EWR 12 (2013), Nr. 1 (Januar/Februar)

Christel Adick (Hrsg.)
Bildungsentwicklungen und Schulsysteme in Afrika, Asien, Lateinamerika und der Karibik
Historisch-Vergleichende Sozialisations- und Bildungsforschung Band 11
MĂĽnster: Waxmann 2013
(320 S.; ISBN 978 -3-8309-2785-3; 24,90 EUR)
Bildungsentwicklungen und Schulsysteme in Afrika, Asien, Lateinamerika und der Karibik Der Band adressiert einen blinden Fleck der deutschsprachigen, aber auch der internationalen Publikationslandschaft: die Ausklammerung von Bildungsentwicklungen des „Rests“ der Welt wegen der primären Fokussierung auf Europa bzw. „the West“. Mit Blick auf die Erziehungswissenschaft lässt sich sagen, dass deren Entwicklung immer auch mit politischen Konstellationen verbunden und die Vergleichende Erziehungswissenschaft als Teildisziplin auf internationale Entwicklungen und Beziehungen bezogen ist. Somit hängt die Fokussierung auf westliche Entwicklungen auch mit der geo-politischen Neuordnung (Stichwort: Europäischer Bildungsraum) nach dem Ende des Kalten Krieges zusammen. Die Konjunktur der theoretischen Orientierung am neoinstitutionalistischen World-Polity-Ansatz mit seiner Fokussierung auf westlich begründeten Diffusionsmustern bildungsprogrammatischer Trends ist sicher auch in diesem Kontext zu sehen. So ergibt sich der paradoxe Befund, dass zwar immer stärker von Globalisierung und Internationalisierung die Rede ist, im Mainstream der deutschen vergleichenden Bildungsforschung aber die wirtschaftlich und politisch aufstrebenden Länder bislang kaum eine Rolle spielen.

Der Sammelband operiert mit dem Konzept der Regionen und fokussiert dabei geo-politische Einheiten, die in der aktuellen deutschen Diskussion eher vernachlässigt werden: Arabische Staaten, die Karibik, Lateinamerika, Ostasiatische Staaten, Pazifikregion, Subsahara-Afrika sowie Süd- und Westasien. Zugrunde gelegt ist dabei die im Education for All veranschlagte Klassifikation der Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen, und genutzt wird das reiche Datenmaterial, das in diesem Kontext jährlich frei zugänglich und weltweit elektronisch verfügbar gemacht wird. Berücksichtigt werden zudem sozialwissenschaftliche Debatten zu Region und Regionalisierung sowie die Bedeutung regionaler Zusammenschlüsse wie EU, ASEAN und MERCOSUR (9). Regionen werden operationalisiert als mehrere Staaten umfassende Zusammenschlüsse geographischer Räume (vgl. 10). In dieser Regionalisierung sieht die Herausgeberin eine Chance der größeren Sichtbarkeit von Entwicklungen im Bildungs- und Erziehungssystem und einen wichtigen Faktor gegen die verzerrte Wahrnehmung des Westens.

Die vorgestellten Regional- und Länderbeispiele sind nicht in der Absicht vergleichender Analyse in einem Band vorgestellt. Zwar ist jedem Beitrag ein orientierender Leitfaden zugrunde gelegt, aber dieser ist nicht mit einer komparativen Intention verbunden. Die Autorinnen und Autoren wurden nach ihrer Sach- und nicht nach ihrer Methodenexpertise ausgewählt. Da global zirkulierende Bildungsdaten eine wichtige Rolle spielen, wurden diese – dem Fokus des Bandes entsprechend – zusammengestellt und an die Einleitung angefügt (14-20). Diese – vor allem die Datensammlungen der UNESCO aus dem Education for All (EFA) Projekt, sind auch den Länderstudien zugrunde gelegt.

Der erste Teil des Bandes setzt sich mit regionalen Bildungsentwicklungen auseinander. Dieser Teil umfasst sieben Beiträge, wovon zwei von der Herausgeberin Christel Adick (Bildung in der Karibik und Bildung in Subsahara Afrika), zwei von Volker Schubert (Bildung in den Ostasiatischen Staaten und Bildung in der Pazifikregion) und je ein Beitrag von Jonathan Kriener (Bildung in den Arabischen Staaten), Claudia Richter (Bildung in Lateinamerika) und Gregor Lang-Wojtasik (Bildung in Süd- und Westasien) verfasst wurden. Die Beiträge sind alle sehr informativ und zeugen von großer Kenntnis der besonderen Gegebenheiten. Hier werden Bildungssystem- und Beschäftigungssystemverhältnisse ebenso zur Sprache gebracht wie grundsätzliche Fragen der Bildungsexpansion, der Geschlechterverhältnisse und des Bildungszugangs. Eine wichtige Rolle spielt zudem das auch in den nicht-westlichen Ländern bedeutsamer werdende Privatschulsystem – auch in Form von kommerziellen Schulen; auch dies Teil von internationalen Entwicklungstrends. Begrüßenswert ist zudem, dass innerhalb der Regionalbeiträge nochmals exemplarisch auf einzelne Länder verwiesen wird. Eine besondere Begründung der Auswahl erfolgt nicht. So bleibt offen, inwieweit die Kategorie „Region“ in allen Fällen den gleichen Kriterien genügt; handelt es sich etwa um einen durch äußeren oder inneren Anpassungsdruck entstandenen politischen bzw. ökonomischen Raum oder um eine seit langem etablierte Einheit. In anderen Worten, die „Konstruiertheit“ von Regionen wird nicht thematisiert.

Der zweite Teil ist mit Länderstudien befasst. Vorgestellt werden Brasilien (Claudia Richter), China (Caroline Glöckner), Indien (Gregor Lang Wojtasik), Japan (Sabine Meiser und Volker Schubert), Mexiko (Laura Patricia Cruz Ruiz & Esther Hahn), Nigeria (Ina Gankam Tambo) und Südafrika (Christine Rehklau). Auch diese Beiträge sind durchaus anregend und informativ und bieten einen gelungenen Ein- und Überblick.

Die Verdienste des Bandes liegen zweifelsohne darin, den westlich fixierten Blick zu dezentrieren und daran zu erinnern, dass aus globaler Perspektive betrachtet, der Westen der „Rest“ ist. Die Beiträge bieten hierfür einen guten, auch historische Kontexte berücksichtigenden Einblick. Zu den Verdiensten zählt des Weiteren, dass erfahrene und Nachwuchswissenschaftler gemeinsam publizieren. Die Beiträge sind bei aller Unterschiedlichkeit von gleichmäßiger solider Qualität.

Der Band ist vor allem wegen seines informativen Charakters interessant und bietet somit für alle Interessierten einen fundierten Einstieg. Allerdings hat das Format der „klassischen“ Länder- bzw. Regionalstudien, nach dem die Beiträge verfasst wurden, auch Grenzen. Die Stärke der Deskription ist zugleich auch eine Schwäche, weil durch die Breite der Darstellung ein analytischer Fokus ausgeschlossen ist. Die in der Einleitung angesprochenen sehr anregenden Aspekte werden in den beiden Hauptteilen nicht systematisch aufgegriffen.

Der Band besitzt zweifellos großes Anregungspotenzial. Diese Einschätzung soll mit den folgenden Anmerkungen illustriert werden. Der im Band immer wieder aufscheinende große Stellenwert weltweit verfügbarer Bildungsstatistiken und global zirkulierenden Wissens über einzelne Bildungssysteme bietet viel Stoff, um Möglichkeiten aber auch Risiken und Nebenwirkungen auszuloten. In keinem anderen Zeitalter standen so umfangreiche und detaillierte Informationen über Bildungs- und Erziehungssysteme zur Verfügung wie in unserem. Mit der zunehmenden globalen Verflechtung einher geht nicht nur eine ebenfalls historisch beispiellose Expansion der Bildung, zu der die Herausgeberin auch einschlägig gearbeitet hat; es entsteht auch ein ebenfalls beispielloser Anpassungsdruck. Dieser wird ebenso durch Nachahmung (Mimese) erzeugt, wie im Falle der Steuerung durch Wissen, als auch durch konkrete Sanktionsmaßnahmen etwa im Falle von Strukturanpassungen.

Internationale Organisationen, wie beispielsweise die UNO mit ihren Unterorganisationen, aber auch der Internationale Währungsfonds (IWF) oder die OECD, treiben die Entwicklungsdynamik der Bildungssysteme in allen Ländern voran, allerdings in unterschiedlicher Weise und mit stark differierenden Folgen. So entfaltet diese Einflussnahme je nach Weltregion sehr unterschiedliche Wirkungen.

Damit kann der Befund, der sich auf der rückseitigen Buchbeschreibung findet, dass „Globalisierung und Migration, Internationale Begegnungen, Schul- und Hochschulkooperationen oder Projekte der Entwicklungszusammenarbeit“ auch in außereuropäischen „Regionen immer mehr in das Blickfeld internationaler Fragestellungen“ rücken, etwas unterfüttert werden. Gleichzeitig kann die Aussage, dass die hier behandelten Länder und Regionen nicht Gegenstand intensiver und extensiver Publikationstätigkeit sind, in entscheidender Weise modifiziert werden: Die Publikation von Länder- und Regionalstudien hat sich verlagert. Eine Fülle von Länderberichten wird jedes Jahr von den Internationalen Organisationen in Auftrag gegeben und veröffentlicht. Diese umfassen sowohl Überblicke als auch Einzelaspekte.

Diese weiterführenden Überlegungen sollen die Verdienste des Bandes keineswegs in Abrede stellen, sondern vielmehr zeigen, wie vielfältig anschlussfähig die Anlage des Bandes ist.
Karin Amos (TĂĽbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Karin Amos: Rezension von: Adick, Christel (Hg.): Bildungsentwicklungen und Schulsysteme in Afrika, Asien, Lateinamerika und der Karibik, Historisch-Vergleichende Sozialisations- und Bildungsforschung Band 11. MĂĽnster: Waxmann 2013. In: EWR 12 (2013), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.02.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978+383092785.html