Die Themen der erziehungswissenschaftlichen Forschung entwickeln sich oft vor dem Hintergrund der Veränderung bildungspolitischer Orientierungsmuster oder des strukturellen Wandels im Bildungssystem. Die Originalität erziehungswissenschaftlicher Arbeiten ergibt sich dabei in vielen Fällen weniger aus der Rezeption von Theorie und vorliegender empirischer Forschung als aus dem Bezug auf Bereiche der Praxis, in denen sich Entscheidungsdruck, Begründungserfordernisse und Verantwortlichkeiten verdichten. Die Arbeit von Bonsen zielt auf einen derartigen Bereich – nämlich auf Schulleitungen, auf die sich im Kontext der Diskussion um die Autonomie und Gestaltung der Einzelschule erhebliche Hoffnungen richten. Zusätzlich gewinnt die Arbeit von Bonsen ihr Profil durch die Rezeption organisations- und führungstheoretischer Diskussionslinien, die bislang in der Erziehungswissenschaft nur eingeschränkt – und in Bezug auf Schulleitungen gar keine – Beachtung gefunden haben. Die Originalität der Arbeit Bonsens besteht mithin darin, für das bildungspolitisch brisante Thema Schulleitungshandeln einen theoretischen Rahmen zu entwickeln und einer ersten empirischen Prüfung zuzuführen.
Überraschenderweise verzichtet Bonsen auf die Verarbeitung der Ansätze aus der deutsch- und auch englischsprachigen Literatur über die Rolle und Funktion von Schulleitern, die sich mit dem Wandel von einem administrativen zu einem pädagogischen bzw. auf Schulentwicklung bezogenen Verständnis der Schulleitung befassen. Statt dessen werden in der Einleitung drei Perspektiven eröffnet, von denen aus die kontextuellen Bedingungen für eine Veränderung der Anforderungen an Schulleiter betrachtet werden. Es sind "die sich verändernde Natur der Gesellschaft" (15 ff.), "die Krise der Außensteuerung von Schule" (19 ff.) und "das technologische Wissen um Management und Führung im Schulbereich" (23 ff.). Die erste Perspektive bleibt in Relation zum Thema Schulleitung beinahe notwendig diffus. Die beiden anderen Perspektiven eröffnen jedoch Ausblicke auf die Organisation Schule und deren Führung, von denen ausgehend Bonsen die Zielsetzung für seine Arbeit formuliert. Sie liegt in der explorativen "Identifikation subjektiver Aufmerksamkeitsschwerpunkte von Schulleiterinnen und Schulleitern in der Führung der Schule als sozialer Organisation" (24). Die eingegrenzte Rezeption des Forschungsstandes zur Schulleitung lässt spezifische Aspekte der Führungsrolle in Schulen in den Hintergrund treten; sie eröffnet allerdings auf der anderen Seite Spielräume für einen Zugang zum Thema über Organisations- und Führungstheorien, deren Anwendung auf den Kontext Schule bislang eher marginal geblieben ist.
Sowohl hinsichtlich der Führungs- als auch der Organisationstheorien schlägt Bonsen eine Argumentation ein, in der zunächst unterschiedliche Ansätze dargestellt werden, um anschließend Möglichkeiten ihrer Integration auszuloten. Er begründet das mit der Reduktion der komplexen Realität auf idealtypische Grundmodelle in der Theorie, während doch die Orientierung des Handelns in der Praxis auf einer Vielzahl von Wahrnehmungen, Aufmerksamkeiten und Grundannahmen aufruht.
Bonsen geht davon aus, dass dem praktischen Führungshandeln organisationstheoretische Grundannahmen zugrunde liegen. Dieses Argument lässt die Differenzen zwischen wissenschaftlichen Theorien und praktisch wirksamen kognitiven Modellen unscharf werden. Die unterschiedlichen Sinn- und Begründungsformen von wissenschaftlichem und praktischem Wissen werden nivelliert. Andererseits muss diesem Zugang zugestanden werden, ein breites begriffliches Spektrum zu eröffnen, in dem empirisch bedeutsame Orientierungsmuster rekonstruiert werden können. Diesen Vorteil baut Bonsen zunächst durch eine kompilatorische Aufstellung von Führungs- und Organisationstheorien aus. Die Aufstellungen beruhen auf gängigen Unterscheidungen von Ansätzen, wie sie in der Sekundärliteratur über Führungs- und Organisationstheorien vorgenommen werden. Im Kapitel über Führungstheorien werden Eigenschaftstheorien, Ansätze der Führungsstilforschung und situative Theorien behandelt. Im Kapitel über Organisationstheorien legt Bonsen eine Unterscheidung von klassischen, neo-klassischen und modernen Organisationstheorien zugrunde. Die Auswahl der behandelten Theorien und die Verbindungslinien, die zwischen ihnen gezogen werden, lässt abermals die Differenz zwischen sozialwissenschaftlichen Theorien (Organisationstheorien) und in Hinblick auf Handlungsorientierung verfassten Ansätzen (Organisationslehren) verwischen. Im Sinne der Annahme, dass Führungshandeln auf organisations- und führungstheoretischen Annahmen basiert, ist es allerdings konsequent, wenn Bonsen seine Aufmerksamkeit insbesondere den praktisch ausgerichteten Ansätzen zuwendet, die in der Gestaltung von Organisationen und in der Beratung von Management Anwendung finden.
Die entlang der gewählten Schematisierungen vorgenommenen Darstellungen sind informationsreich und geben einen guten Überblick zu den jeweiligen Themenbereichen. Sie sind auch unabhängig voneinander im Sinne einer Einführung lesbar. Eine Zuspitzung auf die Themen Schule bzw. Schulleitung wird in diesen Passagen der Arbeit nicht vorgenommen. Auch werden innerhalb der jeweiligen Kapitel keine Verbindungslinien zwischen Konzepten der Organisation und Konzepten der Führung gezogen. Damit wird einerseits genügend Spielraum eröffnet, um die Darstellungen der Führungs- und Organisationstheorien zu entwickeln; andererseits bleiben die Verbindungen zum Ziel der Arbeit gelegentlich offen. Aus der Darstellung der theoretischen Ansätze entstehen gewissermaßen Überschüsse, die in der Arbeit selbst nicht genutzt werden. So führt Bonsen die Darstellung von Ansätzen etwa auf Seitengleise der Argumentation, indem er ihnen einen "überwiegend historischen Wert" (93) attestiert oder die Anknüpfungspunkte, die sich terminologisch bzw. konzeptionell ergeben, bleiben teilweise einfach ungenutzt, wie etwa die terminologisch und systematisch gut dargelegten situativen Führungstheorien oder die systemorientierten Organisationstheorien.
Im dritten Kapitel nimmt Bonsen eine "Integration unterschiedlicher Theorieansätze" vor, um für seine empirische Untersuchung eine Grundlage zu formulieren. Er nimmt dabei Anstoß an einer als "misslich" bezeichneten "Inkommensurabilität verschiedener theoretischer Ansätze" (132) und einer durch den Theoriepluralismus erschwerten "Ableitung technologischer Theorien" (133). Seine Leitidee der Fundierung des praktischen Schulleitungshandelns in organisationstheoretischem Wissen findet hier eine Wendung in eine professionstheoretische Argumentation. Wenn – wie Bonsen annimmt – das professionelle Handeln von Schulleitungen durch den Bezug auf Organisations- und Führungstheorien gewährleistet ist, so kann eine Integration verschiedener Theorieansätze der Professionalisierung förderlich sein, weil "dem in der Schulleitung tätigen Praktiker […] verschiedene Perspektiven helfen [können], die Komplexität einer Situation zu verstehen" (141).
Freilich muss man auch bei der Zusammenführung von Ansätzen die Erfahrung machen, dass Komplexität reduziert wird und die Komplexität eines "konzeptionellen Pluralismus" (141) sogar in einigen Aspekten hinter der Komplexität der Ansätze, die in ihn eingehen, zurückbleibt. Das von Bonsen verfolgte 4-Rahmen-Modell von Bolman/Deal nimmt so einige der thematischen Fokussierungen aus den einzelnen Ansätzen der Organisationstheorie auf, ohne allerdings in der Darstellung der 4-Rahmen (strukturelle, personelle, politische, symbolische Dimensionen von Organisation) die argumentative Tiefenschärfe einer Bürokratietheorie, des Human-Relations-Ansatzes, mikropolitischer oder symbolisch-interaktionistischer Zugänge zum Thema Organisation zu erreichen. Dem theoretischen Gewinn einer mehrdimensionalen Betrachtung stehen in den pluralistischen Konzeptionen durchaus theoretische Verluste entgegen. Diese können allerdings kaum zu Einwänden gegen Bonsens Arbeit führen, vielmehr sind sie in die verstrickte Diskussionslage um den theoretischen und praktischen Nutzen sowie um die Pluralität von Organisationstheorien, auf die Bonsen sich bezieht, bereits eingelassen.
Bonsen entwickelt aus dem 4-Rahmen-Modell ein mehrdimensionales Analyseraster für Schulleitungshandeln. Dazu führt er zunächst in die theoretischen Annahmen eines jeden Rahmens ein und schließt daran Überlegungen zur Bedeutung eines jeden Rahmens für Schulleitungen an. Hier wird ein sehr eigenständiger Beitrag geleistet, der eine Bereicherung der theoretischen Grundlagen zur Analyse von Schulleitungshandeln bietet. Die eingangs erwähnte Distanz zu den erziehungswissenschaftlichen Ansätzen, die sich mit Schulleitern befassen, zahlt sich hier in der Eröffnung neuer Perspektiven aus. Auffallend ist jedoch die erhebliche Distanz auch zu den in den vorangegangenen Kapiteln dargestellten Organisations- und Führungstheorien, deren Integration doch beansprucht wird und die an einigen Stellen argumentativen Rückhalt und Differenzierung bieten könnten.
Eine Ergänzung des 4-Rahmen-Modells um einen weiteren, die spezifischen Zielsetzungen der Schule berücksichtigenden Rahmen lehnt Bonsen ab. Er plädiert dafür, die Betrachtungen zur "Schulleitung nicht von der allgemeinen theoretischen Führungsdiskussion abzulösen" (193). Diese Position ist deshalb unterstützenswert, weil sie dazu führt, etwaige Besonderheiten des Führungshandelns in Schulen nicht unter Bezugnahme auf normative Konzepte begründen zu müssen, sondern Vergleichsmöglichkeiten auf der Grundlage empirischer Untersuchungen mit einheitlichen theoretischen Kategorien eröffnet.
Ergebnisse aus einer entsprechenden Untersuchung an insgesamt 25 Nordrhein-Westfälischen und 5 Schweizer Schulen berichtet Bonsen im vierten Kapitel seiner Arbeit.
Mit den Schulleitern dieser Schulen wurden Leitfadeninterviews zu den Themenbereichen Praxis der Entscheidungsfindung, Bewertung der eigenen Tätigkeit, Wirksamkeit des eigenen Handelns und Neue Aufgaben an Schulleitungen geführt. Auf der Grundlage des so entstandenen Materials sind – in einem nachvollziehbar geschilderten methodischen Verfahren – Kategorisierungen entstanden, die qualitative und quantitative Ausprägungen der vier Rahmen des Modells bei den Schulleitern identifizierbar machen. Die Auswertungen beziehen sich – der kleinen Stichprobe und dem explorativen Anspruch der Untersuchung gemäß – im Wesentlichen auf eine deskriptive Ebene. Bonsen kann hier zunächst die Plausibilität der analytischen Differenzierung empirisch nachzeichnen und unterschiedliche Gewichtungen in der Ausprägung der vier Rahmen aufzeigen. In weiteren Auswertungen werden einige, nicht in das theoretische Konzept der Arbeit eingebettete Vermutungen zu den geschlechtsspezifischen bzw. von der Größe der geführten Schule abhängigen Gewichtung der vier Rahmen geprüft.
Darüber hinaus verkoppelt Bonsen die qualitativen Schulleiterdaten mit quantitativen, von den Lehrern der Schulen erhobenen Daten, mit denen er Aussagen über die Qualität der Schulen generiert. Dieses Vorgehen ist bemerkenswert, weil es – trotz einiger methodischer Bedenken und einiger Willkür bei der Interpretation von Korrelationskoeffizienten, die zudem mit einer sehr kleinen Stichprobe berechnet wurden und daher sehr instabil sein dürften – die Prüfung des Zusammenhangs von Merkmalen der Organisation Schule und seiner Führung beansprucht. Bonsen bietet hier einige Anknüpfungspunkte für weitergehende empirische Untersuchungen, die allerdings einer präzisieren theoretischen Anbindung und anderer Stichproben bedürften. Einer dieser Anknüpfungspunkte ist etwa der Zusammenhang zwischen der Qualität von Schulen und der Ausrichtung ihrer Leitungen auf strukturelle Aspekte der Organisation.
Einen weiteren Schritt der empirischen Analyse hat Bonsen durch die Identifikation von "Rahmungstypen" über Clusteranalysen vorgenommen. Rahmungstypen sind empirische Muster unterschiedlicher Ausprägung und Kombination der vier analysierten Strukturdimensionen. Bonsen stellt vier Rahmungstypen vor, die er kurz durch Rückgriff auf Theorie und ausführlicher anhand jeweils eines empirischen Fallbeispiels schildert. Diese Darstellungen sind jeweils in sich und in der Abgrenzung der Typen voneinander plausibel. Sie verdeutlichen die Relevanz der Unterscheidung von Dimensionen des Schulleiterhandelns – nicht nur, um dessen Komplexität darzustellen, sondern auch, um Differenzen zwischen Schulleitern erfassen zu können.
Im Ganzen ist die Originalität der Arbeit Bonsens auf ihren Anregungsreichtum zurückzuführen. Sie bietet eine Vielzahl theoretischer Verweise und empirischer Anknüpfungspunkte, von der aus die Diskussion um die Organisation Schule und ihre Führung aufgenommen werden kann. Der Anspruch der Arbeit, einige Sonden zur Exploration des Forschungsfeldes Schulleitungshandeln auszusenden und selbst Vorarbeiten zur Konzeption dieses Forschungsfeldes zu bieten, ist erfüllt und dem interessierten Leser werden einige Pfade in diesem Feld aufgezeigt. In der Verwendung dieser Vorarbeiten kann durchaus auch eine zweite – gewissermaßen von hinten beginnende – Lektüre der Arbeit Bonsens hilfreich sein, bei der einige der theoretischen Verweisungen aufgenommen werden können, die in der Arbeit selbst nicht verknüpft und empirisch gewendet worden sind.
EWR 3 (2004), Nr. 4 (Juli/August 2004)
Schule, Führung, Organisation
Eine empirische Studie zum Organisations- und Führungsverständnis von Schulleiterinnen und Schulleitern
Münster: Waxmann 2003
(316 Seiten; ISBN 3-8309-1318-4; 29,90 EUR)
Harm Kuper (Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Harm Kuper: Rezension von: Bonsen, Martin: Schule, Führung, Organisation, Eine empirische Studie zum Organisations- und Führungsverständnis von Schulleiterinnen und Schulleitern, Münster: Waxmann 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 4 (Veröffentlicht am 05.08.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091318.html
Harm Kuper: Rezension von: Bonsen, Martin: Schule, Führung, Organisation, Eine empirische Studie zum Organisations- und Führungsverständnis von Schulleiterinnen und Schulleitern, Münster: Waxmann 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 4 (Veröffentlicht am 05.08.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091318.html