Die vor allem in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit viel Engagement und Polemik, aber weit weniger empirischen und logischen Argumenten geführte Debatte um eine eigenständige Sozialarbeitswissenschaft ist der Ausgangspunkt des vorliegenden Buches. Ursula Tilk fasst inhaltliche Schwerpunkte dieser Debatte zusammen, um damit "die wissenschaftstheoretische und fachlich-inhaltliche Eigenart der Überlegungen zur Identität der Sozialen Arbeit" (10) herauszuarbeiten und "das Verhältnis einer Sozialarbeitswissenschaft zur Wissenschaft der Sozialpädagogik" (ebd.) zu klären. Sie selbst – schreibt Tilk – nehme dabei eine "vermittelnde Perspektive" (ebd.) ein.
Zunächst rekonstruiert Tilk in dieser Absicht die Debatte um die Sozialarbeitswissenschaft (Kapitel 2) und arbeitet dabei unterschiedliche Facetten heraus: Sie unterscheidet zwischen wissenschaftstheoretischen und wissenschaftspolitischen Aspekten der Debatte, operiert mit der Differenz von Professions- und Disziplinorientierung, skizziert den in dieser Debatte umstrittenen Begriff des "Pädagogischen" und befasst sich mit den terminologischen Problemen der Unterscheidung zwischen Sozialarbeit und Sozialpädagogik.
In diesem Kapitel trifft Tilk eine Unterscheidung, die zu der zentralen Voraussetzung für die Überlegungen im weiteren Verlauf des Buches wird. Die Unterscheidung besteht darin, dass sie die Auseinandersetzung um eine eigenständige Sozialarbeitswissenschaft zu einer Auseinandersetzung zwischen Fachhochschul- und Universitätsvertreterinnen und -vertretern stilisiert. Zwar weist sie mehrfach darauf hin, dass sich auch Überschneidungen in den inhaltlichen Positionen finden oder dass es Differenzen innerhalb der beiden Parteien gibt, jedoch beharrt sie auf dieser Unterscheidung – offenkundig wider besseren Wissens: "Trotz der inhaltlichen Überschneidungen einer Sozialarbeitswissenschaft mit den Überlegungen ihrer sozialpädagogischen Kritiker und trotz differierender Ideen innerhalb der Gruppen der sozialarbeitswissenschaftlichen Befürworter und der sozialpädagogischen Kritiker lassen sich dennoch die programmatischen Differenzen einer Sozialarbeitswissenschaft und Sozialpädagogik um den Charakter einer Wissenschaft der Sozialen Arbeit entlang der Linie Fachhochschule – Universität darstellen – nicht zuletzt deswegen, weil mit der Durchsetzung einer eigenständigen Sozialarbeitswissenschaft auch die Profilierung der Fachhochschulen im Wissenschaftssystem in Frage steht" (15).
Dass Tilk – trotz vielfältigster Argumente dagegen – auf dieser Unterscheidung bestehen muss, erklärt sich durch den weiteren Aufbau und Argumentationsgang des Buches. Denn im dritten Kapitel wird die "universitäre Variante" einer Wissenschaft von der Sozialen Arbeit unter dem Etikett einer "reflexiven Sozialpädagogik" dargestellt. Hier bezieht sich Tilk v.a. auf Publikationen von Merten, Rauschenbach, Thiersch und Winkler. Im vierten Kapitel wird die "Fachhochschulvariante" der Sozialarbeitswissenschaft als "systemtheoretisch fundierte Handlungstheorie" dargestellt. Die Bezugspublikationen stammen u.a. von Erath/Göppner, Kleve, Lüssi, Miller, Mühlum, Staub-Bernasconi und Wendt.
Die eingangs angedeutete "vermittelnde Position" Tilks besteht nun darin, dass sie (in Kapitel 5) den Begriff der "Lebensbewältigung" als "missing link" zwischen den Positionen stark macht. Das Konzept der Unterstützung zur Lebensbewältigung, wie es etwa Thiersch und v.a. Böhnisch entwickelt haben, interpretiert Tilk als Konzept moralischer Bildung (151). In einer Art friedlicher Arbeitsteilung sieht Tilk den "universitären" Part im Rahmen einer so verstandene "Bewältigungspädagogik" v.a. in der Reflexion der "Gefahr einer unreflektierten Anpassung und Übernahme gesellschaftlicher Problemlösungsforderungen" (159). Der "Fachhochschulpart" der Sozialarbeitswissenschaft "sucht den Nutzen unmittelbarer praktischer Problemlösung und wendet sich mit dem Hinweis der Praxisrelevanz gegen die theoretische Distanz, die eine kritische Reflexion der subjektiven Interpretationen der Handlungsziele einschließt" (ebd.).
Die Aporien des Begriffs der Lebensbewältigung, die Tilk im fünften Kapitel herausarbeitet, sollen schließlich im sechsten und abschließenden Kapitel durch Rückgriff auf den Bildungsbegriff versöhnt werden. Bildungsorientierte Soziale Arbeit wird von der Verfasserin als Konzept stark gemacht, das eine lediglich funktional verstandene Lebensbewältigung um die subjektiven Faktoren eigener Motive, Bedürfnisse und Prioritäten ergänzen könnte. Bildungsorientierte Soziale Arbeit rettet so – sehr verkürzt formuliert – die Autonomie des Subjekts in der heteronomen Orientierung des Lebensbewältigungskonzepts. So wird zum Schluss der Lektüre auch die Pointe klar: Der Titel des Buches – "Lebensbewältigung zwischen Bildungsanspruch und gesellschaftlicher Anpassung" – scheint eine auf dem aktuellen Level sozialpädagogischer Theoriediskussion vorgenommene Reformulierung einer bekannten Aporie zu sein: "Sozialpädagogisches Alltagshandeln zwischen Hilfe und Kontrolle", wie es Siegfried Müller 1978 formuliert hat.
Es ist empfehlenswert, bei der Lektüre von der schematischen Fachhochschul-/Universitätszuordnung, die die Autorin getroffen hat, abzusehen. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb Tilk ohne zureichende wissenschaftssoziologische Analysen, theoretische Differenzen ausschließlich an der Differenz zweier Organisationen im Wissenschaftsbetrieb (Fachhochschule/Universität) festmachen will.
Auch unter wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive erscheint die Unterscheidung willkürlich. Denn als ersten Beitrag zur Debatte um eine eigenständige Sozialarbeitswissenschaft nennt Tilk einen Aufsatz von Zink aus dem Jahre 1988; Anlass der Debatte sei jedoch vor allem Engelkes Buch "Soziale Arbeit als Wissenschaft" aus dem Jahre 1993 gewesen. Nachdem es allerdings spätestens seit 1970/71 Ausbildungsgänge für Sozialpädagogik (und entsprechende Professuren) parallel an Universitäten und Fachhochschulen gab, stellt sich doch die Frage, weshalb sich diese Debatte erst Anfang der neunziger Jahre entwickelt. Entstehen die "erkenntnistheoretischen", "wissenschaftstheoretischen" oder "programmatischen" Differenzen (Tilk) erst nach einer gewissen Inkubationszeit?
Vollends irritierend schließlich scheint die Verwendung der Termini "Disziplin" und "Profession" zu sein, wenn etwa von der universitären Sozialpädagogik behauptet wird, sie bestehe auf einer "Trennung von Disziplin und Profession" (45), bei der an Fachhochschulen angesiedelte Sozialarbeitswissenschaft handele es sich hingegen um eine "eigene Disziplin", die die Distanz zur Praxis aufgebe und sich "gleichsam im Auftrag des Professionellen genötigt [sehe; H.G.], Methoden zu entwerfen" (46). Hier scheint ein altes Stereotyp – universitäre Sozialpädagogik als praxis- und professionsfern, fachhochschulische Sozialarbeitswissenschaft als praxis- und professionsnah – durchzuschimmern, das durch empirische Wissenschaftsforschung erst zu überprüfen wäre, denn Tilk bewegt sich hier ja auf der Ebene der durch Theorievarianten vorgenommenen Selbstbeschreibungen.
Sieht man allerdings von diesen Einwänden ab, so ist das Buch für diejenigen, die sich für die Theorieentwicklung der Sozialen Arbeit der letzten fünfzehn Jahre interessieren, sicher eine anregende und lohnende Lektüre. Die Kombination und Rekombination unterschiedlicher theoretischer Argumentationslinien ist gut nachvollziehbar. Die vielfältigen Hinweise auf die Möglichkeiten einer Funktionalisierung des Konzepts der Lebensbewältigung tragen sicherlich zur Weiterentwicklung dieses Konzepts bei. Die abschließenden Vorschläge zu einer bildungsorientierten Sozialen Arbeit stoßen derzeit sicherlich auf offene Ohren.
EWR 2 (2003), Nr. 1 (Januar 2003)
Lebensbewältigung zwischen Bildungsansprüchen und gesellschaftlicher Anpassung
Zum Verhältnis von Sozialarbeitswissenschaft und Sozialpädagogik
Münster u.a.: Waxmann 2002
(184 Seiten; ISBN 3-8309-1108-4; 19,50 EUR)
Hans Gängler (Dresden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hans Gängler: Rezension von: Tilk, Ursula: Lebensbewältigung zwischen Bildungsansprüchen und gesellschaftlicher Anpassung, Zum Verhältnis von Sozialarbeitswissenschaft und Sozialpädagogik, Münster u.a.: Waxmann 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.01.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091108.html
Hans Gängler: Rezension von: Tilk, Ursula: Lebensbewältigung zwischen Bildungsansprüchen und gesellschaftlicher Anpassung, Zum Verhältnis von Sozialarbeitswissenschaft und Sozialpädagogik, Münster u.a.: Waxmann 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.01.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091108.html