EWR 5 (2006), Nr. 6 (November/Dezember)

Alfred Schäfer / Michael Wimmer (Hrsg.)
Selbstauslegung im Anderen
MĂĽnster, New York, MĂĽnchen, Berlin: Waxmann 2006
(180 S.; ISBN 3-8309-1639-6; 19,90 EUR)
Selbstauslegung im Anderen In der Reihe „Grenzüberschreitungen. Pädagogik und Kulturwissenschaften“ geht es den Herausgebern Alfred Schäfer und Michael Wimmer darum, die Grenzen der Disziplin Erziehungswissenschaft über die Anderen, über die anderen Perspektiven anderer Disziplinen (z.B. Ethnologie, Psychoanalyse, Philosophie, Kultur- und Sozialwissenschaften) auszuloten. Der vierte Band legt den Fokus auf die „Selbstauslegung im Anderen“, wobei das Ringen um das Andere (im und am Selbst und Fremden) die Grenze der Möglichkeiten im Wissen und Können aufzeigt.

Wenn eine zunehmend geforderte Aufgabe von Bildung und Erziehung die Befähigung zu einer „interkulturellen Kompetenz“ (10) sei, dann findet die Anerkennung der Differenz zwischen eigener und fremder Kultur – wie die Achtung der Andersheit in der oft verkannten Unzugänglichkeit des Fremden – ihre Grenze. Diese von den Herausgebern einleitend angenommene prinzipielle Unzugänglichkeit des Anderen wirkt sich auch auf die Erkenntnis des Eigenen aus. Selbstauslegung im Anderen meint damit u.a. die notwendige Konstruktion des Anderen, um sich selbst davon zu differenzieren und über die Grenze zum Anderen eine eigene Identität zu stiften. Mit der notwendigen Grenzziehung zwischen sich und Anderen wird gleichzeitig die Grenze zum Anderen insofern überschritten, da die Durchsetzung seiner Selbstauslegung in Anderen eine Anmaßung des Selbst und Zumutung den Anderen gegenüber darstellt. Für die Pädagogik z.B. zeigt sich dies in der Vergöttlichung oder Verteufelung des Kindes. Beiden ist gemeinsam, dass in der Selbstauslegung des Pädagogen im Anderen der Kindheit dessen pädagogisches Eingreifen, ob bewahrend oder korrigierend, legitimiert wird. Die politische und ethische Brisanz der Unzugänglichkeit des Anderen ergibt sich aus der Unmöglichkeit, ihm gerecht zu werden. Die Frage ist damit, wie mit dem Anderen umgegangen werden kann, ohne ihn auf Eigenes zu reduzieren und ohne ihn zu ignorieren. Die andere Seite der problematischen Macht in der Durchsetzung eigener Selbstauslegung im Anderen ist die Ohnmacht gegenüber der eingeschriebenen Auslegung des Selbst von Anderen.

Die Einschreibung des fremd Bleibenden in das Eigene kann sich, wie der erste Beitrag von Bernhard Streck zeigt, z.B. in Form von Besessenheit äußern. Der Ausdruck des fremden Eindrucks zeigt sich in rituellen Trancezuständen. „Fremdauslegung im Selbst“, so der Titel des Beitrags, formuliert insofern einen Perspektivenwechsel auch innerhalb der ethnologischen Disziplin, weil nicht der Fremde als solcher expliziert wird, sondern dessen Selbstentfremdung im Kult (27). Die Besessenheit wird als eine Inbesitznahme durch eine außermenschliche Wesenheit beschrieben, die weder beherrscht, kontrolliert noch versöhnt werden kann und soll. Es geht vielmehr um eine Kooperation der zwei Identitäten, die mit Durkheims Begriffspolarisierung „profan“ und „sakral“ benannt werden können (32). Das Unkontrollierbare des Anderen wird im Kult z.B. durch groteske Nachahmung zum Ausdruck gebracht. Der bleibenden Ohnmacht, sich das Andere als unbegreifbares Anderes anzueignen, steht eine vielfältige Formen annehmende Macht der Begeisterung gegenüber. So kann das in Geistern verkörperte Andere aus Natur (Wasser wie Tiere) oder Kultur (Kolonialherren wie Eisenbahn) sich generieren; es bleibt, und das macht eine postkoloniale Wiederauflebung der Besessenheit erklärbar, die Verkörperung einer (sozialen) Unterlegenheit (37). Das uns irritierende Fremde an der Besessenheit verdeutlicht Streck an dem Wort „Begeisterung“. Wenn wir – wie üblich im deutschen Sprachgebrauch – „Begeisterung“ als eine Disposition im Subjekt verstehen, bleibt sie uns als eine Besitzergreifung einer außermenschlichen Wesenheit unverständlich. Die Vorstellung, dass es keine tote Materie gebe und von allem eine Wirkung ausgehe, ist selten im europäischen Diskurs. Streck lässt allerdings unthematisiert, dass auch im Versuch, die Besessenen zu verstehen, eine Selbstauslegung des Autors in den Anderen erfolgt. Es wird dem Leser jedoch leicht gemacht, dies durch die verschiedenen Interpretationen der Besessenheit, die im Artikel vorgestellt werden, zu erkennen.

Auch im zweiten Beitrag des Bandes geht es im Kern um Besessenheit. Iris Därmann führt überzeugend aus, dass in pazifischen (sic!) Vorstellungen von Gabe mit der übergebenen und empfangenen Sache ein Teil der fremden Person gegeben und aufgenommen würde. Der Gegenstand der Gabe übt somit eine Wirkung auf den Empfänger aus. Der Empfänger besitzt den Gegenstand nicht, sondern wird von ihm ergriffen und in einer Ohnmacht oder Abhängigkeit gehalten. Von diesem Verständnis der Gabe, in welchem weder zwischen Person und Sache noch zwischen Gabe und Tausch unterschieden wird, hätte Derrida sich in seiner Vorstellung einer „reinen Gabe“ irritieren lassen können. Seine eurozentrische Auffassung zeuge eher von einer Selbstauslegung im Anderen in einem negativen Sinne: die Andersheit des Anderen wird auf ein Defizit reduziert, so die Kritik von Därmann.

Karl-Josef Pazzini holt das Thema des Unkontrollierbaren im Subjekt über die Thematisierung des psychoanalytischen Settings nach Europa. Wie im kultischen Ritual die Besessenen ihren Geist verkörpern, um im alltäglichen Leben mit ihm zu kooperieren, legt der Analysant sein Ich vor dem Anderen aus. „Auslegung vor einem Anderen“ – so der Titel – erfolgt in der künstlich geschaffenen Atmosphäre, die vor allem durch den Entzug des Blicks gekennzeichnet sei. Aufgrund des Nichtsehens des Anderen, vor dem man sich auslegt, kommt es zu einem Spielraum, in dem das sprechende Ich sich vom imaginierten Ich zu trennen vermag (66). Was dabei verhindert werden soll, ist die Einbildung, sich zu kennen beim Analysanten und sich auszukennen beim Analytiker. Damit werde beiden der Einbruch des Fremden gewährt und mit der Vermeidung von Einbildung Bildung ermöglicht. Die Bildung des Subjekts entsteht aufgrund des nicht sichtbaren, aber präsenten Anderen, der mit seiner gefühlten Anwesenheit die Bühne der Selbst-darstellung und -auslegung eröffnet.

Barbara Rendtorff leistet mit ihrer Frage „Ist der ‚Andere des anderen Geschlechts’ ein besonderer Anderer?“ einen sehr interessanten Beitrag zur Genderforschung. „Die leiblich-genitale Ausstattung der Individuen zeigt eine strukturelle Nichtvollständigkeit an, sie ist immer nur eine der beiden unterschiedlichen Formen menschlicher Existenz“ (82). Die Illusion, mit der Kopula sich zu vereinigen, die Differenz und Unvollständigkeit zu überwinden, muss in der Realität scheitern und trägt in sich ein erhöhtes Gewaltpotenzial, den Anderen zu nehmen oder das zu nehmen, was einem fehlt. Aber auch das diesem Bedürfnis-Modell gegenüberstehende Begehrens-Modell hat nur Lösungen, die keine sind: Depression als Folge der Einsicht in die Unmöglichkeit, den Anderen oder sich selbst zu besitzen oder die Verleugnung der bleibenden Differenz (86). An der geschlechtlichen Beziehung käme es – so Rendtorff – zur Einsicht in die Unmöglichkeit, den anderen zu assimilieren, aber dennoch seiner bedürftig zu sein. Diese Einsicht lasse sich auf die politische Ebene übertragen und könne Gleichheitsphantasmen und binäre Denkweisen zumindest aufdecken, wenn auch nicht verhindern. Die Frage bleibt allerdings unbeantwortet, wie ein Umgang mit dem Fremden ohne Vereinnahmung und ohne Ausgrenzung aussehen kann.

Alfred Schäfer deutet diesbezüglich Antworten an. Auch ihn beschäftigt die Frage, wie Anerkennung des Anderen möglich sein kann, ohne ihn durch symbolische Einordnung zu verkennen und ohne in ihm nur das Eigene zu sehen. Die Selbstauslegung im Anderen steht in der Gefahr, den Anderen immer so auszulegen, dass man selbst damit und mit sich gut zurechtkommt. Dabei wird das erkenntnistheoretische Problem der Unzugänglichkeit des Anderen mit dem praktischen Problem, dem Anderen gerecht zu werden, verknüpft. Um also die genannten Probleme zu vermeiden, wird nach Regeln gesucht, die die Andersheit des Anderen bewahren. Eine mögliche ist die Sakralisierung des Anderen im Selbst wie des Anderen selbst. In Goffmans Interaktionsanalysen soll der Täter hinter dem Tun ein Tabu der Identifikation sein. Dem Ereignischarakter der Interaktion hingegeben kommt es zu einem Bilderverbot des Selbst und Anderen. Derartige Sakralisierung äußert sich auch in der Vorstellung von Respekt bei den Dogon in Mali. Respekt ist, des Anderen Inneres (Beweggründe, Gefühle, Strategien) als nicht zu Thematisierendes zu respektieren (105), unter anderem deshalb, weil man nicht davon ausgeht, dass der Andere sein Inneres hat, darüber verfügt oder es kennt. Beide Formen der Sakralisierung vermeiden eine Moralisierung und bewegen sich auf strategischer alltagpraktischer Ebene. Wird der Andere jedoch als Heiliger stilisiert, vor dem man immer schon schuldig ist, wird er als Maßstab und nicht mehr als Tabu in einem moralischen Sinne sakralisiert, womit die Möglichkeit von begründeter Gerechtigkeit, ja selbst das Bemühen um diese aufgegeben wird. Mit der Einsicht, dem anderen nicht gerecht werden zu können, ist man der Aufgabe darum noch nicht entledigt.

Rudi Visker bleibt bei diesem Phänomen, an etwas zu zweifeln, es aber dennoch nicht aufgeben zu können. Er spricht dabei nicht von einer Sakralisierung, sondern von einer Profanisierung. Dabei handelt es sich um die Enttäuschung, dass das Eigene, dessen Andersheit man erst durch den Anderen erfährt, nicht etwas Besonderes ist, sondern normal, zufällig und nicht zu begründen. Für den Einzelnen ist es aber das Besondere und Bedeutsame, von dem er sich auch nicht so schnell verabschieden kann. Unsere Existenzweise verliert durch die Andersheit des Anderen an Selbstverständlichkeit, was weder mit Levinas zu einer moralisch aufgeladenen Schuld noch zu einem gleichgültigen Nebeneinander führt; denn der Andere geht mich (etwas) an. Er geht mich insofern etwas an, dass er infrage stellt, was mich bindet. Die eigenartige Bindung (Visker spricht auch von einer emotionalen Trägheit) an das, was ich nicht aufgeben kann, der Standpunkt, den ich nicht problemlos verlassen kann, wird erfahrbar und dennoch sind die Wurzeln nicht zugänglich, die Bindung nicht zu lösen. Das Interessante an Viskers Ausführungen ist, dass es nicht um ein Anderes im Ich geht, womit man konfrontiert werde, sondern um eine „Art Andersheit, die zum ureigenen Sinn eines solchen Ich gehört“ (124).

Die letzten beiden Artikel verdeutlichen die Verwobenheit und (Un-)Möglichkeit des eigenen und des Anderen Anderswerdens in digitalen Netzen. Torsten Meyer geht von einer Randbemerkung Derridas aus, dass der Begriff „Weltweit-Werden“, anders als „Globalisierung“, die Pluralität und Heterogenität der Kulturen – kurz: die Differenzen – nicht nivelliert. Meyers Übertragung des Weltweit-Werdens von Derrida auf das WWW, Internet bzw. Cyberspace entbehrt der Selbstproblematisierung. Auch die nicht vertiefte Analogie zwischen seiner plausiblen Kritik an Vorstellungen von Medienkompetenz als ein Erlernen von Gebrauchsanweisungen fremder Geräte und interkultureller Kompetenz als ein Erlernen von Gebrauchsanweisungen fremder Menschen und Länder erscheint fraglich (131). Sehr fruchtbar allerdings führt Meyer die bekannte Kritik am „neuen Medium“, dieses nicht als technisches, sondern als soziales Phänomen zu betrachten, weiter aus. Dass ein Weltweit-Werden auch im Netz zu Ein- und Ausgrenzungen von Anderen führt, ist anzunehmen. Interessant und innovativ werden Meyers Gedanken zum Sehen und Gesehenwerden bzw. zum Blick als soziale Macht und vermeintliche Allmacht (von wem auch immer). Die Frage bleibt, auf welcher Seite man sich befindet, wenn man „drin“ ist: als von einer imaginierten Macht gesehen oder ungesehen alle anderen sehend?

Aufgrund des Foucaultschen Programms für die philosophische Aktivität, sich zu bemühen, anders zu denken, was eine Übung seiner selbst bedeute, versucht Münte-Goussar, Schreibpraktiken der Neuen Medien als eine Form dieser Übung auszulegen. Entgegen dem anfänglichen Hype der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten zur Neuerfindung des Selbst zeigt Münte-Goussar, dass sich Authentizität, Wahrhaftigkeit und normalisierende Regierungspraktiken einschleichen. Was an diesem Artikel im Gegensatz zum vorherigen besonders gut gelingt, ist die Selbstirritation, ob und inwiefern man überhaupt die postmodernen Theorien als Schablone für die empirisch erfassten Sachverhalte der Prozeduren im Netz benutzen kann. Man kann es offensichtlich, aber was dabei heraus kommt, sollte weder als Kritik an den Theorien verkauft werden noch als ein Defizit in der Praxis gelten, wohl aber als Irritation von beiden Bestand haben können.

Behält man die von den Herausgebern in der Einleitung hergestellte Verbindung zwischen der Problematik des Eigenen/Fremden und der pädagogischen Interaktion im Blick, dann hält das Buch in vielerlei Hinsichten programmatische Aufgaben für die erziehungswissenschaftliche – und nicht nur diese – Forschung bereit. Einen derartigen kohärenten Blick jedoch beizubehalten, wird dem Leser nicht immer leicht gemacht, und im Gang durch die Disziplinen kommt die Frage auf, ob noch über das Gleiche geredet wird. Der gelegte erziehungswissenschaftliche Faden droht verloren zu gehen. Das Festhalten an ihm verweist allerdings auf eine Selbstauslegung der erziehungswissenschaftlichen Rezensentin im Anderen.
Gabriele WeiĂź (Potsdam)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gabriele WeiĂź: Rezension von: Schäfer, Alfred / Wimmer, Michael (Hg.): Selbstauslegung im Anderen. MĂĽnster, New York, MĂĽnchen, Berlin: Waxmann 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091639.html