EWR 15 (2016), Nr. 3 (Mai/Juni)

Cass Sunstein
Choosing not to Choose
Understanding the Value of Choice
Oxford/New York: Oxford University Press 2015
(240 S.; ISBN 978-0-19-023169-9; 28,10 EUR)
Choosing not to Choose Die Alltagsweisheit, dass Wahlfreiheit nicht in jedem Fall ein per se wünschenswertes Gut darstellt, ist seit Jahrzehnten ein gängiger Topos soziologischer und philosophischer Zeitdiagnosen. Selbst wählen zu müssen birgt immer auch Risiken, ist oftmals anstrengend und in Zeiten einer stetigen Ausweitung von Wahloptionen nicht selten überfordernd. Häufig ausgeblendet wird in der tradierten Sicht auf Chancen, Risiken und Nebenwirkungen der Wahlfreiheit in modernen Gesellschaften eine naheliegende und im Grunde auch ganz alltägliche Form des Umgangs mit dem dauerhaften Zwang, prüfen und wählen zu müssen: Die bewusste Wahl, nicht zu wählen und sich stattdessen auf bewährte institutionalisierte Standardeinstellungen, Wahlvorgaben und Üblichkeiten zu verlassen, die wir in der Regel als selbstverständliche und im Alltag omnipräsente Gegebenheiten voraussetzen und akzeptieren. Dass es eine Frage der praktischen Klugheit und ein Ausdruck von Autonomie sein kann, zu wählen, nicht selbst zu wählen, ist eines der vielen Themen des neuen Buchs des bekannten US-amerikanischen Rechts- und Sozialphilosophen Cass Sunstein. Nach dem zusammen mit Richard Thaler verfassten und weltweit diskutierten Buch „Nudge. Improving Decisions about Health, Wealth and Happiness” von 2008 [1] und dem Folgebuch „Why Nudge? The Politics of Libertarian Paternalism” von 2014 [2], wendet sich Sunstein erneut den Ambivalenzen und Fallstricken der Wahlfreiheit und ihrer Regulation durch Entscheidungsarchitekturen zu (z.B. die Gestaltung und Anordnung von Wahlmöglichkeiten in einer Caféteria oder auf einer Webseite) und verteidigt zugleich das bis heute in Wissenschaft und Politik einflussreichste neopaternalistische Paradigma des Libertären Paternalismus gegen seine vielen Kritiker.

Libertärer Paternalismus basiert auf der spätestens seit Rousseau im erziehungsphilosophischen Problemkanon fest etablierten pädagogischen Idee, das Entscheidungsverhalten von Adressaten durch die benevolente Gestaltung von Entscheidungsumwelten zu beeinflussen [3]. Ausgehend von dieser Problemvorgabe entwirft Sunstein eine Ethik der Wahlfreiheit, die durch Ergebnisse der Verhaltensökonomie zu systematisch auftretenden Rationalitätsdefiziten empirisch gestützt wird. Diese wird anwendungsbezogen erläutert anhand unterschiedlicher Beispiele – von der Frage nach der automatischen Einschreibung für die Altersvorsorge bis zu personalisierten Standardregeln von Netflix und Amazon. Er tariert dabei immer wieder aufs Neue aus, in welchen Kontexten es z.B. auf Grund der Komplexität einer Aufgabe sinnvoller sein kann, sich auf Standardeinstellungen zu verlassen, und wo es angebracht ist, so informiert und kompetent wie nötig und möglich selbst aktiv zu wählen. Sunsteins ausgewogene Argumentation für entlastende und damit auch freiheitsermöglichende Institutionen und gegen überfordernde politisch-pädagogische Fiktionen eines jederzeit wohlinformierten und dauermotivierten rationalen Entscheiders macht deutlich, wie wenig oftmals gerade paternalismuskritische Befürworter einer zeitlich und sachlich uneingeschränkten Freiheit und Pflicht, immerfort alles zum Gegenstand aktiver Wahlentscheidung zu machen, sich für die tatsächlichen Zeitressourcen und Präferenzen von realen Akteuren zu interessieren scheinen. Sunstein kommt daher zu dem zutreffenden Befund, dass diejenigen, die den Wunsch der Menschen nicht respektieren, die das Recht auf Wahlfreiheit für sich in Anspruch nehmen, um nicht zu wählen, natürlich selbst paternalistisch argumentieren, wenn sie dezidierte Nichtwähler zu deren Wohl zur Wahl nötigen wollen:

„But suppose you think that active choosing is a way to ensure that people develop certain characteristics, values, and tastes. Suppose that you think that choosers gain independence, self-sufficiency, and a sense of agency and initiative, and that a system of active choosing is desirable for exactly that reason. That would be a paternalistic justification.” (Hervorhebung im Original; 143)

Sunstein zeigt zudem, dass diese auch in pädagogischen Debatten etablierten Formen eines „choice-requiring paternalism” (113) in ihrer weitgehend irritationsfreien Einforderung von Wahlfreiheit blind bleiben dafür, wie ungleich die Qual der Wahl häufig gesellschaftlich verteilt ist. Es sind vor allem Menschen in prekären Lebenssituationen, die unter ständigem Druck und kognitivem Stress stehen, wählen zu müssen, weil es keine verlässlichen Institutionen gibt, die ihnen diese Entscheidungen ersparen, indem sie frei verfügbare öffentliche Güter bereitstellen (145). Darauf verweist die Armutsforscherin Esther Duflo, auf die sich Sunstein zustimmend bezieht:

„We tend to be patronizing about the poor in a very specific sense, which is that we tend to think, `Why don´t they take more responsibility for their lives?´ And what we are forgetting is that the richer you are the less responsibility you need to take for your own life because everything is taken care of for you. And the poorer you are the more you have to be responsible for everything in your life. … Stop berating people for not being responsible and start to think of ways instead of providing the poor with the luxury that we all have, which is that a lot of decisions are taken for us. If we do nothing, we are on the right track. For most of the poor, if they do nothing, they are on the wrong track” (zitiert nach Sunstein: 144-145).

Sunstein hat ein alles in Allem lesenswertes Buch vorgelegt, das sich wie schon die Vorgänger durch eine hybride Mischung aus einem stetig expandierenden Theorie- und Forschungsprogramm und einem praxisorientiertem Policy-Manual auszeichnet. Das Buch belegt eindrucksvoll, dass die in allen Humanwissenschaften geführte Debatte über die Politik und Ethik des Libertären Paternalismus in den letzten Jahren immer differenzierter und feinkörniger geworden ist und dass zudem pädagogische Begründungsmuster und erziehungstheoretische Problemvorgaben auch in außerpädagogischen Handlungsfeldern fest etabliert sind. Der von Sunstein konsequent durchexerzierte Anspruch einer empirischen Kontextualisierung normativer Fragen und die damit verbundene analytisch abgeklärte, abwägende und problemorientierte Argumentationsweise steht jedoch in einem bemerkenswerten Kontrast zu Formen des theoretischen Umgangs mit pädagogischen Legitimationsmustern, wie sie in pädagogischen Disziplinen noch immer gepflegt und tradiert werden. Sunsteins pragmatischer sozialtechnologischer Steuerungsoptimismus mag daher insbesondere für in dieser Hinsicht eher pessimistisch gestimmte Anhänger pädagogischer Letaltheorien [4] eine Irritation darstellen, die sich immer wieder aufs Neue für die Anerkennung der vermeintlichen Unmöglichkeit und der unergründlich-unauflösbar paradoxen Struktur pädagogischer Konstellationen engagieren. Ob aber die Flucht in die entrückte Theoriewelt der Unmöglichkeitstheoreme und in den Begriffsnebel der Paradoxien einer konstruktiven Auseinandersetzung über die zu verhandelnden theoretischen, empirischen und praktischen Fragen zuträglich ist, kann bezweifelt werden. Jenseits der theoretischen Luftkämpfe steht am Ende schließlich so oder so fest, dass Entscheidungen über die Gestaltung und Revision von Entscheidungsumwelten auch in Zukunft getroffen, begründet und durchgesetzt werden müssen.

[1] Sunstein, C./ Thaler, R.: Nudge. Improving Decisions about Health, Wealth and Happiness. New Haven and London: Yale University Press 2008.

[2] Sunstein, C.: Why Nudge? The Politics of Libertarian Paternalism. New Haven & London: Yale University Press 2014.

[3] Drerup, J.: Rousseaus strukturierter Paternalismus und die Idee der wohlgeordneten Freiheit. In: Zeitschrift für Pädagogik 58, 5, 2012, 640-657.

[4] vgl. der Hinweis hierzu bei: Tenorth, H.-E.: Professionalität im Lehrerberuf. Ratlosigkeit der Theorie, gelingende Praxis. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 9, 4, 2006, 580-597.
Johannes Drerup / Aaron Voloj Dessauer (Universität Koblenz-Landau / Yale Law School)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johannes Drerup / Aaron Voloj Dessauer: Rezension von: Sunstein, Cass: Choosing not to Choose, Understanding the Value of Choice. Oxford/New York: Oxford University Press 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 3 (Veröffentlicht am 25.05.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978019023169.html