EWR 3 (2004), Nr. 4 (Juli/August 2004)

Astrid Messerschmidt
Bildung als Kritik der Erinnerung
Lernprozesse in Geschlechterdiskursen zum Holocaust-Gedächtnis
Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel 2003
(280 S.; ISBN 3-86099-315-1; 19,00 EUR)
Dass Erinnerung nicht als "reine Vergegenwärtigung" eines historischen Geschehens verstanden werden kann und also unser Umgang mit erinnerter Geschichte durch unsere gesellschaftliche Situation bestimmt ist, ist der Ausgangspunkt dieses Buches. Als soziale Praxis lässt sich Erinnerung nicht unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Funktion und Positionierung denken – sie zeichnet sich durch Machtstrukturen (Foucault) aus. In ihrer Dissertation geht es Astrid Messerschmidt um eine systematische Beschreibung und Analyse sowie einer Kritik dieser Strukturen. Sie richtet ihren Blick auf die Erinnerungsdiskurse des Holocaust, wobei ihr die Geschlechterfrage als systematischer und materialer Bezugspunkt dient: Diese spezifiziert einerseits den thematischen Zugriff auf die Erinnerungsdiskurse, andererseits erlaubt sie, die universalistischen Züge des Bildungsbegriffs aufzubrechen. Der letztgenannte Aspekt gewinnt Bedeutung angesichts des Versuchs, über eine systematisch geleitete Analyse hinaus die Möglichkeiten zu untersuchen, den kritischen Umgang mit Erinnerungsdiskursen als Bildungsaufgabe zu formulieren.

Das erste der sieben Kapitel leitet in die Bezüge von Bildung und Erinnerung ein. Hier wird zunächst herausgestellt, dass die Erinnerung kultureller und gesellschaftlicher Begebenheiten selbst eine Aufgabe der Bildung bezeichnet. Aus kritischer Sicht bezieht sich Bildung allerdings auch auf die Weisen, wie Vergangenes angeeignet wird; sie macht die Interessen jener transparent, die sich erinnern. In diesem Gedanken steckt nicht nur eine Absage an die "authentische Erinnerung", sondern auch eine Kritik der Bildung (genetivus obiectivus), insofern sich im Erinnerungsprozess der Bildungsanspruch als gescheiterter zeigt. Astrid Messerschmidt macht an dieser Stelle im Anschluss an Heydorn auf den inneren Widerspruch der Bildung aufmerksam, "gleichzeitig Herrschaft zu sichern und die Potenziale bereit zu stellen, Herrschaftsverhältnisse zu sprengen und Widerstand zu ermöglichen" (30). Der soziokulturelle Hintergrund der Holocaust-Erinnerung ist hinsichtlich dieser dreifachen Perspektive zu untersuchen: Bildung bezieht sich auf das Erinnerte, das Erinnern sowie das Nicht-Erinnern, d.i. das Vergessen und das Vergessen des Vergessens.

Bevor konkret auf erinnerte Geschichte in Geschlechterdiskursen eingegangen wird (III), leitet Astrid Messerschmidt in die Grundprobleme der Geschlechterdifferenz und den pädagogischen Umgang mit ihr ein (II). Die Grundthese ist die der gesellschaftlichen Vermittlung der Geschlechterpositionen. Sie konstituier(t)en eine binäre Geschlechterordnung, die unter Rückbezug auf die Arbeiten Judith Butlers und Michel Foucaults kritisch erarbeitet wird. Der hier erhobene Einspruch gegen diese Ordnung geht allerdings über deren binäre Struktur hinaus: Hinterfragt werden gleichermaßen allgemeine und universalistische Identitätszuschreibungen ("wie eine Frau/ein Mann zu sein hat"). Eine Öffnung oder Dekonstruktion des Differenzdenkens könne ansetzen bei der "Unabgeschlossenheit" und "Nicht-Vollständigkeit von Identität" (68). Die so eröffnete Spaltung und Unvollständigkeit des Subjekts sei bildungstheoretisch fruchtbar zu machen und damit kritisch auf eine Bildungstradition anzuwenden, in der Frauen "ausgeschlossene Eingeschlossene" seien (S. Harding).

In Bezug auf die Erinnerungsarbeit hinsichtlich der NS-Geschichte bedürfe die feministische Theorie allerdings einer Erneuerung. Zwei Grundmodelle bestimmen bislang, so Messerschmidt im Anschluss an Kessel/Signori, die Frauengeschichtsschreibung: die heroische Sicht (Geschichte der starken und widerständigen Frauen) und die tragische Sicht (Unterdrückung der Frauen in der Geschichte). Beide Sichten schreiben den Raum der Erinnerung für Frauen fest. Dabei bedinge vor allem die Täter-Opfer-Dichotomie eine Engführung, da Frauen vor dem Hintergrund der Frauenfeindlichkeit des NS-Systems nur als Opfer des Nationalsozialismus erscheinen könnten. Notwendig sei hier ein "schielender Blick", der diese Erinnerungsstrukturen und ihre Bedingungen freilege und die eigene Perspektive (Fremd- und Selbstwahrnehmung) als solche wahrnehmbar mache. Ein solcher Blick hefte sich z.B. auf die Unterstützung und Mitwirkung des Nationalsozialismus durch Frauen oder das unterschwellig fungierende Bild der weißen heterosexuellen Frau. Erweitert bzw. theoretisch vervollständigt werden diese Überlegungen im fünften Kapitel, in dem Rassismusanalyse und Geschlechtertheorie zusammen genommen werden und so eine selbstkritische Wendung in der feministischen Forschung begründet wird.

Zurück zum "schielenden Blick". Der Versuch, diesen bildungstheoretisch auszuarbeiten (IV), setzt bei den einzelnen Generationen an, die Erfahrungs- bzw. Erinnerungsgemeinschaften bilden – so kommt der schwierige Begriff des "kollektiven Gedächtnisses" ins Spiel. Um die Erinnerungsstrategien bspw. der so genannten "dritten Generation" (EnkelInnen der Täter) kritisch zu untersuchen, bedarf es eines Verständnisses von Geschichte, welches die Gegenüberstellung von persönlicher Erfahrung versus objektiver geschichtlicher Wahrheit als Verkürzung entlarvt. Dazu dient der Autorin Aleida Assmanns Begriff der "Gedächtnisgeschichte". Dann wird der mit zunehmender zeitlicher Distanz erfolgende politische Umgang mit der NS-Vergangenheit zum Gegenstand kritischer Erinnerungsarbeit. Denn: "Erinnert werden ja nicht nur individuell erlebte Begebenheiten, sondern auch Kommunikationsprozesse über historische Gegenstände. Erinnert wird, wie im eigenen sozialen Kontext über die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust gesprochen und geschwiegen wurde. […]" (110).

Die Autorin versucht nun zu zeigen, dass die Unabschließbarkeit und Wandelbarkeit der Erinnerung ein widerständiges Potenzial enthält: Erinnerung kann Herrschaftsverhältnisse stabilisieren; sie kann als "Gegenerinnerung" aber auch eine "subversive Kraft entfalten und die Kontinuität der Gegebenheiten destabilisieren" (116). Damit ist klar: Es geht der Autorin nicht darum, den Holocaust als unantastbares Geschehen in der Erinnerung zu verorten: "Wenn die Überzeugung von der Einzigartigkeit [gem.: von Auschwitz; C.T.] nicht dazu führen soll, dass sich das Gedächtnis museal abschließt, so ist die Singularität von Auschwitz nicht als vergangene Einmaligkeit aufzufassen, auf die wir Heutigen uns empörend und distanzierend beziehen" (188). Wird hier eine sowieso unvermeidbare Bemächtigung der Vergangenheit gerechtfertigt? Gibt es ein 'Eigenrecht des Vergangenen'? Benjamins geschichtsphilosophisch-theologische Überlegungen und Adornos Zeitperspektive "Nach Auschwitz" lesen sich als Reaktionen auf diese Problematik.

Nach Messerschmidt ist mit Adorno der 'Stachel im Denken' bildungstheoretisch bedeutsam, der die Beruhigung mit einer sich vergewissernden Erinnerung unmöglich macht. Hier habe die Bildungsarbeit anzusetzen, die sich allerdings in postkolonialen und durch Migration bestimmten Gesellschaften veränderten Bedingungen gegenübersehe (VI). Das kollektive Gedächtnis bekomme eine neue Dynamik, da es sich nicht mehr vorrangig entlang einer nationalen Zugehörigkeit bilde. Dies beinhaltet, so die Verfasserin, eine Gefahr wie eine Chance für das Holocaust-Gedächtnis. Die Chance liege darin, bestehende Erinnerungspolitiken aufzubrechen und Formen und Folgen des Kolonialismus dem Gedächtnis aller erst zugänglich zu machen; die Gefahr sei die einer Universalisierung des Gedächtnisses und damit einer Nivellierung der je eigenen Gedächtnisbezüge zum Holocaust, indem sich die 'Fiktion einer Weltgesellschaft' ein "kosmopolitisches Gedächtnis" oder Gewissen gebe.

Im abschließenden Kapitel zieht Astrid Messerschmidt Schlussfolgerungen für den Bereich der politischen Erwachsenenbildung. Dem "konservativen Anspruch", aus der Geschichte "eine Lehre zu ziehen" (227) wird die Aufforderung einer Selbstauseinandersetzung mit dem Wie der Erinnerung entgegengestellt, die sich dem Bewusstsein, dass es keine neutrale Erinnerung gibt, stellt. Wird die Konstellation von Vergangenheit und Gegenwart in der Erinnerung transparent, so ist es möglich, vermittels der Erinnerung für die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse zu sensibilisieren. Dabei dürfe die Konstellation von Vergangenheit und Gegenwart nicht in Letztere 'umkippen' (- ist sie dies aber nicht schon längst?).

Als zentralen Aspekt der Bildungsarbeit nennt Messerschmidt die Subjektorientierung, durch die persönliche Bezüge hinein genommen werden und welche die Frage der Selbstverantwortung für die erinnernde Aneignung historischer Vorgänge virulent werden lässt. Der Blick fällt dabei zurück auf die Machtförmigkeit der Subjektivität (formendes und geformtes Subjekt), welche durch die Geschlechterperspektive sichtbar gemacht werden kann und "die Ideologien des sich selbst schaffenden Individuums, das deshalb auch voll und ganz für sich selbst verantwortlich ist und seine Lernprozesse selbst steuert, zurückzuweisen" erlaubt (240). Hierher gehört der oben bereits angesprochene Widerspruch von (bürgerlicher) Bildung und Herrschaft, der abschließend die "Selbstverstrickung in der Erinnerung" aufzunehmen erlaubt.

Das Buch von Astrid Messerschmidt besticht durch die Vielseitigkeit der theoretischen Bezüge. Dem Verhältnis von Bildung und Erinnerung wird im Rahmen bislang unausgeschöpfter bildungstheoretischer Überlegungen Adornos nachgegangen. So gelingt es, den Bildungsbegriff für die notwendige Selbstkritik zu öffnen. Der Bezug zur Geschlechterfrage dient nicht nur der Konkretisierung, sondern erlaubt eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschlechterforschung im Spannungsfeld aktueller, insbesondere postkolonialer und poststrukturalistischer, Fragestellungen. Diese Mannigfaltigkeit der theoretischen Anschlüsse überzeugt, obgleich sie der Grund für einige Wiederholungen und manche systematische Unübersichtlichkeit ist.

Zu verschwommen bleiben m.E. die Konturen und Kategorien des 'kollektiven Gedächtnisses': Wenn auch meine Erinnerung nur in ihrem sozialen und kulturellen Kontext begreiflich wird, so bin doch ich jene, die sich zu dieser bzw. zu den Erinnerungsstrategien (kritisch) verhält. Was ist der systematische Bezugspunkt für diese Wende auf das Subjekt? Die Machtförmigkeit der Erinnerung erlaubt mit Foucault nur noch von "Erinnerungspolitiken" zu sprechen. Wodurch bemisst sich, was Störung und was Stabilisierung der gegenwärtig zu kritisierenden Verhältnisse ist?

Könnte entgegen dieser Interpretationslinie nicht auch die Unverfügbarkeit der Erinnerung an den Holocaust gestellt werden, die diese einer Instrumentalisierung entzieht? Geht unser Verhältnis zu diesem Geschehen mit anderen Worten über eine Konstellation von Gegenwart und Vergangenheit hinaus, weil wir uns dazu nicht verhalten können? Und ließe sich hier (noch stärker mit Adorno) ein Bezug denken, der alles andere als "museal" wäre? An diese Frage schließt sich eine weitere an, nämlich die, mit was für "Selbstverhältnissen" wir es in solchen Bildungsprozessen zu tun haben.
Christiane Thompson (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Thompson: Rezension von: Gonon, Philipp / Stolz, Stefanie (Hg.): Betriebliche Weiterbildung, Empirische Befunde, theoretische Perspektiven und aktuelle Herausforderungen, Bern: h.e.p. 2004 . Messerschmidt, Astrid: Bildung als Kritik der Erinnerung, Lernprozesse in Geschlechterdiskursen zum Holocaust-Gedächtnis, Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel 2003 . In: EWR 3 (2004), Nr. 4 (Veröffentlicht am 05.08.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/86099315.html