Die Frage, wie mit Kindern und Jugendlichen umzugehen ist, die mit ihren Handlungsweisen nicht den gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen entsprechen, ist für die Pädagogik wie auch für die Medizin eine nach wie vor aktuelle Frage. Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert verdichtete sich in der Fachwelt die Vorstellung, dass in der Gesellschaft ein "Verwahrlosungsproblem" bei Kindern und Jugendlichen bestehe und dass diese Kinder und Jugendlichen einer besonderen Behandlung bedürfen. Diese Vorstellungen führten in der Weimarer Republik dann zur Etablierung der sogenannten "Psychopathenfürsorge" mit spezifischen Heimen für diese Gruppe von Kindern und Jugendlichen. Grundlegend für diese Psychopathenfürsorge wurde das psychiatrische Psychopathiekonzept, in dem bereits zu dieser Zeit erbtheoretische Postulate eine starke Akzentuierung fanden. Die aus diesem Konzept resultierenden Vorstellungen richteten sich sowohl auf eine "Besserung" der als psychopathisch erkannten Kinder und Jugendlichen, wie auch darauf, die Gesellschaft vor diesen Kindern und Jugendlichen schützen zu müssen bzw. die Gesellschaft von ihnen zu "befreien".
In dem vorliegenden Buch arbeitet Gabriele Kremer heraus, wie sich dieser doppelgleisige Anspruch der PsychopathenfĂĽrsorge in der Praxis des "Psychopathinnenheimes" in Hadamar niederschlug und realisierte.
Nach der Einleitung werden im Kapitel 2 die Zielsetzungen des Psychopathinnenheims vor dem Hintergrund des geschichtlichen Kontextes dargestellt. Die Entwicklung des Psychopathiekonzeptes, seine Durchsetzung in der Pädagogik wie auch die Etablierung der Psychopathenfürsorge wird nachgezeichnet. Ebenfalls wird verdeutlicht, wie mit der unscharfen Diagnose "Psychopathie" operierend immer mehr Kinder und Jugendlichen mit problematischen und störenden Handlungsweisen "entdeckt" wurden, so dass Forderungen nach immer mehr Einrichtungen für diese Kinder und Jugendlichen laut wurden.
Das Kapitel 3 lässt die strukturellen Rahmenbedingungen für die konkrete Arbeit in dem Hadamarer Heim deutlich werden, so z.B. die bauliche Ausdifferenzierung des Heimes, die Personalfrage wie auch die Bildungs- und Ausbildungsstrukturen. Zudem werden auch die zur damaligen Zeit existierenden Möglichkeiten und Grenzen der zwangsweisen Unterbringung der Jugendlichen verdeutlicht.
In die alltägliche Arbeit im Hadamarer Heim wird im sehr umfänglichen Kapitel 4 eingeführt. Der Leser erhält einen Einblick in die Aufnahmepraxis des Heimes, welche Diagnosen gestellt wurden, welche Aussagekraft diese hatten und welche Konsequenzen daraus resultierten. Sodann wird der Tagesablauf skizziert, auf die darin eingebundenen Reglementierungen und Kontrollen eingegangen und Hinweisen auf Misshandlungen der Jugendlichen nachgegangen. Ein weiter Teil der Arbeit setzt sich mit den in Hadamar praktizierten erzieherischen und psychiatrischen Interventionen und ihren Grundsätzen auseinander. Weitere Teil befassen sich mit der Binnendifferenzierung des Heimes und mit der Problematik der Entlassung der Jugendlichen aus dem Heim.
In dem 5. Kapitel versucht Gabriele Kremer nachzuzeichnen, welche "Erfolge" die "psychiatrisch-pädagogische Behandlung" in Hadamar überhaupt zeigte und welche Veränderung der Kompetenzen wie auch Handlungsweisen erzielt werden konnten. In diesem Kapitel wird deutlich, dass die Inhalte der "psychiatrisch-pädagogischen Behandlung" in Hadamar nur vage bestimmt waren und Diskussionen über die Effizienz der Arbeit weitestgehend unterblieben.
In dem Kapitel 6 werden dann noch die Veränderungen in Hadamar nach 1933 bis 1939 skizziert. In diesem Jahr wurde im Zuge der Einrichtung eines Reservelazaretts der Teilbereich "Psychopathinnenheim" aufgegeben.
In ihrem Resümee am Ende des Buches weist Gabriele Kremer nochmals auf einige allgemeine Probleme der "Psychopathenfürsorge" bezogen auf das Heim in Hadamar hin. Insbesondere zeigt sich dabei, dass an eine kontinuierliche inhaltliche pädagogische Arbeit allein schon aufgrund des sehr knapp bemessenen Personalschlüssels und der hohen Fluktuation der Mitarbeiterinnen nicht zu denken war und diese schon gar nicht als eine heilpädagogische bezeichnet werden kann. Was in diesem Zusammenhang als Methode der Psychopathenerziehung präsentiert wurde, waren oftmals nichts mehr als Zwangsmaßnahmen im Sinne von Isolierungs- und Disziplinierungsversuchen. Letztendlich lief die Arbeit in Hadamar im wesentlichen darauf hinaus, die Jugendlichen in den Betrieben der Anstalt zu beschäftigen. Unterrichtliche Bemühungen fanden gar nicht statt und die Möglichkeiten der Jugendlichen zur Freizeitgestaltung waren sehr gering.
Mit ihrem Buch über das "Psychopathinnenheim Hadamar" gelingt es Gabriele Kremer recht gut, einen detaillierten Einblick in die Praxis der Psychopathenfürsorge zu geben. Deutlich wird insbesondere, dass die Psychopathenfürsorge über kein tragfähiges pädagogisches Konzept verfügte, sondern eher lang tradierte Umgangs- und Interventionsformen der Pädagogik und Psychiatrie aufgegriffen wurden und zur Anwendung kamen. Den individuellen Lebenslagen und Möglichkeiten der Jugendlichen wurde dabei jedoch wenig Beachtung geschenkt.
EWR 2 (2003), Nr. 3 (Mai/Juni 2003)
"Sittlich sie wieder zu heben ..."
Das Psychopathinnenheim Hadamar zwischen Psychiatrie und Heilpädagogik
Marburg: Jonas Verlag 2002
(335 Seiten; ISBN 3-89445-311-7; 25,00 EUR)
Norbert Störmer (Görlitz-Zittau)
Zur Zitierweise der Rezension:
Norbert Störmer: Rezension von: Kremer, Gabriele: "Sittlich sie wieder zu heben ...", Das Psychopathinnenheim Hadamar zwischen Psychiatrie und Heilpädagogik, Marburg: Jonas Verlag 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 3 (Veröffentlicht am 01.06.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89445311.html
Norbert Störmer: Rezension von: Kremer, Gabriele: "Sittlich sie wieder zu heben ...", Das Psychopathinnenheim Hadamar zwischen Psychiatrie und Heilpädagogik, Marburg: Jonas Verlag 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 3 (Veröffentlicht am 01.06.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89445311.html