EWR 2 (2003), Nr. 6 (November/Dezember 2003)

Wolf-Dietrich Greinert
Realistische Bildung in Deutschland
Ihre Geschichte und ihre aktuelle Bedeutung
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2003
(163 Seiten; ISBN 3-89676-671-6; 18,00 EUR)
Realistische Bildung in Deutschland Der Berliner Berufspädagoge Wolf-Dietrich Greinert zeichnet sich in seinem Schrifttum durch einen Zugang aus, der bestehende Bildungssysteme aus ihrer historischen Entwicklung zu fassen sucht. Berufliche Bildung ist ein kontingentes Phänomen, das sich je nach Land in Auseinandersetzung mit der industriellen und gesellschaftlichen Dynamik und Machtverteilung begreifen lässt. In Frankreich haben sich daher andere Formen beruflicher und technischer Bildung etabliert, als in England oder eben in Deutschland. Das – wie es seit den 60er Jahren heisst – "duale System" beruflicher Bildung in Deutschland beruht nicht, bzw. nicht ausschlielich auf der Zweiteilung von Lernen im Betrieb und Lernen in der Schule, sondern auch auf einer (dualen) Arbeitsteilung zwischen Markt und Staat. Nicht nur das Lernen, darauf machte Greinert bereits in vielen früheren Veröffentlichungen aufmerksam, sondern auch die Steuerung des Systems und die politische Regulierung erfolgt zweigeteilt.

Das System beruflicher Bildung Deutschlands und sein Verhältnis zum allgemeinen Bildungswesen ist nun nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Greinert spricht daher in Anlehnung an Bollenbeck, vom "deutschen Sonderweg". Dessen Begrifflichkeit aus der Studie "Bildung und Kultur" [1] als "Deutungsmuster" dient dem Autor auch als Interpretationsfolie, um das Verhältnis von technischer, beruflicher und allgemeiner Bildung zu bestimmen. Bildung und Kultur als deutsche Eigenheit impliziere auch das Bestreben, die bildungsbürgerliche Hegemonie im Bildungswesen zu erhalten. Ein vormoderner Bildungsbegriff, der typischerweise dem sprachlich-mathematisch-historischen Fächerkanon des Gymnasiums zugrunde liegt, erweise sich zusehends als Modernisierungshemmnis. Reformfiaskos der Vergangenheit und Gegenwart lägen an der ungerechtfertigten Ausgrenzung der Bereiche Wirtschaft, Gewerbe und Technik und an der Abwertung der Naturwissenschaften. Der Autor stellt vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart eine Abfolge von Bemühungen dar, diese Defizite im Bildungswesen zu beheben. Diese ausgegrenzten Bereiche sind es wohl, die Greinert als "realistische Bildung" bezeichnet.

Allerdings definiert er diesen titelgebenden Begriff nicht bzw. nicht näher. Zwar wird von "Realschule" gesprochen und hie und da von realistischer Bildung, die in der Regel mit beruflicher Bildung, dann aber auch mit technischer Bildung enggeführt wird und meist spiegelbildlich zum allgemeinen Bildungsbegriff auch eine soziale Konnotation hat: sie bezieht sich auf die Arbeiterschaft und den aufstiegswilligen Mittelstand. Es wäre dennoch von Interesse gewesen, inwiefern es sich bei "realistischer" Bildung um eine Selbst- oder Fremdzuschreibung der jeweiligen Vertreter und Institutionen handelte, oder ob – was wahrscheinlicher ist – eine analytische Kategorie des Autors im Spiel ist. Denn könnte nicht auch ein so genannt zweckfreier Bildungsbegriff "Realismus" für sich beanspruchen?

Greinert knüpft mit seiner Veröffentlichung an die berufspädagogisch-historisch kritischen Studien von Karlwilhelm Stratmann und Herwig Blankertz an. Der historischen Darlegung von Blankertz, dass sich im 19. Jahrhundert Berufsbildung und Allgemeinbildung auf verhängnisvolle Weise auseinanderentwickelten, folgt der Autor, ohne dessen optimistische Folgerung zu teilen, dass nämlich berufliche Bildung und allgemeine Bildung, ähnlich wie Eduard Spranger dies entfaltete, versöhnbar seien und bei Blankertz in einer reformorientierten Schule münden. Greinert kommt gerade aufgrund der institutionengeschichtlichen Akzentuierung der Darstellung des Gegensatzes Berufs- versus Allgemeinbildung auf ein von ihm bevorzugtes duales Modell. Der Einbezug "realistischer Bildung" in das höhere Bildungswesen wie in die Gymnasien sei nämlich historisch wie aktuell gescheitert.

Auch die Stratmannsche Skepsis gesellschafts- und machtpolitischer Funktionalisierung beruflicher Bildung teilt er. Jedoch gelangt er dennoch bezüglich der Wertschätzung des Berufskonzeptes und des "dualen Bildungsmodell(s)" zu einer weit positiveren Einschätzung. Eine Dualisierung des gesamten Bildungswesens – auch der Hochschulen – würde die "traditionelle Randständigkeit" realistischer Bildung aufheben und diesen Qualifizierungsformen eine zentrale Position verschaffen, denn die Kombination von fachlich-systematischem Lernen in schulischen Organisationsformen und erfahrungsorientiert-situativem Lernen in betrieblich-beruflichen Organisationsformen sei "effektiv" (152f.). Diese Behauptung wird allerdings nicht näher belegt.

Das Anliegen des Autors, die weniger beachteten Linien in der deutschen Bildungsgeschichte nachzuzeichnen, ist verdienstvoll, auch wenn er weniger eigene historische Forschung präsentiert, als viel mehr eine Vielzahl von Studien und Sekundärliteratur zusammenführt. Dennoch ist ein Einwand anzubringen, der sich auf die starke Zentrierung auf Preußen und Deutschland bezieht. Im Unterschied zu anderen Studien Greinerts fallen andere Länder und, für dieses Thema auch nicht unerheblich, andere Regionen Deutschlands wie Baden und Württemberg fast vollständig außer Betracht. Die Wertschätzung "realistischer", also technischer und beruflicher Bildung ist auch in anderen Ländern nicht ohne weiteres gegeben, so dass der "deutsche Sonderweg" nicht gar so einzigartig ist. Bildungsreformen scheitern auch in anderen Ländern,ob daraus ein Modernisierungshemmnis abzuleiten ist, wäre Thema weiterer Erörterungen.

Anmerkung:

[1] Bollenbeck, Georg: Bildung und Kutlur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a.M. 1996 (zuerst 1994).
Philipp Gonon (Trier)
Zur Zitierweise der Rezension:
Philipp Gonon: Rezension von: Greinert, Wolf-Dietrich: Realistische Bildung in Deutschland, Ihre Geschichte und ihre aktuelle Bedeutung, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89676671.html