EWR 2 (2003), Nr. 6 (November/Dezember 2003)

Ursula Neumann / Heike Niedrig / Joachim Schroeder / Lous Henry Senkwa (Hrsg.)
Lernen am Rande der Gesellschaft
Bildungsinstitutionen im Spiegel von Flüchtlingsbiografien
Münster u.a.: Waxmann 2003
(468 Seiten; ISBN 3-8309-1279-K; 29,90 EUR)
Lernen am Rande der Gesellschaft Der Band dokumentiert den Projektverlauf und Untersuchungsergebnisse aus einem Teilprojekt des DFG-Sonderforschungsbereiches "Umbrüche in afrikanischen Gesellschaften und ihre Bewältigung". Das erziehungswissenschaftliche Teilprojekt thematisierte "Bildungsinstitutionen im Spiegel von Flüchtlingsbiografien afrikanischer Jugendlicher" und erweist sich als produktives Projekt, aus dem neben dem vorliegenden Band noch weitere Publikationen veröffentlicht wurden. Die Fragestellung des Projekts bezieht sich auf die Bildungsprozesse junger Flüchtlinge aus Afrika in Deutschland, konkretisiert auf die Stadt Hamburg. Von Anfang an war die Fragestellung spezifiziert auf die Barrieren, die einem Bildungsprozess im Wege stehen, auf die mitgebrachten Kompetenzen und auf die informellen Netzwerke und Orte, in denen informale Bildungsprozesse vermutet wurden. Schon im Zugang zum Feld, als Ergebnis von Experteninterviews, wobei die Experten zur engagierten "Migranteninfrastruktur" gehörten, und im Zuge der Auseinandersetzung darüber, ob das Projekt als ‚"Ausforschungsvorhaben" zu betrachten wäre, zeigte sich, dass die Rede von "Bildungsangeboten" zu euphemistisch sei und das Untersuchungsfeld eher als geschlossener Raum nicht vorhandener Chancen zu konzipieren sei.

Der Wandel in der Auffassung des Untersuchungsfeldes wird vielfach angesprochen und herausgestellt. Obwohl die Forscher und Forscherinnen eine kritische Perspektive charakterisiert und sie keineswegs blauäugig an ihr Projekt herangegangen ist, verdichtet sich der Wandel zu einem empirischen, theoretischen und politischen Ergebnis: Der Lebensraum junger Flüchtlinge wird als "Fataler Raum" konzeptionalisiert. Diese Verknüpfung einer Bourdieu’schen und einer Goffman’schen Kategorie stellt ein interessantes Ergebnis sowohl der empirischen Untersuchungen als auch des Reflexionsprozesses dar, der das Projekt begleitete.

Im Zentrum des Projekts standen afrikanische Jugendliche, die als unbegleitete Flüchtlinge nach Hamburg gekommen waren. Teilstandardisierte Kurzinterviews und sechs biografische Einzelfallstudien haben ihre Lebenswelt erschlossen und durchsichtig gemacht, ihre Sichtweisen und Perspektiven erschlossen. Dabei sind die Forscher und Forscherinnen von sich aus und von Anfang an vorsichtig vorgegangen, um durch ihre Untersuchung nicht Wissen auszubreiten, das den jugendlichen Flüchtlingen zum Nachteil werden könnte (z. B. in der Frage des Alters der Jugendlichen) oder in der öffentlichen Diskussion zur Diskreditierung verwendet werden könnte. Obwohl die Forschung "unter Beschuss" der politischen "Migrantenszene" stand, haben die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen an ihrer Studie festgehalten, sich darüber hinaus in die praktische Auseinandersetzung um das Arbeitsverbot für Flüchtlinge bei einem Aktionstag, der im Buch ebenso wie die Diskussion über den politischen Ansatz des Projektes dokumentiert wird, eingemischt.

Gerade wenn man die Frage der politischen und diskreditierenden Verwendung von sozialwissenschaftlichem Wissen über Minderheiten ernst nimmt, muss man die Konsequenz verteidigen, mit der das Projekt seine Untersuchungsfragen aufrecht erhielt und weiterentwickelte und sich zugleich parteilich – für die Freiheit von Bildungsprozessen als dem zentralen pädagogischen Prinzip – einmischte. Die zentrale Einsicht nämlich, dass man die Lebenswelt der Flüchtlinge mit der Kategorie des Totalen Raumes am besten verstehen könne, und das empirische Ergebnis, dass die ausländerrechtliche und –politische Drangsalisierung einen unüberwindbaren Zaun um das Leben der jungen Flüchtlinge aufgebaut habe, der zu den Handlungen zwingt, die man ihnen vorwirft, plausibilisieren auch die politisch-parteilichen Aktionen.

Die – nach den Jugendlichen selbst – zweite Ebene der Untersuchung bildete der Hamburger "Bildungsmarkt". Sie wurde mit Hilfe einer Organisationsanalyse der non-formalen Bildungsangebote, einer Lehrerbefragung und von Experteninterviews zum "informellen Sektor" erschlossen.

Für Jugendliche mit einem gesicherten Aufenthaltsstatus hat das formale Bildungssystem zwischen Hauptschule und der Berufsausbildung ein weites Feld von Angeboten entwickelt, die allerdings auch oft in "Maßnahmekarrieren" führen. Für jugendliche Flüchtlinge ohne gesicherten Aufenthaltsstatus bleiben aber fast alle diese Möglichkeiten verschlossen. Das Arbeitsverbot ist auch ein Ausbildungsverbot. Trotz in Hamburg ausgebauter Infrastruktur für Flüchtlinge und innovativen EU-Projekten ("Equal", das die Bildungsbarrieren gerade für solche Jugendlichen abbauen will) werden diese Barrieren praktisch nicht überwunden.

Auch die differenzierten Netzwerke der Selbstorganisierten, der Flüchtlingshilfe, der organisierten Jugendhilfe und der interkulturellen Initiativen können organisierte Bildungs- und Ausbildungsprozesse nicht herstellen, auch wenn sie einen hohen Stellenwert für die soziale Integration der jungen Flüchtlinge haben.

Im Band werden die Einzelheiten dieser Szene detailliert beschrieben und stellen eine interessante Fallstudie dar. Ebenso interessant ist die Untersuchung des informellen Sektors. Dabei werden besonders die Sichtweisen seiner Experten herausgearbeitet. Die Herausbildung eines informalen Sektors des Arbeitens und Lernens ermöglicht den Experten unterschiedliche Interpretationen. Der informelle Sektor wird verstanden als Reaktion auf Restriktion und Repression, als Ergebnis der Bedürfnisse der Flüchtlinge selbst, als Teil einer eigenständigen "afrikanischen Ökonomie" oder als Vorbereitung auf die Anforderungen eines informellen Sektors im Heimatland.

Die Untersuchung des "Rahmens" für Bildungsprozesse wird abgeschlossen mit einer Befragung von Lehrkräften. Auch dieser sorgfältig durchgeführte Untersuchungsschritt erbringt interessante Ergebnisse. Es wird deutlich, wie eng der pädagogische Handlungsspielraum zwischen minimalem Spracherwerb und Abschiebung ist.

Im zweiten Hauptteil – nach der Rahmenanalyse – werden die Bildungskarrieren der jungen Flüchtlinge dargestellt. Die Fülle der Beobachtungen lässt sich in Verlaufsmustern bündeln und typisieren. Die größte Gruppe verbleibt in Maßnahmenkarrieren, auch "Jobkarrieren" sind verbreitet, schließlich lassen sich auch Ausbildungs- und Arbeitslosigkeitskarrieren identifizieren. Der Wert der nonformalen Angebote bleibt in diesem Zusammenhang auch aus der Sicht der Jugendlichen recht begrenzt und steigt dann an, wenn diese Angebote den Zugang zu formellen Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten eröffnen.

Im Unterschied zu manchen anderen Untersuchungen wurden in dem hier berichteten Projekt die von den Jugendlichen "mitgebrachten" Kompetenzen untersucht. Auch hier zeigt sich eine erstaunliche Vielfalt von formalen und informellen Fertigkeiten, die im Heimatland erworben wurden. Es gibt große Unterschiede zwischen den Jugendlichen und eine ganze Reihe von Bedingungen strukturiert die Anschlussfähigkeit an diese Kompetenzen in Deutschland. Darüber hinaus wurden die sprachlichen Ressourcen und das Verfügen über Kapitalien (Wohnsituation, soziale Beziehungen, Einkommen, Gesundheit) untersucht.

Trotzt der widrigen Umstände und teilweise unsäglicher Rechtserschwernisse haben, wie eine Nachuntersuchung ergeben hat, 24 von 34 jungen Flüchtlingen, die bei der Nachuntersuchung in Hamburg befragt werden konnten, einen formalen Bildungsgang (Haupt- oder Realschulabschluss, abgeschlossene Ausbildung) abgeschlossen. Die aus der Nachuntersuchung resultierenden Perspektiven für die Jugendlichen sind überwiegend "trübe", das Aufnahmesystem hat ihre Bildungsbemühungen und Kompetenzen überwiegend erfolgreich abgewehrt.

Die Differenziertheit der methodischen Zugänge führt insgesamt zu einer Vielfalt von Einzelergebnissen, aber auch zu großen Unterschieden in der Sache selbst. Die den Band abschließenden theoretischen Reflexionen konzentrieren sich mit dem Konzept des "Totalen Raums" mehr oder weniger auf die Lage der Flüchtlingsjugendlichen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus. An dieser Situation lässt sich am besten zeigen, wie die ausländerrechtlichen Determinanten einen Raum der totalen Kontrolle schaffen, in dem keine selbstbestimmten Bildungsprozesse möglich sind. Dies lässt sich als objektives Verhältnis analysieren, wird aber auch in der Wahrnehmung der Jugendlichen als vollständige Fremdbestimmung deutlich. Alles, was sie gegen die Fremdbestimmung tun, kann gegen sie verwendet werden, kann in vielen Fällen kriminalisiert werden. Ob sie sich apathisch oder rebellisch verhalten, sie folgen der Logik, die ihnen durch die Kontrolle gesetzt sind. Das haben sie gemein mit den Insassen einer Anstalt. Handeln bedeutet immer schon zugeschriebene Identität als "Wirtschaftsflüchtling", Krimineller", "Sozialschmarotzer" usw.

Die theoretische Diskussion nutzt allerdings auf der Ebene der Empirie die Chancen der Parallelität zum Handeln in Totalen Institutionen zu wenig. Wie produktiv die Parallelität sein kann, zeigt sich dort, wo die soziale Konstruktion des Flüchtlings in Analogie zu Goffmans Stigmatisierungsanalysen interpretiert wird ("Umbruch und Bewältigung"). Zum anderen fokussiert die Begrifflichkeit des Totalen Raumes zu sehr auf die Lage eines Teils der Jugendlichen; auch theoretisch wären die tatsächlich möglichen Bildungs- und Lernprozesse und die Relevanzen des Unterstützungssystems der "Ausländerszene" zu berücksichtigen.

Doch auch in dieser Richtung entwickeln die Autoren selbst theoretische Konzepte, beispielsweise wenn die Kategorien "Flucht", "Flüchtling" und "Fluchtursachen" im Hinblick auf ihre räumliche und zeitliche Eindimensionalität kritisiert und Konzepte angedeutet werden, in denen die tatsächlichen Verschränkungen einer kapitalistisch globalisierten Welt angemessen berücksichtigt werden. Die Beachtung von Trans- und Internationalität in den grundlegenden Kategorien überwindet die "nationale Codierung" des sozialwissenschaftlichen Begriffsinventars (S. 426).

Der Band wird abgeschlossen mit pädagogischen Forderungen, die sich an der gut begründeten Zentralnorm der pädagogischen Freiheit und in wesentlichen Teilen auf die vorbehaltlose Ratifizierung der UN-Kinderrrechtskonvention hinauslaufen. Man muss dies hervorheben: Es geht nur um die uneingeschränkte Umsetzung einer internationalen Vereinbarung, damit junge Flüchtlinge in Deutschland ihr Recht auf Bildung realisieren können.

Die pädagogisch begründeten Forderungen nach Neuorientierung der Bildungspolitik schließen einen empirisch gehaltvollen und theoretisch anregenden Forschungsbericht ab, der aufmerksame Rezeption verdient.
Franz Hamburger (Mainz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Franz Hamburger: Rezension von: Neumann, Ursula / Niedrig, Heike / Schroeder, Joachim / Senkwa, Lous Henry (Hg.): Lernen am Rande der Gesellschaft, Bildungsinstitutionen im Spiegel von Flüchtlingsbiografien, Münster u.a.: Waxmann 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091279.html