EWR 3 (2004), Nr. 4 (Juli/August 2004)

Stellungnahme zu Astrid Messerschmidts Rezension der Studie

Ursula Reitemeyer
Ist Bildung lehrbar?
MĂĽnster: Waxmann 2003
(236 Seiten; ISBN 3-8309-1282-X; 25,50 EUR)
Ist Bildung lehrbar? Für eine Studie, die im Hinblick auf Erziehung und Bildung auf die Entwicklung von selbständiger Urteilskraft und Kritikfähigkeit setzt (21), ist nicht Kritik selbst ärgerlich, sondern nur das Bewusstsein, falsch verstanden worden zu sein. Dass ein solches Missverständnis in Astrid Messerschmidts Rezension zu der Studie von Ursula Reitemeyer: Ist Bildung lehrbar? bedauerlicherweise vorliegt, ist die Grundthese dieser Stellungnahme, die sich zum Widerspruch herausgefordert fühlt.

Unverständlicherweise interpretiert Messerschmidt besagte Studie als ein Plädoyer für Wertevermittlung, obwohl die gesamte Untersuchung unmissverständlich gegen die kurzsichtige bildungspolitische Forderung nach bloßer Wertevermittlung argumentiert – und zwar gerade angesichts der Verstrickung sowohl eines allgemeinen Bildungsbegriffs als auch jeden praktischen Unterrichtsgeschehens in gesellschaftliche Strukturzusammenhänge, die die Studie angeblich gar nicht in den Blick nimmt.

Diese Fehlinterpretation ist um so erstaunlicher, als bereits der erste Satz der Rezension diese hätte verhindern können: "Die Studie behandelt das Problem der ‚Wertevermittlung in globalisierten Gesellschaften’" heißt es da und eben nicht die positiven Möglichkeiten und die faktische Umsetzung von Wertevermittlung. Wird gerade die Darlegung des von der Studie zugrundegelegten Bildungsverständnisses von vornherein als durch den Schock von Auschwitz ausgelösten Ruf nach einer neuen Werteerziehung missverstanden, so ist es nicht weiter verwunderlich, dass Auschwitz bei Messerschmidt bloß zu einer "zeitgeschichtlichen Grenzmarkierung" wird. Auschwitz fungiert für die Studie als immer noch wirksamer theoretischer Anlass und gesellschaftshistorischer Bezugspunkt eines zeitgemäßen Bildungsverständnisses, da die Bildungstheorie als methodische Wissenschaft -theoriegeschichtlich betrachtet – sich allererst nach dem zweiten Weltkrieg etablierte (9f). Reitemeyer macht deutlich, dass der Bruch, den Auschwitz (nicht nur) für den Bildungsbegriff bedeutet, nur durch eine ideengeschichtliche, philosophiehistorische und gesellschaftstheoretische Reflexion eben jener Bedingungen, die zu diesem Bruch geführt haben, als Bruch überhaupt erst verständlich gemacht werden kann. Daher wird eben nicht "alles, was davor war von den Bedingungen [ge]trennt, die zu Auschwitz geführt haben", sondern gerade im Zusammenhang mit diesen Bedingungen reflektiert. Die von Messerschmidt kritisierten Behauptungen Reitemeyers, dass "Bildung bis hin zu Auschwitz unmittelbar mit einer kultivierten Lebensweise verknüpft" und dass eine der "bis dahin als besonders kultiviert geltenden Nationen nicht davor gefeit war, in menschen- und lebensverachtende Barbarei abzusinken" (9) drücken deshalb auch weniger eine "Empörung" der Autorin aus, sondern referieren vielmehr ein gesellschaftliches und kulturelles nationales Selbstverständnis, das in der Philosophie der Renaissance und des Neuhumanismus schon angelegt wird und im Zuge der Aufklärungsphilosophie expandiert. Dieses Selbstverständnis ist die Folge gesellschaftlicher Säkularisations- und Umbruchsprozesse, die eben jenes Selbstbewusstsein produzieren, dem die Entwicklung der positiven Wissenschaften, die fortschreitende Verfügbarmachung von Natur durch die sich entwickelnde Technik und ein optimistischer Fortschrittsglaube zugute kommen und das sich schließlich als bürgerliche Ideologie auch im Bildungsverständnis praktisch niederschlägt.

Der grundsätzliche Widerspruch zwischen Herrschafts- und Emanzipationsanspruch – von Messerschmidt eingeklagt und von der Studie angeblich vernachlässigt – ist damit natürlich sowohl der bürgerlichen Ideologie als auch dem Bildungsbegriff inhärent und wirkt auf deren gesellschaftliche Realisationen zurück. Diesen dialektisch gedachten Verweisungszusammenhang aufzuzeigen, ist das ausdrückliche und doch von Messerschmidt nicht erkannte Ziel der Studie. So postuliert diese auch nicht Bildung als "Hort moralischer Läuterung", sondern stellt eben das allzu gutgläubige Vertrauen auf die Existenz eines solchen Hortes jenseits von gesellschaftlicher Vermittlung selbst radikal in Frage. Dennoch wird der moralische Anspruch von Bildung im Hinblick auf eine erst zu schaffende "humanitäre gesellschaftliche Praxis" aufrechterhalten und das heißt, dass gerade der der Bildung inhärente Widerspruch ausgehalten werden muss. Idealistisch gedacht ist das allemal (nicht umsonst der Bezug auf Kant), ob es "kulturkonservativ" und "undialektisch" ist, bleibe dahingestellt.

Insgesamt glaubt Messerschmidt, die Ausführungen Reitemeyers zur Rolle der Bildung im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess bis hin zu Auschwitz dahingehend korrigieren zu müssen, dass die "bürgerliche Bildung" und das "deutsche Bildungssystem" dem Grauen des Nationalsozialismus zuarbeiteten. Diese Korrekturen greifen aber ins Leere, da Reitemeyer unter theoretischem Bezug nicht nur auf die ältere Kritische Theorie, sondern z. B. auch auf die Holocaust-Analysen Zygmunt Baumans (12), eben diesen Sachverhalt darzustellen versucht. Dennoch erhebt Messerschmidt den Vorwurf, dass Reitemeyer insgesamt an einem undialektischen, dualistischen und unkritischen Bildungsbegriff festhält. Dagegen stellt die Rezensentin fest, "dass Bildungsprozesse immer auch Unterwerfungen unter genau die Verwertungslogik sind, aus der herauszutreten sie wiederum das Potenzial bieten. Bildung impliziert den Widerspruch und steht nicht notwendig im Widerspruch zu dem, was ist." Hier wäre allerdings vor dem Hintergrund der Studie Widerspruch einzulegen: gerade ein dialektischer und kritischer Bildungsbegriff muss sich im und durch den Widerspruch zur bestehenden Faktizität hindurch reflektieren, da ihm der Widerspruch sonst gar nicht inhärent sein könnte. Damit würde der Bildungsbegriff notwendigerweise affirmativ und verlöre seinen utopischen Charakter (22). In diesem utopischen Charakter liegt aber das Potenzial beschlossen, das jenes Heraustreten aus den gesellschaftlich bedingten, faktischen Vermittlungsprozessen ermöglichen könnte, das auch die Rezensentin als notwendiges Ziel von Bildungsprozessen bestimmt. Leider wird mit keinem Wort erwähnt, dass die Studie die Möglichkeiten einer solchen, dialektisch gedachten Überschreitung der Faktizität in Prozessen dialogisch-diskursiv orientierten Unterrichts verortet (20ff). Dialog und Diskurs stehen im Gegensatz zu einer normativ verordneten Wertehierarchie, die die althergebrachten Strukturen von Ausgrenzung und Marginalisierung, die Messerschmidt anspricht, nur aufs Neue befestigen und bestätigen könnte. Dialog und Diskurs konstituieren als Basis dynamisch gedachter Lehr- und Lernprozesse das von der Studie angeblich nicht weiter problematisierte ‚Wir’ und "unsere eigene Integration in die kritisierten Verhältnisse" als Akteure und Adressaten von Bildung und Erziehung. Faktenwissen, dessen bloße, unreflektierte Anhäufung gesellschaftliche Vermittlungs- und Sachzwänge allerhöchstens affirmativ zu bestätigen vermag, wird damit nicht an sich abgewertet und von der moralischen Bildung auf die Seite des immer schon Schlechten verschoben, wie die Rezensentin zu glauben scheint. Kritisiert wird nur die einseitige Vereinnahmung der gegenwärtigen bildungstheoretischen und bildungspolitischen Debatten durch Fragen nach den Möglichkeiten effektiv institutionalisierbarer Leistungssteigerung, in denen größtenteils nicht Bildungsprozesse, sondern die Verbesserung von ‚Qualifikationsanstalten’ verhandelt werden (25).

Der empirische Teil der Untersuchung – auf den bezogen die Autoren am ehesten Methodenkritik erwartet hätten – wird erstaunlich positiv bewertet, wenn die Rezensentin auch unterstellt, dass es sich um einen reinen multiple-choice-test gehandelt hätte, der nur der Bestätigung der Ausgangsfragen diente. Die konkreten Vorschläge zur Reform öffentlichen Unterrichts werden von der Rezensentin allerdings leider nicht kommentiert, obwohl sich doch gerade an diese eine praktisch ausgerichtete Diskussion hätte anschließen können.

Auch die Beurteilung des dritten Teils des Buches fällt leider knapp aus, bleibt aber der bereits angesprochenen Fehlinterpretation verhaftet. Allein die Tatsache, dass sich die Studie nicht mit einer ‚bloß’ allgemeintheoretischen Reflexion des Bildungsbegriffs begnügt, sondern diesen aus der Praxis heraus zu reflektieren versucht, sollte dem Vorwurf widersprechen können, dass sie sich nicht um die faktischen Vermittlungszusammenhänge bekümmert, in denen die gesamte Fragestellung nach der Lehrbarkeit von Bildung notwendig steht. Die von Messerschmidt an Geisters Beitrag kritisierte fehlende Kommentierung der strukturellen Zusammenhänge von Pisa-Studie und dem Schulmassaker in Erfurt läuft direkt an Geisters Anliegen vorbei, diese beiden Ereignisse als eklatant offensichtliche Eckdaten der ‚neuen’ Debatten um das Versagen der deutschen Bildung auszuweisen, die nicht zuletzt durch das je spezifische Entsetzen über diese beiden Ereignisse eine wirklich inhaltliche Diskussion immer wieder erschwerten (117f). Die Behauptung, der Beitrag von Sieverding folge "dem Plädoyer der ganzen Studie für einen wertorientierten bildenden Unterricht" offenbart nicht nur noch einmal das grundsätzliche Missverständnis, das der Rezension zugrunde liegt, sondern ist schlichtweg (auch begrifflich) falsch, da gerade dieser Beitrag immer wieder explizit die bildungspolitische Forderung nach ‚Werteerziehung’ und ‚Wertevermittlung’ als kurzsichtig und bildungstheoretisch nicht zu rechtfertigend zurückweist (144/161) und – wie die Studie insgesamt – gerade zwischen einem "wertorientierten" und einem "bildenden" Unterricht zu differenzieren versucht.

Das Anliegen dieser Stellungnahme hätte sich erfüllt, wenn deutlich geworden wäre, dass mit Messerschmidts Rezension eine verzerrende Interpretation des in dieser Studie vorgelegten Bildungsverständnisses vorliegt, da ‚Ist Bildung lehrbar?’ keineswegs eine Perspektive veranschlagt, die "Rettung durch Bildung" verspricht, sondern vielmehr die Möglichkeit dieser Rettung insgesamt immer wieder in Frage zu stellen versucht.
Judith Sieverding (MĂĽnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Judith Sieverding: Stellungnahme zu Astrid Messerschmidts Rezension der Studie: Ursula Reitemeyer: Ist Bildung lehrbar? MĂĽnster: Waxmann 2003 (Ethik im Unterricht, Band 5). EWR 3 (2004) Nr. 3 URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/83091282.htm In: EWR 3 (2004), Nr. 4 (Veröffentlicht am 05.08.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091282_1_RE.html