Vorliegender Sammelband dokumentiert einen Diskurs, der aus einem in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerten Projekt entstanden ist: Studierende (jüngere sowie solche des „dritten Lebensalters“) und Hochschullehrer/innen verschiedener Disziplinen verlassen ihre Universität, um ein Seminar zum Thema: „Erinnerungsarbeit als Aufgabe einer reflexiven Moderne“ an einem selbst mit Erinnerungsarbeit befassten Ort, der Villa ten Hompel in Münster, abzuhalten. Angesichts der selten werdenden Möglichkeiten zur unmittelbaren Befragung von Zeitzeugen einerseits und angesichts einer immer häufiger spürbar werdenden Geschichtsverdrossenheit der heutigen Schülergenerationen andererseits stellen sich in der Geschichtsdidaktik mit großer Dringlichkeit Fragen nach neuen Möglichkeiten der Vermittlung von Erinnerung. Die Suche bewegt sich zwischen der Darbietung von historischen Daten und Fakten, die ein reflexives Wissen zu vermitteln versprechen, dabei aber fern und abstrakt bleiben und einem nicht minder einseitigen „Gedenkstättentourismus“, der zwar vielleicht persönliche Betroffenheit, oft aber keine nachhaltige Lernbereitschaft hervorrufen kann. Als produktiv hat sich hier der Besuch solcher Geschichtsorte wie der Villa ten Hompel bewährt, welche die Authentizität ihrer eigenen Geschichte mit der „unprätentiösen Nüchternheit“ (10) ihrer Archive verbindet. Die Villa ten Hompel war von 1940 bis 1945 regionaler Sitz der Ordnungspolizei. Nach dem Krieg arbeitete dort unter anderem die Wiedergutmachungsbehörde (1953-68). Heute dient sie als Archiv, Museum, Forschungs- und Seminarlokalität, als Geschichts- und Bildungsort, der sich die eigene Geschichte zum Thema macht und sich dabei als „didaktische Schnittstelle“ (213) zwischen Lernen, Forschen und Erinnern begreift.
Die Beiträge des Bandes sind in drei Abschnitten gruppiert, die je als Arbeit am „Begriff“, als Arbeit „in der Schule“ und schließlich als Arbeit „am Geschichtsort“ selbst benannt sind.
Annett Hermann eröffnet den ersten – um den Begriff der Erinnerung und Erinnerungsarbeit kreisenden – Abschnitt mit einem zeitphilosophischen Beitrag, in dem sie über die Bedingungen und Schwierigkeiten nachdenkt, die heute mit der Herstellung „zeitlicher Nähe“ als einer Grundbedingung für Erinnerungsarbeit angesichts der immer stärker sich beschleunigenden Moderne einhergehen. Um der Dominanz des daraus entstehenden ökonomisierten Zeitbegriffs nicht ausgeliefert zu sein, bedürfe es eines Konzepts „temporaler Multiperspektivität“ (33). Diese könne nur in einer Schule erworben werden, die sich neben dem Vermitteln von Faktenwissen und gesellschaftlichen Zusammenhängen immer auch die Herausbildung einer kritischen Distanz zum erworbenen Wissen zur Aufgabe mache.
Jens Birkmeyer leistet im zweiten Beitrag selbst Erinnerungsarbeit, indem er an die Arbeiten Walter Benjamins zur und über Erinnerung erinnert. Dabei arbeitet er besonders intensiv die „subversiven“ Kräfte des Erinnerns anhand zentraler theoretischer wie literarischer Werke Benjamins heraus. Erinnern ist die Freilegung dessen, was hätte sein können, aber nicht gewesen ist. Es ist eine Arbeit an den vergangenen Möglichkeiten „im Modus des konstruktiven Wünschens“ (37). Den ersten Abschnitt beschließen der programmatische Text zur „Erinnerungsarbeit als Voraussetzung einer reflexiven Moderne“ sowie ein kommentierender Beitrag dazu. Ursula Reitemeyer widmet sich in ersterem der Frage nach den modernitätstheoretischen Bedingungen und Notwendigkeiten von Erinnerungsarbeit. Die darin enthaltene Reflexivität sichere die Möglichkeit stetiger Balancierung von technisch praktischer und moralisch praktischer Vernunft, die zum Kerngeschäft der Moderne gehören müsse. Sie bezieht hier Erinnerungsarbeit in gleichem Maße auf das Kollektiv wie auf das Individuum im Prozess seiner Bildung. Während Reitemeyer sich in ihrer Argumentation auf die kritische Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule bezieht, ergänzt Thomas Kleinknecht diesen Ansatz um den Kritischen Rationalismus Poppers. Er erläutert die Notwendigkeit, Erinnerungsarbeit immer auch als Arbeit an der Sprache zu konzipieren.
Wie Erinnerungsarbeit in der Schule geleistet werden kann, wird in fünf sehr unterschiedlichen Beiträgen des zweiten Abschnittes behandelt. Man mag sich zunächst wundern, dass der Geschichtsunterricht hier kaum eine Rolle spielt, Erinnerungsarbeit vielmehr als Querschnittsaufgabe in verschiedenen Fächern und Feldern der (historischen) Schulpädagogik lokalisiert wird. Es liegt aber gerade hierin der Gewinn des Buches, dass die Angewiesenheit der Erinnerungsarbeit auf eine Kooperation von Geschichtswissenschaft mit anderen Disziplinen nicht nur gefordert, sondern auch konkret vor Augen geführt wird. So wird etwa der Pädagogikunterricht in der Sekundarstufe II zweimal thematisiert. Oliver Geister stellt ihn als ein Feld vor, in dem die institutionelle Verfasstheit von Schule in spezifischer Weise reflektiert werden könne: Schule sei zum einen – so argumentiert Geister mit Zygmunt Bauman – nicht der richtige Ort für Erinnerungsarbeit, weil sie selbst der „Dialektik der Ordnung“(Bauman) unterliege, welche die Moderne insgesamt kennzeichne, und aus ihr auch der Holocaust hervorgegangen sei. Sie sei aber dennoch als Bildungsinstitution durchgängig dem Prozess der Selbstaufklärung verpflichtet. Dieser Paradoxie könne sie nur begegnen, indem sie sich selber als offene und lernende Organisation begreife und gestalte. Elke Ademmer und Franz Ullrich Göttlicher hingegen sehen im Pädagogikunterricht (wie auch in der Lehrerbildung) den Ort, in dem das Theorem der „Gefühlserbschaften“ behandelt werden könne, die z.B. innerhalb von Familienerzählungen weitergegeben werden und die häufig in einem Spannungsverhältnis zu den im Geschichtsunterricht vermittelten Fakten stehen. Die Autoren beziehen sich dabei wesentlich auf die Arbeiten von Gabriele Rosenthal. Mit diesen beschäftigt sich auch der Beitrag von Anna Fiegen „Erinnerungsarbeit im Lehramtsstudium“, der ausgeht von der Feststellung, dass heutige Lehramtsstudierende selbst schon der geschichtsverdrossenen Schülergeneration zugehörten, daher eine Erinnerungsarbeit im Studium geboten sei; denn diese wiederum unterrichten diejenigen Schülerinnen und Schüler von morgen, denen ein persönlicher Kontakt zu Zeitzeugen nicht mehr möglich sein wird.
Mehr auf das System der NS-Schule bezogen sind die beiden Beiträge von Peter Werner bzw. Friedhelm Brockhausen, Paul-Heinz Gasche und Peter Werner. Sie führen schulgeschichtliche Erinnerungsarbeit vor, indem sie insbesondere auf den Umgang mit Hilfsschülern und den mit ungelernten Arbeitern (in der Berufspädagogik) eingehen. In beiden Beiträgen wird der Bezug zu aktuellen Fragen der Schulpädagogik und (Berufs-)schultheorie hergestellt. In diesen Beiträgen wird deutlich, dass Erinnerungsarbeit auch ohne allzu großen theoretischen Apparat beeindruckende Ergebnisse hervorzubringen vermag.
Im dritten Abschnitt schließlich („Arbeit am Geschichtsort Villa ten Hompel“) rückt der Entstehungsort des dokumentierten Diskurses selbst ins Zentrum. In drei Beiträgen erfährt man Genaueres über die Entstehung, die Arbeit und das Selbstverständnis der Villa ten Hompel in Münster. Christoph Spieker rekonstruiert in seinem Beitrag die wechselvolle Geschichte der Villa ten Hompel in Münster, der heute ein „Ort für eine reflektierte Erinnerung der Zeitgeschichte, […] eine Forschungs-, Erinnerungs- und Bildungsstätte“ (159) sei und beschreibt anschaulich aktuelle Tätigkeiten sowie zukünftige Vorhaben. Im engeren Sinne mit geschichtsdidaktischen Fragen, die am Geschichtsort als einer Bildungsstätte virulent werden, befasst sich der Beitrag von Fredrik Plöger. Auf dem Weg zu einer sich ihrer eigenen Zeitbedingtheit bewussten Didaktik, die die „wechselseitige Bindung von historischer Deutung und gegenwärtiger Orientierung“(169) anerkennt, setzt er sich ausführlich und kritisch mit den zwei didaktischen Prinzipien der „Personalisierung“ einerseits und der „Geschichtswerkstätten“ andererseits auseinander. Daran direkt anschließend behandelt der letzte Text des Bandes (Christoph Schäfer) geschichtsdidaktische Konzepte, die das Verhältnis von Einzelfall und System in der historischen Vermittlungsarbeit noch einmal in ihrer gedächtnistheoretischen Verortung betrachten. Alle drei Beiträge erhellen so auch noch einmal die vorangegangenen Texte, indem sie die speziellen geschichtsdidaktischen Möglichkeiten des Geschichtsortes aufzeigen und die Unterschiede zu anderen Methoden mit ihren je spezifischen Begrenzungen deutlich werden lassen.
Man fragt sich am Ende der LektĂĽre dieses reichhaltigen Sammelbandes, warum es nicht eigentlich viel mehr solcher Geschichtsorte gibt. An fehlenden BegrĂĽndungen fĂĽr ihre geschichtsdidaktische Fruchtbarkeit kann dies ebenso wenig liegen wie am Fehlen von Beispielen gelungener Praxis in ihnen. Beides liefert das vorliegende Buch zur GenĂĽge.
EWR 7 (2008), Nr. 1 (Januar/Februar)
Erinnerungsarbeit in Schule und Gesellschaft
Ein interdisziplinäres Projekt von Lehrenden und Studierenden der Universität Münster in Zusammenarbeit mit dem Geschichtsort Villa ten Hompel
MĂĽnster et.al.: Waxmann 2007
(217 S.; ISBN 3-8309-1807-0; 24,90 EUR)
Cornelie Dietrich (Hildesheim)
Zur Zitierweise der Rezension:
Cornelie Dietrich: Rezension von: Birkmeyer, Jens / Kleinknecht, Thomas / Reitemeyer, Ursula (Hg.): Erinnerungsarbeit in Schule und Gesellschaft, Ein interdisziplinäres Projekt von Lehrenden und Studierenden der Universität MĂĽnster in Zusammenarbeit mit dem Geschichtsort Villa ten Hompel. MĂĽnster et.al.: Waxmann 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091807.html
Cornelie Dietrich: Rezension von: Birkmeyer, Jens / Kleinknecht, Thomas / Reitemeyer, Ursula (Hg.): Erinnerungsarbeit in Schule und Gesellschaft, Ein interdisziplinäres Projekt von Lehrenden und Studierenden der Universität MĂĽnster in Zusammenarbeit mit dem Geschichtsort Villa ten Hompel. MĂĽnster et.al.: Waxmann 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091807.html