Diese Bevölkerungsgruppe war in der damaligen Sowjetgesellschaft zum einen deshalb bedeutsam, weil sie einen groĂen Teil der Gesamtbevölkerung ausmachte: so war im Jahre 1926 fast die HĂ€lfte der SowjetbĂŒrger unter dreiĂig. Zum anderen hatten diese jungen Menschen wichtige Phasen ihrer Persönlichkeitsentwicklung in einer Zeit durchlebt, die von mehreren gewaltsamen sozialen UmbrĂŒchen in der russischen Gesellschaft geprĂ€gt war: dem Ersten Weltkrieg (1914â1918), der sozialistischen Oktoberrevolution (1917) und dem anschlieĂenden BĂŒrgerkrieg (1918â1921/1922). Es ist deshalb denkbar, dass viele Jugendliche und junge Erwachsene in der frĂŒhen Sowjetunion aufgrund ihrer spezifischen Sozialisation eine erhöhte Gewaltakzeptanz mitbrachten und dadurch bedingt möglicherweise eine besondere Rolle bei der Etablierung des Stalinschen Terrorregimes der 1930er Jahre spielten. Diese Frage zu klĂ€ren, war ein zentrales Anliegen des Forschungsprojekts, in dessen Rahmen die Studie von Monica Wellmann entstanden ist.
In der Arbeit werden also zwei Forschungsgebiete â âGeschichte der Sowjetjugendâ und âJugendgewaltâ â zusammengefĂŒhrt. Die Forschungsfragen der Autorin lauten u.a., âunter welchen UmstĂ€nden gewaltsame Verhaltensweisenâ der Jugendlichen auch nach dem Ende des BĂŒrgerkrieges in Sowjetrussland âgegenwĂ€rtig bliebenâ (18), welche Formen und Motive die Gewaltanwendung bei Sowjetjugendlichen hatte (250) und ob âhierbei âdie Jugendâ instrumentalisiert wurde oder eventuell als âdrĂ€ngende Kraftâ einen entscheidenden Anteilâ an der Durchsetzung des Stalin-Regimes hatte (18).
Zur Beantwortung dieser Fragen verwendet die Autorin primĂ€r den methodischen Ansatz der âLebensweltanalyseâ. Ziel dieser Methode ist es, aus der Rekonstruktion der Lebenswelten handelnder Personen Schlussfolgerungen ĂŒber die âEinwirkung von Strukturen und Systemen, PrĂ€gungen und Erfahrungenâ zu ziehen [2]. Dazu hat die Autorin diverse Quellen ausgewertet: Zum einen sichtete sie die ArchivbestĂ€nde des Moskauer Komsomol (Kommunistischer Jugendverband), der Moskauer Abteilung des Volkskommissariats fĂŒr Bildung sowie der âKommission fĂŒr die Angelegenheiten minderjĂ€hriger StraftĂ€terâ, zum anderen hat sie geheime, frĂŒher unter Verschluss gehaltene Jugendberichte unterschiedlicher Parteigremien sowie unveröffentlichte Briefe junger Leser an die zentralen sowjetischen Presseorgane und die FĂŒhrung der Kommunistischen Partei analysiert. ZusĂ€tzlich wurden von der Autorin Untersuchungen der damaligen sowjetischen Forscher zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Sowjetjugend, zu Rowdytum, Selbstmorden und anderen so genannten âVerfallserscheinungenâ unter den Jugendlichen ausgewertet und Gerichtszeitungen sowie die Presseorgane der Moskauer Komsomolorganisation (âMolodoj leninecâ) und des Zentralkomitees des Komsomol (âJunyj kommunistâ) analysiert.
Das Buch ist in drei Teile untergliedert. Im ersten Teil wird die Behandlung des Themas âGewaltâ im Rahmen der im Sowjetrussland der 1920er Jahre gefĂŒhrten Diskussion um die neue âkommunistische Ethikâ und die âklassengemĂ€Ăe Erziehungâ der Sowjetjugend analysiert. Im zweiten Teil wird die Frage erörtert, in welchen ZusammenhĂ€ngen Gewalt von den Mitgliedern des Komsomol erfahren, ausgeĂŒbt und thematisiert wurde. Im dritten, umfangreichsten Teil werden schlieĂlich zwei Formen von deviantem Verhalten unter den Sowjetjugendlichen der 1920er Jahre genauer untersucht: Rowdytum und Suizid. Auf der Grundlage des ausgewerteten Quellenmaterials kommt Monica Wellmann u.a. zu folgenden Ergebnissen:
- Die im Sowjetrussland der 1920er Jahre gefĂŒhrte Diskussion ĂŒber eine âkommunistische Ethikâ und âklassengemĂ€Ăe Erziehungâ hatte das Ziel, den Vertretern der jungen Generation â als den Erbauern der neuen sozialistischen Gesellschaft â ârichtigeâ Verhaltensweisen zu vermitteln. Obwohl es in dieser Diskussion auch gemĂ€Ăigte und kritische Stimmen gab (z.B. Polonskij, Korolenko), setzte sich als offizielle Linie der Partei und des Komsomol eine radikale Auffassung durch. Die AnhĂ€nger dieser Position (u.a. Lenin, Lunačarskij, Bucharin, Kalinin) vertraten die Meinung, dass der Aufbau der neuen sozialistischen Gesellschaft ohne Gewalt nicht zu erreichen sei und erklĂ€rten fĂŒr sittlich all das, was âder Zerstörung der alten Ausbeutergesellschaft [...] dientâ (Lenin 1920, zitiert nach Wellmann; 52). Die âklassengemĂ€Ăe Erziehungâ wurde demzufolge als âErziehung zu einem unversöhnlichen HaĂ gegen die Feinde des Proletariats und der werktĂ€tigen Bauernschaftâ definiert (Grigorâev 1928, zitiert nach Wellmann; 90).
- Die von Staat und Partei geforderte Kompromisslosigkeit im Umgang mit den âKlassenfeindenâ stand im Widerspruch zu dem Mangel an konkreten Handlungsvorgaben der neuen Machthaber fĂŒr die Jugendlichen (53) und zum ambivalenten Umgang des Staates mit jungen StraftĂ€tern. Auf der einen Seiten galt in Sowjetrussland bis 1935 ein progressives und im internationalen Vergleich sehr liberales Jugendstrafrecht. In der Gerichtspraxis (vor allem auf der lokalen Ebene) wurden Kinder von WerktĂ€tigen sowie junge Partei- und Komsomolmitglieder fĂŒr Gewalttaten gegenĂŒber âKlassenfeindenâ hĂ€ufig nachsichtig bestraft. Auf der anderen Seite kam es in einzelnen FĂ€llen aber durchaus zu Sanktionen der gegen die âKlassenfeindeâ gerichteten Gewalt von Arbeiter- und Bauernkindern. Der damit verbundene Kriterienwechsel fĂŒr das âangemesseneâ Verhalten eines jungen sowjetischen StaatsbĂŒrgers fĂŒhrte zur Desorientierung vieler Jugendlicher (345).
- Ambivalent war der Umgang mit dem Thema âGewaltâ auch innerhalb des Komsomol. WĂ€hrend zum Beispiel gewaltsame Ăbergriffe gegen Komsomolzen regelmĂ€Ăig publik gemacht wurden, wurde Fehlverhalten von Komsomolzen selbst kaum öffentlich thematisiert (107f.; 126ff.). âUnkameradschaftlicheâ Umgangsformen unter den Komsomolzen wurden zwar in den internen Gremien und in der Ăffentlichkeit kritisiert, diese Kritik blieb jedoch weitgehend wirkungslos: Den FĂŒhrungskreisen des Komsomol gelang es nicht, allgemein akzeptierte Verhaltensregeln fĂŒr die Komsomolmitglieder zu etablieren (125).
- Zu den hĂ€ufigsten Formen von deviantem Verhalten unter den Jugendlichen im Sowjetrussland der 1920er Jahre gehörten Rowdytum und Suizid. Die so genannten âHooligansâ (chuligany) waren nach Wellmanns Erkenntnissen hĂ€ufig Jugendliche, die sich von der Partei und dem Komsomol nur schwer oder gar nicht in die revolutionĂ€re Bewegung integrieren lieĂen und durch nichtkonforme Verhaltensweisen auffĂ€llig wurden. Die Komsomol- und ParteifĂŒhrung reagierte darauf durch die negative Darstellung einzelner Erscheinungsformen von Rowdytum in der Presse, die strenge Ahndung manch harmlosen Vergehens und die öffentliche Brandmarkung der auffĂ€lligen Jugendlichen als Hooligans. Dies fĂŒhrte jedoch nur dazu, dass die bereits bestehende Entfremdung zwischen groĂen Teilen der Jugend und dem Komsomol sich noch verstĂ€rkte (209f.; 244f.). Was die jungen Selbstmörder in der frĂŒhen Sowjetunion betrifft, so befanden sich darunter sowohl Angehörige der entmachteten Klassen, die ihre neue Stellung in der Gesellschaft nicht akzeptieren konnten, als auch AnhĂ€nger der Revolution. Bei Letzteren war das Motiv fĂŒr den Selbstmord nach Wellmann nicht selten EnttĂ€uschung ĂŒber die Staatspolitik nach dem Ende des BĂŒrgerkrieges, ĂŒber die Diskrepanz zwischen dem politischen Anspruch und der Lebenswirklichkeit und ĂŒber den Verrat der Revolutionsideale (285f.). Eine offene Diskussion ĂŒber die Probleme dieser Jugendlichen und die GrĂŒnde fĂŒr ihre Selbstmorde lieĂen die Machthaber in der Sowjetunion jedoch nicht zu (292-297).
- Wie diese FĂ€lle von deviantem Verhalten nahe legen, gelang es der neuen Staatsmacht in Russland nicht, positive Identifikationsmöglichkeiten fĂŒr alle Jugendlichen im Lande zu schaffen. Um einen Zusammenhalt zumindest innerhalb der werktĂ€tigen Jugend zu erreichen, setzten die Bolschewiki auf die Suggestion einer starken Bedrohung von auĂen. Dies war der Autorin zufolge ein verhĂ€ngnisvoller Schachzug (350), weil dadurch â so die Implikation â die Durchsetzung des Stalinschen Terrorregimes erleichtert wurde. Die Hypothese, dass die radikalisierte Sowjetjugend der 1920er Jahre aufgrund ihrer sozialisatorischen Gewalterfahrung eine wichtige Rolle bei der Etablierung des Stalin-Regimes spielte, lieĂ sich dagegen nicht bestĂ€tigen (351).
Ungeachtet dieser Kritik ist das Buch von Monica Wellmann eine lohnenswerte LektĂŒre fĂŒr Leserinnen und Leser, die sich fĂŒr die Geschichte des Sowjetstaates oder fĂŒr das Thema âJugendgewaltâ interessieren. Es enthĂ€lt interessante Befunde und Thesen und gewĂ€hrt einen anschaulichen Einblick in die Lebenswelten von sowjetischen Jugendlichen in den 1920er Jahren. Damit trĂ€gt die Studie zur weiteren PrĂ€zisierung des Geschichtsbildes der frĂŒhen Sowjetunion bei.
[1] Irina Mchitarjan: Rezension von Kuhr-Korolev, Corinna: âGezĂ€hmte Heldenâ. Die Formierung der Sowjetjugend 1917â1932. Essen: Klartext 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 2. (URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/89861349.html)
[2] Haumann, H. (2001): Jugend und Gewalt in SowjetruĂland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus im lebensweltlichen Zusammenhang. In: Kuhr-Korolev, C./Plaggenborg, St./Wellmann, M. (Hrsg.): Sowjetjugend 1917â1941. Generation zwischen Revolution und Resignation. Essen: Klartext, S. 25â61 (Zitat S. 39).