Der neue von den Vereinten Nationen herausgegebene, und nun in deutscher Sprache vorliegende, Weltbevölkerungsbericht 2006 macht unmissverständlich klar, dass noch nie zuvor in der Geschichte so viele Menschen ihr Land verlassen haben. Weltweit gezählt wurden 191 Millionen Migranten bzw. Flüchtlinge. Zugleich zeigt der neue Report auch eine veränderte Perspektive der Berichterstattung auf: Flucht und Migration werden nicht länger als isoliertes Problem eines Staates oder einer einzelnen Einwanderergruppe verstanden. Es handelt sich dabei längst um ein globales Phänomen, das nur in einer weltgesellschaftlichen Dimension zu verstehen ist und zu lösen wäre.
Von dieser Sichtweise scheint man hierzulande noch unendlich weit entfernt. Wer sich den so genannten „nationalen Integrationsgipfel“ vergegenwärtigt, der von der Bundesregierung vor allem angesichts der Vorkommnisse in einer Berliner Hauptschule initiiert wurde, wird schnell feststellen, dass diese Form symbolischer Politik an den eigentlichen Problemen sowohl der Flüchtlinge und Migranten als auch der Aufnahmegesellschaft vorbei geht.
Besonders im Bildungssystem wird die Präsenz von Migranten und Flüchtlingen sichtbar und stellt die dort verbreitete nach wie vor dominierende Idee der Organisation von homogenen Lerngruppen in Frage. In Frage stehen auch die Bemühungen der europäischen Staaten, sich als „Festung Europa“ immer stärker gegen die vermuteten „Migrationsströme“ aus dem Süden abzuschotten. Wie dicht auch immer die Grenzen geschlossen, die Zäune erhöht und die rechtlichen Restriktionen angezogen werden: Mensche werden kommen, einige bleiben und viele weiter ziehen. Das sich immer klarer abzeichnende Phänomen der Transmigration zeigt, dass die europäische Staatengemeinschaft oftmals nur mehr Durchgangsort ist, die transnationalen Migrationsverflechtungen sich im globalen Maßstab organisieren.
Was haben diese Beobachtungen nun mit Lernen und Bildung zu tun? Eine Menge, denn mit dem Ansteigen der Zahlen von Menschen, die, auf der Suche nach einem besseren Leben, auf der Flucht sind, steigt auch die Zahl von Kindern und Jugendlichen, die in Deutschland anlanden. Was erwartet sie hier im Hinblick auf ihre Bildungsmöglichkeiten? Wie werden sie im Bildungssystem wahrgenommen? Welche Potentiale bringen sie mit? Was ist bezüglich ihrer bereits erworbenen Bildungswege anschlussfähig? Wie bewältigen Sie ihre oftmals schwierige Lebenssituation?
Mit diesen Fragen beschäftigt sich Louis Henri Seukwa in seiner äußerst erhellenden Studie über den „Habitus der Überlebenskunst“ am Beispiel von jugendlichen afrikanischen Flüchtlingen in Hamburg. Diese Studie ist der fünfte Band der Reihe „Bildung in Umbruchsgesellschaften“ und entstand im Kontext des Forschungsprojektes „Bildungsinstitutionen im Spiegel von Flüchtlingsbiographien afrikanischer Jugendlicher.“ In der Untersuchungsperspektive werden zwei bislang getrennt geführte Diskurse (bzw. bildungstheoretische und bildungspolitische Probleme) untersucht und aufeinander bezogen: Zum einen, die im Zuge der internationalen Vergleichsstudien wie PISA oder TIMSS eng geführte Diskussion über Bildungsstandards, die bezüglich ihrer Entwicklung und Bewertung ausschließlich einen Output-Orientierten Bildungsbegriff erkennen lassen (der im Hinblick auf das damit zugrunde gelegte Steuerungsmodell beiläufig Lernen im Modus behavioristischer oder funktionalistischer Ursache-Wirkungs-Kausalitäten äußerst trivial konzeptualisiert). Zum anderen wird eine grundsätzliche Klärung des Kompetenzbegriffes aus einer ontogenetischen Perspektive heraus durchgeführt: Was ist Kompetenz und wie entsteht sie?
Mit der Entscheidung eine kompetenzbasierte Untersuchungsperspektive einzunehmen, die danach fragt, was die afrikanischen jugendlichen Flüchtlinge an im Herkunftsland erworbenen Kompetenzen mitbringen, welche sowohl im formellen als auch im informellen Bildungssektor erworben wurden, schließt sich Seukwa unmittelbar an die Debatte um die Entwicklung von Bildungsstandards an und erweitert diese gleichsam um eine gehaltvolle Dimension. Denn was Kompetenz als zentrale Kategorie der gegenwärtigen Bildungsbemühungen eigentlich ist, darüber besteht eine eklatante Forschungslücke. In erziehungswissenschaftlicher Hinsicht fallen also ein nicht eigenständig definierter Kompetenzbegriff sowie auch fehlende Instrumente auf, diesen Begriff empirisch zu prüfen, zu fundieren oder überhaupt operationalisierbar zu machen.
Im Hinblick auf dieses Forschungsdefizit wird ein doppeltes Erkenntnisinteresse ersichtlich, denn Seukwa will nicht nur klären, was Kompetenz als Begriff und als Phänomen ist, wie die diesem Begriff innewohnende Polysemie als Analyseinstrument genutzt werden kann, er geht auch einen entscheidenden Schritt weiter und untersucht die Reaktionsweisen, die die Aufnahmegesellschaft diesen Kompetenzen gegenüber zeigt.
Zur Klärung steht damit die Frage an, ob die Bildungseinrichtungen den Herausforderungen der wachsenden gesellschaftlichen Pluralisierung gewachsen sind. Damit wird das Feld der „interkulturellen Pädagogik“ berührt, die sich darüber legitimiert, interkulturelle Kompetenzen zu vermitteln. Aber auch eine im Feld der Behindertenpädagogik geführte Diskussion hat sich dem Begriff der Kompetenz im Zuge des Ressourcenansatzes angenommen und ihn diskutiert, ohne ihn theoretisch jedoch einholen können. Beiden erziehungswissenschaftlichen Teil-Disziplinen des Besonderen ist gemeinsam, dass sie bezogen auf den Umgang mit Heterogenität im Bildungssystem zu einer Verstärkung individueller Förderung tendieren, ohne sich selbst zu befragen, auf welches Ziel diese Art der Förderung hinauslaufen soll. Der Kompetenzbegriff ist in den jeweiligen Fachdiskussionen dadurch sehr undeutlich konzeptualisiert.
Auf einem epistemologisch außerordentlich breiten Fundament der in acht Kapitel unterteilten Studie, die in mehreren reflektierten und systematischen Untersuchungsschritten zuerst den Kompetenzbegriff theoretisch vielschichtig positionieren ohne dabei seine Polysemie aufzuheben, wird außerdem der Kontext „Afrika“ ausgeleuchtet, der wie eine unsichtbare aber gleichsam hoch signifikante Spur der postkolonialen Bedingungen das Feld „jugendliche Flüchtlinge aus Afrika“ konstruiert. Die empirische Überprüfung der eingangs gefundenen Hypothese, dass nämlich Kompetenzen, als Fähigkeit und Kapital (im Sinne Bourdieus) soziokontextualisiert sind, wird exemplifiziert in einer Fallstudie eines jugendlichen Flüchtlings, Meme, der nicht nur eine erstaunliche erfolgreiche Performanz im Hamburger Bildungssystem vollzieht, sondern auch eindrucksvolle Fähigkeiten an den Tag bringt, sich von nichts in seinen Lernbemühungen und Bildungsaspirationen aufhalten zu lassen.
Diese Fähigkeit findet ihren Ausdruck im „Habitus der Überlebenskunst“ einer sowohl theoretischen als auch analytischen Kategorie, die inspiriert durch Michel de Certeaus „Kunst des Handelns“ als eine Taktik erscheint, sich weder durch die postkoloniale Morbidität Afrikas noch durch das hiesige repressive Rechtssystem, das Flüchtlinge zu Unpersonen an Nicht-Orten macht, darin hindern lässt, kreative Gegenentwürfe und Widerstandspotentiale zu entfalten (mit diesem Konzept lassen sich viele tragfähige Anschlüsse zur Idee der Agency als subjektiver Handlungsfähigkeit herstellen, die beispielsweise die Cultural Studies oder die kulturwissenschaftlich inspirierten Disability Studies im Blickpunkt haben). Die mit dieser Taktik zum Vorschein kommende subjektive Handlungsfähigkeit, das macht die Fallstudie sehr anschaulich, ist nicht als ein Produkt einer im Kontext formaler Bildung vermittelten Kompetenz anzusehen. Ihre „transgressive Kreativität“ verdankt sich vielmehr der produktiven Seite der Macht (Foucault) und vor allem den in Afrika, also vor dem Schulbesuch in Hamburg erworbenen Kompetenzen im informellen Sektor.
So erscheint der Schulerfolg eines vormals als Analphabet nach Hamburg gekommenen Schülers kaum durch eine „individuelle Förderung“ im formalen Bildungssektor realisiert worden zu sein, sondern vor allem durch die Aktualisierung und Kontextualisierung, mithin der Nutzbarmachung von Kompetenzen, die alltagstheoretisch verstanden kaum als solche erkannt werden können (wie zum Beispiel über ein „fotographisches Gedächtnis“ zu verfügen).
Gibt es nun angesichts dieser Befunde für die Pädagogik nichts zu tun? Diese Frage stellt sich verschärft vor dem Hintergrund der Diskussion der kontextabhängigen Kompetenz im Rahmen der hiesigen Verhältnisse. Hier legt Seukwa plausibel dar, dass die Probleme von Meme sowie der anderen befragten Jugendlichen weniger in einem bildungstheoretischen Horizont zu verorten sind. Verursacht werden diese Probleme durch ein repressives System von Asyl- und Sozialgesetzen, die den zugleich gültigen Ansprüchen auf eine Bildung für Alle diametral gegenüberstehen. Die Zuständigkeit für eine Realisierung des Bildungsrechtes für jugendliche Flüchtlinge liegt somit nicht bei den Pädagogen (wiewohl den individuellen Bemühungen und dem persönlichem Engagement eine hohe Wertschätzung entgegengebracht wird), sondern in der Verantwortung politischer Entscheidungsträger.
Was sich jedoch von Meme und den anderen jugendlichen Flüchtlingen aus Afrika, die hier mehr oder weniger in ihren Bildungsaspirationen durch das Rechtssystem behindert werden, lernen lässt, dass ist in der Tat die „Kunst des Handelns“. Angetrieben wird sie von einer kontextabhängigen Kompetenz (frei von jeglicher kulturellen Substanz), die es einem Subjekt ermöglicht, angesichts bedrückender Lebensverhältnisse handlungsfähig zu bleiben, Widerstand zu leisten, auch und gerade dann, wenn es keine Macht hat und sich in den Maschen eines repressiven Systems verstrickt sieht.
Weil die empirisch fundierte, methodisch versierte und theoretisch inspirierte Studie von Louis Henri Seukwa diese Mikroprozesse so anschaulich und überzeugend freilegt, ihre Dimension im pädagogischen Möglichkeitsraum so klar bestimmt, kann hier hervorgehoben werden, dass der gegenwärtig hoch gehandelte Kompetenzbegriff erst auf dieser ausgearbeiteten Grundlage zu einem tragfähigen pädagogischen Leitbegriff entwickelt werden kann. Zugleich werden erziehungswissenschaftlich bedeutsame Problematisierungen einer Chancengleichheit für Alle im Bildungssystem gefunden, die sich nicht mehr im schlichten Modus der Anerkennung von (kulturellen) Differenzen oder der Vermittlung von kontextunabhängigen und universalen Kompetenzen, die vorhersagbar abrufbar sind, lösen lassen.
Wer auf der Suche ist nach wirksamen Resilienzen im Umgang mit strukturellen und symbolischen Barrieren, dem Entstehen des Habitus der Überlebenskunst nachspüren will, die potentiellen und durchaus kreativen Lernspuren marginalisierter Jugendlicher empirisch rekonstruiert sehen möchte, wird auf die eindrucksvolle Studie von Louis Henri Seukwa nicht verzichten können.
EWR 5 (2006), Nr. 5 (September/Oktober 2006)
Der Habitus der Ãœberlebenskunst
Zum Verhältnis von Kompetenz und Migration im Spiegel von Flüchtlingsbiographien
(Bildung in Umbruchsgesellschaften; Bd. 5)
(Bildung in Umbruchsgesellschaften; Bd. 5)
Münster, New York, München, Berlin: Waxmann 2006
(278 S.; ISBN 3-8309-1619-1; 24,90 EUR)
Sven Sauter (Hagen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sven Sauter: Rezension von: Seukwa, Louis Henri: Der Habitus der Ãœberlebenskunst, Zum Verhältnis von Kompetenz und Migration im Spiegel von Flüchtlingsbiographien (Bildung in Umbruchsgesellschaften; Bd. 5). Münster, New York, München, Berlin: Waxmann 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091619.html
Sven Sauter: Rezension von: Seukwa, Louis Henri: Der Habitus der Ãœberlebenskunst, Zum Verhältnis von Kompetenz und Migration im Spiegel von Flüchtlingsbiographien (Bildung in Umbruchsgesellschaften; Bd. 5). Münster, New York, München, Berlin: Waxmann 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091619.html