Waldenfels, die Erziehungswissenschaftler Meyer-Drawe oder Lippitz werden nicht erwĂ€hnt.

Das achte Kapitel diskutiert die Möglichkeiten und Grenzen der phĂ€nomenologischen Zugangsweisen zu außertheoretischen, prĂ€reflexiven Sinnerfahrungen mittels systematischer Einklammerung und Suspendierung (epochĂ©) von Vorurteilen, alltĂ€glichen und wissenschaftlichen Deutungsschemata usw. Van Manen zeichnet differenziert die innerphilosophischen Kontroversen nach. Es geht dort um die strittige Frage nach der Verortung der Erfahrungen im Bewusstseinsraum (Husserl), im Dasein (Heidegger) oder in der Lebenswelt (u. a. Merleau-Ponty); um die strittigen Fragen nach ihren Evidenzkriterien (absolut oder relativ) und ihrem Wahrheits- und Geltungswert (geschichtlich oder ungeschichtlich), nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Methodisierbarkeit phĂ€nomenologischer Forschung, nach einer angemessenen philosophischen Erfahrungseinstellung und Erkenntnishaltung (Offenheit, SensibilitĂ€t). Zugleich begnĂŒgt sich van Manen nicht mit theoretischen Erörterungen, sondern er konkretisiert sie an anschaulichen Beispielen.

Genauso veranschaulichend und mit konkreten RatschlĂ€gen begleitend geht er im neunten Kapitel „Philological Methods: The Vocative“ (240ff) vor. Existenzielle PhĂ€nomene und prĂ€reflexive Erfahrungen und Erlebnisse, in denen wir mit der Welt der Dinge, der Menschen, der Natur verbunden sind, sind wesentlich nichtkognitive, pathisch-anmutende, leiblich-sinnliche VollzĂŒge. Deshalb bedĂŒrfen ihre Beschreibungen eines besonderen expressiven Sprachstils, den van Manen „The Vocative“ nennt, d. i. eine poetische, metaphernreiche, appellative Sprache, die sich in ihrer Lebendigkeit und Anschaulichkeit die NĂ€he zu den PhĂ€nomenen bewahrt, zugleich aber selbstkritisch vom Anspruch Abstand nimmt, lebensweltliche PhĂ€nomene gĂ€nzlich in beschreibender Sprache aufheben zu können. Dass lebensweltliche Erfahrungen und Erlebnisse sich nicht primĂ€r in philosophischen und systematischen Texten auffinden lassen, liegt auf der Hand. Ihre Quellen sind vielgestaltig: eigene, biographisch gefĂ€rbte Erlebnissen, Narrationen jeder Art: Anekdoten, Geschichten, Poesie, Bilder, Filme, aber auch professionelle Erfahrungs- und Erlebnisbeschreibungen im Umgang mit Menschen.

Nach van Manen (Kapitel zehn) entwickeln sich phĂ€nomenologische Fragestellungen oftmals aus dem Staunen ĂŒber ErfahrungsvollzĂŒge und Kontexte, in denen Gewöhnliches und Vertrautes mit Ungewöhnlichem und Unvertrautem zusammenspielen. Solche Erfahrungen und deren Beschreibungen werden gleichsam phĂ€nomenologisch instrumentiert, d. h. unter strukturellen Hinsichten und existentiellen Dimensionen wie Zeitlichkeit, Leiblichkeit, SituativitĂ€t bzw. Örtlichkeit, SozialitĂ€t, MaterialitĂ€t vertiefend analysiert.

Wie das geschehen kann, zeigt van Manen ausfĂŒhrlich im elften Kapitel “Human Science Methods: Empirical and Reflective Activities“ (311–341). Das Kapitel zwölf “Issues of Logic” (342–356) ist fĂŒr die wissenschaftstheoretische Verortung phĂ€nomenologischer ForschungsansprĂŒche zentral. Mit Bezug auf Heidegger unterscheidet van Manen Wahrheit als veritas und aletheia. Veritas meint Wahrheit im Sinne von Richtigkeit, was also der Fall ist, was unter ein Gesetzt fĂ€llt, was pragmatisch, technisch, bĂŒrokratisch kontrollierbar, messbar und instrumentalisierbar ist. Hierin spiegelt sich die Auffassung von Wahrheit, die fĂŒr Human- und Sozialwissenschaften erkenntnisleitend ist. Dagegen meint aletheia Entbergung von Wahrheit als Sinngeschehen der Entbergung und Verbergung von Sinn. Er ist nicht-intentional und nicht theoretisch-begrifflich fassbar. Ästhetische PhĂ€nomene beispielsweise muten an, affizieren und setzen eine vornehmlich empfangendes Subjekt voraus. Welche Auswirkung diese Auffassung von Wahrheit auf das ValiditĂ€tskriterium phĂ€nomenologischer Forschungen hat, zeigt van Manen in dem Versuch, diese Forschungen von anderen qualitativen empirischen Forschungen, wie den ethnographischen oder ethnomethologischen scharf abzugrenzen. Lebensweltlich Erfahrungen, so van Manen, werden in der Ethnographie anders verstanden als in der PhĂ€nomenologie. PhĂ€nomenologie sei nicht mit faktischen empirischen Daten, sondern mit existentieller Empirie befasst. Evidenz ist nicht empirisch methodisch erlangbar, sondern in der PhĂ€nomenologie beruht sie auf inneren intuitiven Einsichten (351), basierend auf eidetischen Reduktionen. Dabei bleiben sie stets vieldeutig und seien nie abschließbar.

Meines Erachtens ist diese scharfe Trennung von phĂ€nomenologischer und qualitativer humanwissenschaftlicher Forschung erheblich diskussionswĂŒrdig. Zwei kurze kritische Andeutungen mĂŒssen hier genĂŒgen: Ein wichtiges Merkmal phĂ€nomenologischer Forschungen in der Philosophie ist die intensive kritische Auseinandersetzung mit human- und sozialwissenschaftlichen Forschungen in deren eigenem Forschungsfeld. Merleau-Pontys „PhĂ€nomenologie der Wahrnehmung“ ist ein Paradebeispiel dafĂŒr, wie er in der kritischen Sichtung einzelwissenschaftlicher Forschungen (u. a. Psychologie, Physiologie) das PhĂ€nomen der Wahrnehmung herausprĂ€pariert. Er begibt sich in das einzelwissenschaftliche Forschungsfeld hinein, dekonstruiert deren reduktionistische empirische Methodik und verweist auf widersprĂŒchliche und aporetische Theoriebildungen. Überspitzt formuliert: Das Sich-kritische-Einlassen auf einzelwissenschaftliche Forschungen schĂ€rft den phĂ€nomenologischen Blick auf PhĂ€nomene und ist keine Sichtbarriere. Genau diese Merleau-Pontysche Arbeitsweise kennzeichnet viele phĂ€nomenologisch orientierten erziehungswissenschaftlichen Arbeiten im deutschsprachigen Raum, u. a. ĂŒber das Lernen (Meyer-Drawe), ĂŒber die pĂ€dagogische Übung (Brinkmann), ĂŒber Ă€sthetische BewegungsphĂ€nomene (Westphal). Die zweite Anmerkung bezieht sich auf die Grenzziehung von existentiellen und qualitativ-empirischen PhĂ€nomenen. Auch hier zeichnet die einschlĂ€gige Forschungsliteratur ein anderes Bild. Erkenntniskritisch formuliert: Wenn in der nachhusserlschen und auch nachheideggerschen Philosophie von der Situiertheit und lebensweltlichen Gebundenheit der Philosophie die Rede ist, heißt das doch, dass Sinn- und PhĂ€nomendeutungen nicht aus ihren kulturellen, sozialen und historischen Kontexten herauslösbar sind. IdentitĂ€tskonzepte sind kulturell vermittelt. Genau darin und nicht etwa außerhalb jedweder kultureller PrĂ€gung erweisen sie ihren tiefen existentiellen, und das heißt fĂŒr mich auch historisch gebundenen und konkreten Sinn. PrĂ€gnanten oder plausiblen Sinn entfalten PhĂ€nomene, ob als Einzelbeispiele oder als Ergebnis von eidetischen Reduktionen dem Philosophierenden, der, aller epochĂ© zum Trotz, in einer bestimmten kulturellen, sozialen und historischen Welt situiert bleibt.

Das Kapitel 13 „Phenomenological Writing“ (357–374) thematisiert unter dem philosophischen Aspekt des VerhĂ€ltnisses von Sprache, Schrift und Sinnerfahrung Möglichkeiten und Grenzen der Verschriftlichung phĂ€nomenologischer Sinnerfahrungen. PhĂ€nomenologisch zu schreiben angesichts der PrimordialitĂ€t, der vorsprachlichen Ă€sthetischen, emotionalen KomplexitĂ€t und existentiellen RĂ€tselhaftigkeit von PhĂ€nomenen kennzeichnet van Manen als eine Art depersonalisierendes Eintauchen in den Schreibprozess, der zwischen dem laviert, was zu schreiben ist und was man schreiben kann, zwischen dem breiten Repertoire sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten (sachlicher, evokativer, poetischer, anschaulicher, bildhafter Art usw.) und dem, worauf man zwar hindeuten kann, was sich aber der Versprachlichung entzieht. PhĂ€nomenologische Texte sollen berĂŒhren, den Leser „magnetisieren“ (360), sollen die Lebendigkeit und Tiefe von existentiellen ErfahrungsvollzĂŒgen aufscheinen lassen und beim Leser Resonanz erzeugen.

Im letzten Kapitel „Draft Writing“ gibt van Manen RatschlĂ€ge, wie man phĂ€nomenologische Texte verfasst: dazu gehören das AufspĂŒren von Material, in dem ein fragwĂŒrdiges und interessantes PhĂ€nomen auftaucht; die Hinzuziehung von Beispielmaterial aus der einschlĂ€gigen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Literatur; Skizzen ĂŒber die eidetische Reduktion eines PhĂ€nomens usw.

„Phenomenology of Practice” ist ein in der FĂŒlle seiner philosophischen Perspektiven, in seinen gut nachvollziehbaren und prĂ€gnanten Beispieltexten und in seiner geschickten methodisch-didaktischen Ausrichtung empfehlenswertes Lese- und Arbeitsbuch. Es vermittelt zudem einen differenzierten Überblick ĂŒber phĂ€nomenologisch orientierte philosophische und human- bzw. sozialwissenschaftliche wie auch erziehungswissenschaftliche Forschungen primĂ€r aus dem angelsĂ€chsischen Raum.
Wilfried Lippitz (Giessen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Wilfried Lippitz: Rezension von: Manen, Max van: Phenomenology of Practice, Meaning-Giving Methods in Phenomenological Research and Writing. Walnut Creek, CA: Left Coast Press 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 3 (Veröffentlicht am 11.06.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978161132944.html