EWR 5 (2006), Nr. 5 (September/Oktober 2006)

Monica Wellmann
Zwischen Militanz, Verzweiflung und Disziplinierung
Jugendliche Lebenswelten in Moskau 1920-1930
Zürich: Pano 2005
(400 S.; ISBN 3-907576-82-9; 37,00 EUR)
Zwischen Militanz, Verzweiflung und Disziplinierung Mit der Dissertation von Monica Wellmann „Zwischen Militanz, Verzweiflung und Disziplinierung. Jugendliche Lebenswelten in Moskau 1920–1930“ liegt eine weitere Studie vor, die im Rahmen des Projekts „Jugend und Gewalt in Sowjetrußland 1917–1932“ unter der Leitung von Heiko Haumann (Basel) und Stefan Plaggenborg (Marburg) entstanden ist. Ebenso wie die bereits rezensierte Arbeit von Corinna Kuhr-Korolev [1] und das gesamte Projekt dieser Forschergruppe knüpft auch die Arbeit von Monica Wellmann an die neuere Forschung zur Geschichte der frühen Sowjetunion an, arbeitet zum Teil neue, bisher unzugängliche Archivmaterialien auf und beschäftigt sich dabei mit einer potentiell besonders wichtigen Bevölkerungsgruppe in der Sowjetunion der 1920er Jahre, nämlich mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Diese Bevölkerungsgruppe war in der damaligen Sowjetgesellschaft zum einen deshalb bedeutsam, weil sie einen großen Teil der Gesamtbevölkerung ausmachte: so war im Jahre 1926 fast die Hälfte der Sowjetbürger unter dreißig. Zum anderen hatten diese jungen Menschen wichtige Phasen ihrer Persönlichkeitsentwicklung in einer Zeit durchlebt, die von mehreren gewaltsamen sozialen Umbrüchen in der russischen Gesellschaft geprägt war: dem Ersten Weltkrieg (1914–1918), der sozialistischen Oktoberrevolution (1917) und dem anschließenden Bürgerkrieg (1918–1921/1922). Es ist deshalb denkbar, dass viele Jugendliche und junge Erwachsene in der frühen Sowjetunion aufgrund ihrer spezifischen Sozialisation eine erhöhte Gewaltakzeptanz mitbrachten und dadurch bedingt möglicherweise eine besondere Rolle bei der Etablierung des Stalinschen Terrorregimes der 1930er Jahre spielten. Diese Frage zu klären, war ein zentrales Anliegen des Forschungsprojekts, in dessen Rahmen die Studie von Monica Wellmann entstanden ist.

In der Arbeit werden also zwei Forschungsgebiete – „Geschichte der Sowjetjugend“ und „Jugendgewalt“ – zusammengeführt. Die Forschungsfragen der Autorin lauten u.a., „unter welchen Umständen gewaltsame Verhaltensweisen“ der Jugendlichen auch nach dem Ende des Bürgerkrieges in Sowjetrussland „gegenwärtig blieben“ (18), welche Formen und Motive die Gewaltanwendung bei Sowjetjugendlichen hatte (250) und ob „hierbei ‚die Jugend‘ instrumentalisiert wurde oder eventuell als ‚drängende Kraft‘ einen entscheidenden Anteil“ an der Durchsetzung des Stalin-Regimes hatte (18).

Zur Beantwortung dieser Fragen verwendet die Autorin primär den methodischen Ansatz der „Lebensweltanalyse“. Ziel dieser Methode ist es, aus der Rekonstruktion der Lebenswelten handelnder Personen Schlussfolgerungen über die „Einwirkung von Strukturen und Systemen, Prägungen und Erfahrungen“ zu ziehen [2]. Dazu hat die Autorin diverse Quellen ausgewertet: Zum einen sichtete sie die Archivbestände des Moskauer Komsomol (Kommunistischer Jugendverband), der Moskauer Abteilung des Volkskommissariats für Bildung sowie der „Kommission für die Angelegenheiten minderjähriger Straftäter“, zum anderen hat sie geheime, früher unter Verschluss gehaltene Jugendberichte unterschiedlicher Parteigremien sowie unveröffentlichte Briefe junger Leser an die zentralen sowjetischen Presseorgane und die Führung der Kommunistischen Partei analysiert. Zusätzlich wurden von der Autorin Untersuchungen der damaligen sowjetischen Forscher zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Sowjetjugend, zu Rowdytum, Selbstmorden und anderen so genannten „Verfallserscheinungen“ unter den Jugendlichen ausgewertet und Gerichtszeitungen sowie die Presseorgane der Moskauer Komsomolorganisation („Molodoj leninec“) und des Zentralkomitees des Komsomol („Junyj kommunist“) analysiert.

Das Buch ist in drei Teile untergliedert. Im ersten Teil wird die Behandlung des Themas „Gewalt“ im Rahmen der im Sowjetrussland der 1920er Jahre geführten Diskussion um die neue „kommunistische Ethik“ und die „klassengemäße Erziehung“ der Sowjetjugend analysiert. Im zweiten Teil wird die Frage erörtert, in welchen Zusammenhängen Gewalt von den Mitgliedern des Komsomol erfahren, ausgeübt und thematisiert wurde. Im dritten, umfangreichsten Teil werden schließlich zwei Formen von deviantem Verhalten unter den Sowjetjugendlichen der 1920er Jahre genauer untersucht: Rowdytum und Suizid. Auf der Grundlage des ausgewerteten Quellenmaterials kommt Monica Wellmann u.a. zu folgenden Ergebnissen:

  1. Die im Sowjetrussland der 1920er Jahre geführte Diskussion über eine „kommunistische Ethik“ und „klassengemäße Erziehung“ hatte das Ziel, den Vertretern der jungen Generation – als den Erbauern der neuen sozialistischen Gesellschaft – „richtige“ Verhaltensweisen zu vermitteln. Obwohl es in dieser Diskussion auch gemäßigte und kritische Stimmen gab (z.B. Polonskij, Korolenko), setzte sich als offizielle Linie der Partei und des Komsomol eine radikale Auffassung durch. Die Anhänger dieser Position (u.a. Lenin, Lunačarskij, Bucharin, Kalinin) vertraten die Meinung, dass der Aufbau der neuen sozialistischen Gesellschaft ohne Gewalt nicht zu erreichen sei und erklärten für sittlich all das, was „der Zerstörung der alten Ausbeutergesellschaft [...] dient“ (Lenin 1920, zitiert nach Wellmann; 52). Die „klassengemäße Erziehung“ wurde demzufolge als „Erziehung zu einem unversöhnlichen Haß gegen die Feinde des Proletariats und der werktätigen Bauernschaft“ definiert (Grigor’ev 1928, zitiert nach Wellmann; 90).

  2. Die von Staat und Partei geforderte Kompromisslosigkeit im Umgang mit den „Klassenfeinden“ stand im Widerspruch zu dem Mangel an konkreten Handlungsvorgaben der neuen Machthaber für die Jugendlichen (53) und zum ambivalenten Umgang des Staates mit jungen Straftätern. Auf der einen Seiten galt in Sowjetrussland bis 1935 ein progressives und im internationalen Vergleich sehr liberales Jugendstrafrecht. In der Gerichtspraxis (vor allem auf der lokalen Ebene) wurden Kinder von Werktätigen sowie junge Partei- und Komsomolmitglieder für Gewalttaten gegenüber „Klassenfeinden“ häufig nachsichtig bestraft. Auf der anderen Seite kam es in einzelnen Fällen aber durchaus zu Sanktionen der gegen die „Klassenfeinde“ gerichteten Gewalt von Arbeiter- und Bauernkindern. Der damit verbundene Kriterienwechsel für das „angemessene“ Verhalten eines jungen sowjetischen Staatsbürgers führte zur Desorientierung vieler Jugendlicher (345).

  3. Ambivalent war der Umgang mit dem Thema „Gewalt“ auch innerhalb des Komsomol. Während zum Beispiel gewaltsame Übergriffe gegen Komsomolzen regelmäßig publik gemacht wurden, wurde Fehlverhalten von Komsomolzen selbst kaum öffentlich thematisiert (107f.; 126ff.). „Unkameradschaftliche“ Umgangsformen unter den Komsomolzen wurden zwar in den internen Gremien und in der Öffentlichkeit kritisiert, diese Kritik blieb jedoch weitgehend wirkungslos: Den Führungskreisen des Komsomol gelang es nicht, allgemein akzeptierte Verhaltensregeln für die Komsomolmitglieder zu etablieren (125).

  4. Zu den häufigsten Formen von deviantem Verhalten unter den Jugendlichen im Sowjetrussland der 1920er Jahre gehörten Rowdytum und Suizid. Die so genannten „Hooligans“ (chuligany) waren nach Wellmanns Erkenntnissen häufig Jugendliche, die sich von der Partei und dem Komsomol nur schwer oder gar nicht in die revolutionäre Bewegung integrieren ließen und durch nichtkonforme Verhaltensweisen auffällig wurden. Die Komsomol- und Parteiführung reagierte darauf durch die negative Darstellung einzelner Erscheinungsformen von Rowdytum in der Presse, die strenge Ahndung manch harmlosen Vergehens und die öffentliche Brandmarkung der auffälligen Jugendlichen als Hooligans. Dies führte jedoch nur dazu, dass die bereits bestehende Entfremdung zwischen großen Teilen der Jugend und dem Komsomol sich noch verstärkte (209f.; 244f.). Was die jungen Selbstmörder in der frühen Sowjetunion betrifft, so befanden sich darunter sowohl Angehörige der entmachteten Klassen, die ihre neue Stellung in der Gesellschaft nicht akzeptieren konnten, als auch Anhänger der Revolution. Bei Letzteren war das Motiv für den Selbstmord nach Wellmann nicht selten Enttäuschung über die Staatspolitik nach dem Ende des Bürgerkrieges, über die Diskrepanz zwischen dem politischen Anspruch und der Lebenswirklichkeit und über den Verrat der Revolutionsideale (285f.). Eine offene Diskussion über die Probleme dieser Jugendlichen und die Gründe für ihre Selbstmorde ließen die Machthaber in der Sowjetunion jedoch nicht zu (292-297).

  5. Wie diese Fälle von deviantem Verhalten nahe legen, gelang es der neuen Staatsmacht in Russland nicht, positive Identifikationsmöglichkeiten für alle Jugendlichen im Lande zu schaffen. Um einen Zusammenhalt zumindest innerhalb der werktätigen Jugend zu erreichen, setzten die Bolschewiki auf die Suggestion einer starken Bedrohung von außen. Dies war der Autorin zufolge ein verhängnisvoller Schachzug (350), weil dadurch – so die Implikation – die Durchsetzung des Stalinschen Terrorregimes erleichtert wurde. Die Hypothese, dass die radikalisierte Sowjetjugend der 1920er Jahre aufgrund ihrer sozialisatorischen Gewalterfahrung eine wichtige Rolle bei der Etablierung des Stalin-Regimes spielte, ließ sich dagegen nicht bestätigen (351).


Insgesamt hinterlässt das Buch von Monica Wellmann einen ambivalenten Eindruck. Auf der einen Seite macht die mittels der Methode der Lebensweltanalyse erreichte, lebhafte Beschreibung der damaligen Lebenssituation von Sowjetjugendlichen (bei denen die handelnden Personen oft selbst zu Wort kommen) das Buch zu einer streckenweise sehr interessanten und spannenden Lektüre. Zudem gelingt es der Autorin, aus der Analyse der Lebenswelten einzelner Akteure Einsichten in die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge in der frühen Sowjetunion zu gewinnen, die mit anderen historischen Forschungsmethoden möglicherweise nicht erreicht werden könnten. Auf der anderen Seite leidet die Arbeit unter einem Mangel an Systematik: Das Buch stellt eher eine Sammlung von – für sich genommen durchaus interessanten – Einzelstudien dar, als ein in sich geschlossenes, von einer zentralen Forschungsfrage durchdrungenes Werk. Offen bleibt außerdem die Frage, wie genau sich die in der Studie gewonnenen Erkenntnisse über den untersuchten historischen Einzelfall – „Jugendgewalt in Moskau und Sowjetrußland der 1920er Jahre“ – hinausgehend in den breiteren Kontext der Forschung zu „Jugendgewalt“ einordnen lassen.

Ungeachtet dieser Kritik ist das Buch von Monica Wellmann eine lohnenswerte Lektüre für Leserinnen und Leser, die sich für die Geschichte des Sowjetstaates oder für das Thema „Jugendgewalt“ interessieren. Es enthält interessante Befunde und Thesen und gewährt einen anschaulichen Einblick in die Lebenswelten von sowjetischen Jugendlichen in den 1920er Jahren. Damit trägt die Studie zur weiteren Präzisierung des Geschichtsbildes der frühen Sowjetunion bei.

[1] Irina Mchitarjan: Rezension von Kuhr-Korolev, Corinna: „Gezähmte Helden“. Die Formierung der Sowjetjugend 1917–1932. Essen: Klartext 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 2. (URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/89861349.html)
[2] Haumann, H. (2001): Jugend und Gewalt in Sowjetrußland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus im lebensweltlichen Zusammenhang. In: Kuhr-Korolev, C./Plaggenborg, St./Wellmann, M. (Hrsg.): Sowjetjugend 1917–1941. Generation zwischen Revolution und Resignation. Essen: Klartext, S. 25–61 (Zitat S. 39).
Irina Mchitarjan (Greifswald)
Zur Zitierweise der Rezension:
Irina Mchitarjan: Rezension von: Wellmann, Monica: Zwischen Militanz, Verzweiflung und Disziplinierung, Jugendliche Lebenswelten in Moskau 1920-1930. Zürich: Pano 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/90757682.html