Knapp 15 Jahre nach dem Untergang der DDR ist das wissenschaftliche Interesse an einer kritischen Aufarbeitung der DDR-Geschichte auffallend gering geworden, zumal wenn es sich um Themen aus dem Bildungswesen handelt. Die große Resonanz der in den Medien verbreiteten "Ostalgie" ist nicht mit einer reflektierten Auseinandersetzung zu verwechseln.
Im Westteil der Bundesrepublik weckt das Thema "DDR und Hochschulen" allenfalls breiteres Interesse, wenn es, wie zuletzt im Jahre 2003, um die Frage geht, ob nicht doch noch alle Hochschulangehörigen der ‚alten’ Bundesrepublik auf eine eventuelle Mitarbeit bei der DDR-Staatssicherheit überprüft werden sollten.
Mit der hier besprochenen Studie hat Ilko-Sascha Kowalczuk seine an der Universität Potsdam angenommene Dissertation vorgelegt. Schon seit mehreren Jahren hat er sich durch eine Vielzahl von Publikationen als profunder Kenner des DDR-Hochschulwesens profiliert. Dabei war eine Nähe zur Totalitarismustheorie unverkennbar.
Die hier besprochene Studie umfasst den Zeitraum vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Jahr des Mauerbaus 1961. Ausgehend vom politisch-soziologischen (nicht lernpsychologischen) Begriff der "Intelligenz", der in seiner parteikommunistischen Definition stets anderes als der westeuropäische Begriff des "Intellektuellen" meinte, entfaltet Kowalczuk das Kernthema: die institutionelle Umgestaltung des Hochschulwesens, die Bemühungen um Heranbildung einer neuen akademischen Elite sowie das System von Privilegierung und Repression gegenüber der Intelligenz.
Dabei stützt er sich auf eine ungemein breite Literaturbasis, auf öffentliche und private Archivquellen sowie einige Interviews mit Zeitzeugen. Eine umfangreiche Bibliografie, zahlreiche Tabellen (z.B. zur Entwicklung der Studierendenzahlen) sowie Register geografischer Begriffe und Personennamen erschließen das Thema. Sowjetische ungedruckte oder gedruckte Quellen wurden nicht herangezogen, ebenso fehlen Daten z.B. zu den Ausgaben der SBZ/DDR für Wissenschaft und Forschung.
Anders als 1933 war die 1945 einsetzende neue Hochschulpolitik wenn nicht mit dem Widerstand, wohl aber mit einer verbreiteten politischen Apathie unter Hochschullehrern und Studierenden konfrontiert. Diese auf die unmittelbare eigene Lebens- und Studiensituation zentrierte Haltung hatte sich schon angesichts der nationalsozialistischen Instrumentalisierungsstrategien und Mobilisierungskampagnen während des Zweiten Weltkrieges herausgebildet und dominierte nach 1945 auch an den westdeutschen Hochschulen.
Im Bereich der sowjetischen Besatzungszone existierte, im Unterschied zur US-Zone, kein ausgearbeitetes Konzept zur Entnazifizierung und Re-education der Hochschulen. Für die sowjetischen Hochschuloffiziere war, anders als für die US-amerikanischen Alliierten, der Nationalsozialismus/deutsche Faschismus kein Produkt eines antidemokratischen Sozialcharakters, sondern das logische Ergebnis einer gesetzmäßigen Krise des untergehenden Monopolkapitalismus und der sie tragenden Bourgeoisie. In der Praxis der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) herrschte deshalb nicht wie in der amerikanischen Besatzungszone die systematische, oftmals schematische politische Überprüfung (und oft auch Entlassung) von Professoren und Studierenden vor, sondern zunächst die nur punktuelle Entlassung besonders belasteter Hochschullehrer, begleitet durch die Entnazifizierung von Lehrplänen und Bibliotheken. Nicht zuletzt die vielfach anzutreffende Wertschätzung sowjetischer Hochschuloffiziere für das Humboldtsche Universitätsmodell wie für die deutsche Philosophie dürften für dieses relativ vorsichtige Vorgehen verantwortlich gewesen sein.
Die planmäßige Verfolgung aller politisch unerwünschten Hochschulangehörigen sollte der mit dem "kalten Krieg" (1947/48) einsetzenden SED-Vorherrschaft an den ostdeutschen Hochschulen vorbehalten bleiben. Unter Führung der SED ging die anfängliche Entnazifizierung bald in die Verfolgung aller antistalinistisch orientierten Hochschullehrer und Studierenden über.
Dem Zweck der "Demokratisierung" (d.h. ab 1948 realiter der Sowjetisierung) der ostdeutschen Hochschulen sollte ein Bündel von Maßnahmen dienen: die Errichtung eines eigenen Staatssekretariats (später eines eigenen Ministeriums), damit verbunden die Zentralisierung der Hochschulpolitik durch Auflösung der ostdeutschen Länder, die Errichtung neuer Institute und Hochschulen (z.B. Gesellschaftswissenschaftliche Fakultäten), die gezielte Schließung alter Institute, der Aufbau einer privilegierten und dominierenden Akademie (ohne Lehrbetrieb), der politisch gesteuerte Zugang zum Hochschulstudium durch die Quotierung "bürgerlicher" Studierender in Abiturprüfungen und die Gründung von "Arbeiter- und Bauernfakultäten" und schließlich die parteikommunistische Politisierung des akademischen und studentischen Lebens – z.B. durch Einführung neuer Lehrpläne mit obligatorischen "Marxismus-Leninismus"-Seminaren für alle Studierenden oder den Aufbau einer SED-Organisationsstruktur innerhalb der Hochschulen.
Die mit großem propagandistischen Einsatz eingeführten "Arbeiter- und Bauern-Fakultäten" sollten das "bürgerliche Bildungsmonopol" brechen, indem Söhne und Töchter aus politisch erwünschten sozialen Schichten und mit dem "richtigen" politischen Bewusstsein ohne Abiturprüfung, nach Absolvierung ersatzweiser Vorkurse, ein Studium aufnehmen konnten. Ob der von der SED-Führung intendierte längerfristige Elitenaustausch tatsächlich eintrat, ist noch immer umstritten und nicht hinreichend geklärt, schon weil die Berufs- und Parteikarrieren dieser Absolventen zumeist nicht bekannt sind. Die nachweisbaren Effekte dieser gesteuerten sozialen Öffnung der ostdeutschen Hochschulen waren dagegen eher bescheiden. Vor allem deshalb, weil wegen zunehmend angewandter definitorischer Manipulationen die Quote der Arbeiter- bzw. Bauernkinder systematisch verfälscht wurde. So galten Väter mit einem proletarischen Ausgangsberuf auch dann noch als "Arbeiter", wenn sie längst hauptamtliche Funktionen im Staats- oder Parteiapparat ausübten. Dies erklärt auch die Quote von rund 80% Studierenden aus Arbeiter- und Bauernfamilien an den Arbeiter- und Bauernfakultäten. Auch trotz dieser statistischen Manipulationen war der Anteil von Arbeiter- und Bauernkindern an den ostdeutschen Hochschulen insgesamt erheblich geringer. Je mehr Schulabsolventen über den regulären, politisch selektiven Weg an die Hochschulen gelangten, um so mehr verloren auch die Arbeiter- und Bauernfakultäten an Bedeutung, bis sie schließlich in den sechziger Jahren geschlossen wurden.
Der Charakter einer "antifaschistischen" DDR-Hochschule wird noch durch ein anderes, bereits durch R. Jessen dokumentiertes Phänomen deutlich relativiert: Im krassen Gegensatz zum Gründungsmythos der DDR überlebte in der DDR-Professorenschaft ein erheblicher Anteil früherer NSDAP-Mitglieder. Im Jahre 1961 wiesen die ehemaligen NSDAP-Mitglieder und die aktuellen SED-Mitglieder unter den Professoren eine fast gleiche Quote auf (29,5% bzw. 31,0%). Unter den jüngeren Dozenten betrug die SED-Mitgliederquote (1962) 62,8%.
Ob mit dem skizzierten Maßnahmenbündel im Allgemeinen und den Arbeiter- und Bauernfakultäten im Besonderen das Ziel der Schaffung einer "sozialistischen Intelligenz", wie nur wenige Monate vor dem Mauerbau 1961 durch W.Ulbricht verkündet, tatsächlich erreicht worden war, bleibt fraglich. Die langfristige Loyalität oder zumindest politische Neutralität von Hochschullehrern und Studierenden sollte durch ein ausgefeiltes System von Privilegien und Sanktionen gesichert werden. Ein derart hoher Einsatz politischer Energien und finanzieller Ressourcen drängt die Frage nach den tatsächlichen Effekten dieser intendierten Maßnahmen auf. Während die massiven, aber psychologisch grobschlächtigen Indoktrinationsstrategien als weitgehend gescheitert angesehen werden können, erfüllte das Regelwerk von "Zuckerbrot und Peitsche" sehr viel besser die Intentionen seiner Urheber. Anders wäre die selbst in Krisensituationen wie dem 17.Juni 1953, dem Volksaufstand in Ungarn im Oktober 1956 oder beim Mauerbau am 13.August 1961 vorherrschende Ruhe an den ostdeutschen Hochschulen kaum zu erklären. Vermutlich verhielten sich gerade die "neuen" Studierenden aus Arbeiter- und Bauernfamilien besonders konform – immerhin betrug ihr Anteil in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre bis zu 57%. Sicherlich trug zu dieser Atmosphäre der Anpassung auch der erst mit dem Mauerbau abrupt beendete brain-drain der ostdeutschen Hochschulen bei, durch den sich, einem Überdruckventil gleich, die systemkritischsten Potenziale unter den Hochschulangehörigen selbst ausschlossen.
Etwas unklar bleibt in der stets durch eine Fülle von Literatur und Materialien gestützten Darstellung Kowalczuks, wie verbreitet das Bündnis aus Überzeugung zwischen Professoren, Studierenden und SED war. Hier wäre interessant zu erfahren gewesen, wie diese Politisierungsprozesse verliefen, welchen Bedingungen sie sich im Regelfall verdankten.
Die relativ breitflächige Präsentation oppositionellen und widerständigen Verhaltens verzerrt die tatsächlichen Proportionen, was für eine breitere Rezeption als ausgesprochen problematisch erscheint. Allzu leicht kann sich hierdurch das falsche Selbstbild einer "DDR-Hochschule im Widerstand" im kollektiven Gedächtnis etablieren – in gewisser Weise als Abgeltung der schon im Nationalsozialismus ausgebliebenen massenhaften Verweigerung.
Bei aller umfassenden Darstellung berührt Kowalczuk die "innere" Sowjetisierung der DDR-Hochschulen, d.h. der Wissenschaften im eigentlichen Sinne, kaum, und wenn, dann vor allem vermittelt über Konflikte zwischen einzelnen Hochschullehrern und den SED-Machthabern. Hier wären weitere Studien erforderlich, um z.B. auch Vergleiche mit der vorausgegangenen Nazifizierung der Wissenschaft zu ermöglichen.
Wünschenswert wäre auch gewesen, durch Kowalczuks Studie Aufschlüsse über die politischen und intellektuellen Einflüsse aus Westdeutschland einerseits und aus der Sowjetunion andererseits zu erhalten. So weit inzwischen bekannt ist, bestand zumindest zwischen Ost-Berlin und dem Westteil der Stadt bis zum Mauerbau ein reger intellektueller Austausch, zu dem neben dem Bezug westlicher Literatur auch der Besuch West-Berliner Studierender in Vorlesungen der Humboldt-Universität gehörte. Die Wirkungen dieses intellektuellen Transfers sind bislang noch nicht erforscht, weil vermutlich im Vergleich zu den ökonomischen Fragen unterschätzt. Entsprechend der auch nach der Sowjetisierung der ostdeutschen Hochschullandschaft bestehenden starken "Westorientierung" blieb die Rezeption der sowjetischen Forschung, trotz gegenteiliger offizieller Bekundungen und pflichtschuldiger Referenzen in Publikationen, offenbar vielfach nachgeordnet oder auf spezielle Fachgebiete beschränkt.
Aber auch nach dem Mauerbau bestanden durchaus Wege des intellektuellen Transfers, wenn auch unter erheblich erschwerten Bedingungen. So z.B. über Bibliotheken der evangelischen Kirchen, die von ihren westdeutschen Partnerinstitutionen mit sonst nicht zugänglicher Literatur versorgt wurden. Phänomene wie diese gehören zu einer an die Realitäten angenäherten Darstellung eines politisch repressiven Herrschaftssystems. Zumindest ist das Bild eines allumfassenden totalitären politischen Systems in dieser Hinsicht zu differenzieren.
In einem weiteren Punkt ist der Darstellung bzw. Interpretation Kowalczuks zu widersprechen: der Einschätzung des Frauenstudiums in der DDR. Der Anteil weiblicher Studierender erhöhte sich an den ostdeutschen Hochschulen bis 1961 auf rund 30%. Der zunehmende Anteil von Studentinnen an der insgesamt wachsenden Zahl von Studierenden lässt sich nicht mit den von Kowalczuk – grundsätzlich zu Recht – kritisierten patriarchalischen Strukturen der DDR vereinbaren. Gegen eine solche Argumentation spricht auch z.B. der Grad der in der DDR höheren Frauenerwerbstätigkeit, die zumindest Chancen einer ökonomischen Emanzipation eröffnete. Zum Vergleich: im Jahre 1960 waren in der Bundesrepublik rund 20% der Studierenden Frauen, der Abstand von anfangs 10 Prozentpunkten gegenüber den DDR-Hochschulen verringerte sich zwar zeitweise, betrug aber Ende der sechziger Jahre rund 12 Prozentpunkte.
Trotz der vorgetragenen Kritik bleibt festzuhalten: Insgesamt hat Kowalczuk eine ausgesprochen gründlich und sorgfältig recherchierte Forschungsarbeit vorgelegt. Sie dürfte neben der Studie von R. Jessen über die Hochschullehrer der Ulbricht-Ära und den von M. Heinemann herausgegebenen Dokumentationen über die sowjetischen Hochschuloffiziere künftig zu den Standardwerken über die Hochschulen der DDR gehören.
EWR 2 (2003), Nr. 6 (November/Dezember 2003)
Geist im Dienste der Macht
Hochschulpolitik in der SBZ/DDR 1945 bis 1961
Berlin: Links 2003
(604 Seiten; ISBN 3-86153-296-4; 24,90 EUR)
Peter Chroust (Gießen/Frankfurt a.M.)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Chroust: Rezension von: Kowalczuk, Ilko-Sascha: Geist im Dienste der Macht, Hochschulpolitik in der SBZ/DDR 1945 bis 1961, Berlin: Links 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/86153296.html
Peter Chroust: Rezension von: Kowalczuk, Ilko-Sascha: Geist im Dienste der Macht, Hochschulpolitik in der SBZ/DDR 1945 bis 1961, Berlin: Links 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/86153296.html