Hans Malmede geht in seiner Studie zwei zentralen Fragestellungen nach. Zum einen ist das die Frage nach den Ursachen und Mechanismen, die entscheidend dazu beigetragen haben, dass Jugend ab dem späten 19. Jahrhundert zunehmend in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses rückte. Im Mittelpunkt steht dabei der proletarische Jugendliche, an dem sich im deutschen Kaiserreich die Jugenddebatte entzündete. Zum anderen greift die Untersuchung die Frage nach der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Bearbeitung von sog. Verwahrlosung und Delinquenz auf, die in der damaligen Diskussion eine herausragende Stellung einnimmt.
Entsprechend den leitenden Fragestellungen analysiert Hans Malmede die historische Entwicklung aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Die eine Blickrichtung nähert sich, um es mit den Worten des Autors zu sagen, gewissermassen "von unten" der damals vorherrschenden Lebenssituation von Jugendlichen in der hochindustrialisierten Gesellschaft. Die andere hingegen richtet ihr Augenmerk quasi "von oben" auf die Kontroll- und Sanktionsinstanzen, die im deutschen Kaiserreich mit der Definition und Bearbeitung von sog. abweichendem Verhalten im Jugendalter befasst waren.
Den beiden divergierenden Perspektiven folgend, gliedert sich die Arbeit in zwei Teile:
Im ersten Teil erfolgt zunächst eine sozialhistorische Retrospektive, die ihren Fokus auf die Lebenssituation von proletarischen Jugendlichen richtet, wie sie im Deutschen Reich zwischen dem späten 19. und anfangs des 20. Jahrhundert vorherrschte. Die Folie bilden hier vor allem die Arbeiten zeitgenössischer Beobachter und autobiographische Texte, die einen Einblick in die Lebenswelt der Jugendlichen ermöglichen. Neben diesen eher qualitativen Dokumenten, stützt sich die Darstellung ferner auf quantitatives Material, das den rasanten Wandel der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen veranschaulicht, dessen Schatten insbesondere Menschen aus proletarischen Verhältnissen erfasste. Malmede zeigt, wie es infolge von Bevölkerungswachstum, Urbanisierung und Veränderungen der Arbeitswelt zu einem starken Anstieg der arbeitenden Jugendlichen in den industriellen Ballungsräumen gekommen ist. Er erläutert ferner die Konsequenzen dieser Entwicklung im Hinblick auf die Wohnsituation, die ökonomischen Verhältnisse, das Freizeitverhalten und die kulturelle Lebensstile der betroffenen Jugendlichen.
Anhand der Darstellung wird einmal mehr deutlich, wie schmal seinerzeit der Grat zwischen halbwegs tolerierten Jungenstreichen und Kriminalität war. Vor allem Letzterer, das verdeutlicht Malmede, kommt in der wilhelminischen Gesellschaft eine grosse Aufmerksamkeit zu. Vor dem Hintergrund der zurückliegenden Debatte, die ihre Spuren in unzähligen Darstellungen hinterlassen hat, werden verschiedene Formen von Jugenddelinquenz wie Eigentums- und Gewaltdelikte näher expliziert. Der Autor bezieht sich dabei auf Arbeiten, in denen Zeitzeugen über ihre Erfahrungen mit Lebensmittel- und Kohlenklau, Kirmes- und Kneipenschlägereien, Territorialkämpfen, gewaltsamen Protesten und den daraus resultierenden Konflikt mit der staatlichen Ordnungsmacht berichten.
Im zweiten Teil vollzieht Malmede einen Perspektivenwechsel vom Jugendlichen zu den Instanzen formeller Sozialkontrolle. Im Vordergrund steht jetzt der kriminalpolitische Diskurs der Jahre 1870 bis 1914, der zu einschneidenden rechtlichen Veränderungen geführt hat. Die historische Analyse konzentriert sich auf die Entwicklungen, die einerseits die strafrechtliche Sonderstellung und -behandlung des Jugendlichen zur Folge hat und andererseits den Ausbau eines weitreichenden Systems staatlicher Zwangserziehung bewirkt. Die Darstellung beschränkt sich wie im ersten Teil auch hier auf den männlichen Jugendlichen, nicht zuletzt, weil die Kriminalitätsdebatte der damaligen Zeit dem weiblichen Pendant vergleichsweise wenig Beachtung schenkte.
Malmede geht in diesem Zusammenhang auf die Reformdiskussion über Strafmündigkeit und ein separates Jugendstrafrecht ein und spricht die besondere Rolle der Kriminalstatistik im Hinblick auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Jugenddelinquenz an. Nachgezeichnet werden außerdem die Entwicklungslinien, die das Thema Zwangserziehung auf die Tagesordnung brachten und zu einer Verquickung von strafrechtlichen und zivilrechtlichen Sonderregelungen führten. Der damit einhergehenden Pädagogisierung des Rechts, die den Begriff Zwangserziehung durch das schönfärberische Wort Fürsorgeerziehung ersetzt, wird ebenso Rechnung getragen, wie der parallel verlaufenden Pathologisierung, zu der insbesondere Mediziner einen entscheidenden Beitrag geleistet haben. Die Ausführungen stützen sich auf Arbeiten über sog. Anstaltszöglinge, die einerseits diffamierende Attribute wie etwa "psychopathische Minderwertigkeit" oder "abnormale Jugendliche" hoffähig gemacht haben und andererseits eine inhumane Dichotomie bewirken, die zwischen sog. "Erziehbaren" und "Unerziehbaren" differenziert. Malmede ermöglicht einen Einblick in das Panoptikum der Anstaltserziehung, indem er Darstellungen einbezieht, die diesen Typus staatlicher Zwangserziehung von Innen heraus beschreiben. Als exemplarisches Beispiel dient die Anstalt Steinfeld in der Nähe des rheinischen Euskirchen. Auf der Basis historischer Dokumente, wie etwa Zöglingsakten oder Jahresberichte, werden die Zustände in der Anstalt beschrieben, in deren Mittelpunkt ein repressives Sanktionssystem von physischer und psychischer Gewalt stand, das Jugendliche gefügig machen sollte.
Die Arbeit endet mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse, die nochmals das fatale Zusammenspiel von gesellschaftlicher Wahrnehmung und Bearbeitung von Jugendproblemen verdeutlichen. Malmede überlässt hier Zeitzeugen weitgehend das Wort, die diese Entwicklungen damals entweder hautnah miterlebt oder aus der Perspektive des Erwachsenen kommentiert haben.
Insgesamt hat Hans Malmede eine interessante und durchaus lesenwerte Untersuchung vorgelegt. Ihrem im Untertitel erhobenen Anspruch, ein Beitrag zur historischen Jugendforschung zu sein, wird sie insofern gerecht, als sie weitere Einblicke in eine bedeutsame Epoche der Geschichte der Jugend und Jugendhilfe gibt. Kritisch anzumerken ist, dass eine forschungstheoretische und -methodische Fundierung des Vorgehens ausbleibt, was leider für viele historische Arbeiten gilt. Dennoch liefert die Studie Erkenntnisse, die im Zusammenwirken mit anderen wissenschaftlichen Arbeiten (z.B. von Peuckert, Herrmann, Dörner, Kuhlmann, Simon, Hafeneger etc.) das Gesamtbild über die Sozialgeschichte der Jugend langsam aber sicher vervollständigen.
EWR 2 (2003), Nr. 3 (Mai/Juni 2003)
Jugendkriminalität und Zwangserziehung im deutschen Kaiserreich bis 1914
Ein Beitrag zur Historischen Jugendforschung
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2002
(250 Seiten; ISBN 3-89676-598-1; 19,80 EUR)
Detlef Brunen (Freiburg im Breisgau)
Zur Zitierweise der Rezension:
Detlef Brunen: Rezension von: Malmede, Hans: Jugendkriminalität und Zwangserziehung im deutschen Kaiserreich bis 1914, Ein Beitrag zur Historischen Jugendforschung, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 3 (Veröffentlicht am 01.06.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89676598.html
Detlef Brunen: Rezension von: Malmede, Hans: Jugendkriminalität und Zwangserziehung im deutschen Kaiserreich bis 1914, Ein Beitrag zur Historischen Jugendforschung, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 3 (Veröffentlicht am 01.06.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89676598.html