Babara Platzers Arbeit versteht sich als âVersuch, einen Begriff des Lernens bildungstheoretisch zu fundierenâ (20). Kritisch distanziert sie sich dabei von neurophysiologischen und psychologischen AnsĂ€tzen, die âLernenâ einseitig auf das âSpeichernâ von Informationen reduzieren. Die schlichte Konzentration auf die Funktion neuronaler Prozesse vernachlĂ€ssige beispielsweise jenen âtĂ€tige[n] Charakter des sich zu eigen Machensâ (13), der dem Lernbegriff mit gleichem Recht zukomme. Auch die Rede von âlebenslangem Lernenâ diene hĂ€ufig nur dazu, eine pauschale Forderung nach Anpassung gemÀà den Kriterien ökonomischer Verwertbarkeit zu kaschieren. Daran schlieĂt sich die Warnung an, dass sich die momentane Konjunktur des Lernbegriffs nicht auf Kosten einer Reduktion seiner unterschiedlichen Verwendungskontexte ereignen dĂŒrfe.
Genau hier sieht Platzer das Potential einer bildungstheoretisch orientierten und âexplizit pĂ€dagogische[n] Deutungâ (16), die stets zwei Ebenen zu berĂŒcksichtigen hat: Einerseits geht es um die Bestimmung eines alternativeren Lernbegriffs, andererseits muss mit dessen Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit gerechnet werden. In diesem Zwiespalt zwischen Bestimmung und Unbestimmtheit sucht Platzer nach Offenheit: einem Lernbegriff mit âverschwommenen RĂ€ndernâ. Als ein geeignetes âtheoretisches Instrumentâ oder âWerkzeugâ, um den Lernbegriff vor dem Hintergrund dieses Anspruches zu thematisieren, sieht Platzer die sprachphilosophischen Untersuchungen des spĂ€ten Ludwig Wittgenstein (17). Der Zusammenhang zwischen âSprechenâ und âLernenâ, der im Titel angedeutet wird, ist dabei nicht so zu verstehen, dass ein âErlernen des Sprechensâ oder âLernen im Medium der Spracheâ verhandelt werden soll. Platzer schreibt, im Vordergrund ihrer Untersuchung stehe eine âAnalogie von Sprache und Lernenâ (17). Die Annahme des spĂ€ten Wittgensteins, dass sich Sprache nicht auf einen Wesenskern reduzieren lasse, sei auf eine bildungstheoretische Thematisierung des Lernens ĂŒbertragbar, wenn es auch hier auf die Wahrung der PluralitĂ€t möglicher Verwendungsformen ankomme (18).
Der Anspruch des Buches ist damit jedoch nicht hinreichend umrissen: Schon in den ersten Kapiteln wird deutlich, dass neben einer Analogisierung zwischen Wittgensteins spĂ€ter Sprachphilosophie und dem Lernbegriff ein besonderes Interesse Platzers darin besteht, dem Lernbegriff in der Sprachphilosophie Wittgensteins einen Ort zu geben. Das mĂŒndet in einen nicht immer unproblematischen Spagat, der sich leitmotivisch in nahezu allen Kapitel wieder findet: Einerseits besteht die Intention darin, eine analoge Struktur zwischen Sprechen und Lernen aufzuzeigen. Andererseits wird nach der Bedeutung des Einen fĂŒr die Konzeption des Anderen gefragt. In diesem Zusammenhang wird Wittgensteins Sprachphilosophie dann zu mehr als einem bloĂen âWerkzeugâ.
Im ersten Kapitel steht noch die Analogie im Vordergrund. Platzer diskutiert zunĂ€chst die Anforderungen an einen Lernbegriff, den sie, aktuelle pĂ€dagogische Diskussionen zum Lernbegriff resĂŒmierend, durch die offenen Merkmale der âTĂ€tigkeitâ und der âBewegungâ bestimmt wissen will. Erst die Schwierigkeit, dass ein solcher Lernbegriff in eine Vielfalt unterschiedlicher TĂ€tigkeiten zu zerfallen droht, bildet die BrĂŒcke zu Wittgenstein, der ein analoges Problem mit der Sprachspielkonzeption beantwortet. Hier sieht Platzer eine hinreichend bewegliche Struktur, die es erlaubt, Begriffe im Spiegel unterschiedlicher TĂ€tigkeiten zu reflektieren. Analog dazu ergebe sich fĂŒr den Lernbegriff die Notwendigkeit âdas Augenmerk weg vom lernenden Subjekt und hin auf die GegenstĂ€nde des Lernensâ (37) zu richten. Im Zuge einer solchen âEntthronung des Subjektsâ (36) lieĂe sich âLernenâ nicht mehr zu einem abstrakten zurechenbaren Kompetenzbegriff, wie er in der Rede vom âLernen des Lernensâ aufscheint, verallgemeinern, sondern werde als Spiegel unterschiedlicher TĂ€tigkeiten verstĂ€ndlich.
Daran anschlieĂend wird im zweiten Kapitel auf verschiedenen Ebenen untersucht, wie sich âLernenâ mit Wittgensteins Sprachspielkonzeption in Beziehung setzen lĂ€sst. Neben einer Analogie, die âSpielenâ wie âLernenâ jenseits von Ontologie situiert, wird der Charakter des Regelbegriffs bei Wittgenstein erörtert. Im Nachzeichnen von Wittgensteins Abkehr vom SprachkalkĂŒl, die seiner Hinwendung zum Sprachspiel vorausging, wird schlieĂlich der spezifische Charakter des Sprachspiels als regelgeleiteter, aber nicht völlig zu reglementierender Ablauf deutlich. In diesem Kontext macht Platzer auf Wittgensteins Rede von âverschwommenen RĂ€ndernâ der Sprachspiele aufmerksam (58), die sie fĂŒr die systematischen Konturen ihres Lernbegriffs ĂŒbernimmt. Bis hierhin geht es noch um die Suche nach Analogien. SpĂ€testens mit der Frage âwie lernt man Sprachspiele?â (61) kĂŒndigt sich hingegen ein Wechsel an. In Umkehrung der Frage, was die Sprachspielkonzeption fĂŒr den Lernbegriff bedeutet, diskutiert Platzer nun auĂerdem die Frage, wie Sprachspiele ihrerseits gelernt werden.
Im dritten Kapitel vertieft sich Platzer weiter in die Sprachphilosophie Wittgensteins. Indem der Begriff des âSinnsâ den âRekurs auf auĂersprachliche GegenstĂ€ndeâ verneine, transportiere er implizit, dass man es immer nur mit spezifischen Sichtweisen zu tun habe (68), was eine Suche nach Wahrheit ausschlieĂt: âVom tĂ€tigen, stĂ€ndig in der VerĂ€nderung begriffenen Sprechen kann gesagt werden, ob es der Sprachspielgemeinschaft als sinnvoll erscheint; nicht aber, ob es wahr istâ (69). Man solle sich dementsprechend weniger fĂŒr eine einzige, wahre Bedeutung von Sprache als fĂŒr ihre unterschiedlichen Verwendungsformen interessieren. Von hier aus wird Wittgensteins Diktum verstĂ€ndlich, dass die Bedeutung von Wörtern ihr Gebrauch in der Sprache sei (76). âLernenâ sei dementsprechend nicht auf eine Bedeutung reduzierbar, sondern lieĂe sich nur im Kontext unterschiedlicher Verwendungsmöglichkeiten thematisieren.
Im vierten und umfangreichsten Kapitel diskutiert Platzer, inwieweit sich Lernen mit Wittgenstein als innerer Vorgang begreifen lĂ€sst. Dabei wird schnell deutlich, dass ein schlichter Innen-AuĂen-Dualismus weder hinreicht, um Wittgensteins Sprachspielkonzept gerecht zu werden, noch um einen daran angelehnten Lernbegriff zu fundieren. Im Nachvollzug von Wittgensteins Privatsprachenargument wird zum einen deutlich, dass âSpracheâ wie âLernenâ stets auf IntersubjektivitĂ€t bezogen bleibt. Zum anderen wird betont, dass sich âLernenâ nie zur GĂ€nze beschreiben lĂ€sst (89). Platzer schlĂ€gt daher vor, das VerhĂ€ltnis von Innen und AuĂen nicht als âWegweiser fĂŒr die Anzeige von Bedeutungenâ, sondern als âBild fĂŒr die Unsicherheit, die sich aus den vielschichtigen BezĂŒgen zwischenmenschlicher TĂ€tigkeiten ergibtâ, zu verstehen (92). âLernenâ wird vor diesem Hintergrund zu einem âZwischen-GefĂŒgeâ. Platzer spricht von einem âkonstitutive[n] Schwanken des Lernbegriffs zwischen Innen und AuĂenâ (139).
Ein fĂŒnftes Kapitel widmet Platzer dem Begriff der Lebensform. Dessen Stellenwert dĂŒrfe in der Theorie Wittgensteins zwar nicht ĂŒberschĂ€tzt werden, biete jedoch fĂŒr die Untersuchung des Lernens wichtige Anhaltspunkte. Als âMetapherâ fĂŒr den Weltbezug von Sprache (142) sind Lebensformen fĂŒr Platzer systematisch so etwas wie das weltliche GegenstĂŒck der Sprachspiele. Wenn Sprache ihren Sinn nicht aus sich heraus, sondern nur im Verbund mit nichtsprachlichen Praktiken realisiere, dann sei der Begriff der âLebensformâ ein möglicher Name fĂŒr diesen nichtsprachlichen Bereich. Im Zuge einer solchen Konzeption ordnet Platzer dem âLernenâ bei Wittgenstein einen fundamentalen Stellenwert zu. âLernenâ wird quasi zur transformatorischen Instanz die âetwas Nichtsprachliches zum Inhalt habenâ kann, um es âdurch Sprache zu reprĂ€sentierenâ (170).
SchlieĂlich thematisiert Platzer in einem sechsten Kapitel die mögliche GĂŒte des Gelernten. Ausgehend von Wittgensteins ĂuĂerungen âĂŒber Gewissheitâ thematisiert sie eine Art âVorwissenâ, welches sich durch zweifelndes Lernen revidieren und ausdifferenzieren lĂ€sst (185).
Im Schlusskapitel rĂŒckt die Frage nach dem Ort des Lernens in Wittgensteins Untersuchungen nunmehr ganz in den Vordergrund. Angesichts der PluralitĂ€t möglicher Bedeutungen und Verwendungskontexte, die aus den Wittgensteinschen Ăberlegungen resultiere, könne das Gelernte als âRuhepunkt einer vorlĂ€ufigen Gewissheitâ dienen, der notwendig sei, um Sinn und Unsinn voneinander zu unterscheiden (186). Als âeine Art Leerstelle im Sinne einer schwankenden Gewissheitâ könne das Gelernte die scheinbare Beliebigkeit von Bedeutungen im unterschiedlichen Gebrauch vorĂŒbergehend ankern (187). Vor dem Hintergrund dieser These erklĂ€rt Platzer den Lernbegriff, auch wenn dieser, wie sie selbst zugesteht, bei Wittgenstein kaum auftaucht, zur âtragende[n] SĂ€ule der Sprachspielkonzeptionâ (186). In umgekehrter Blickrichtung folgert sie aus den Ăberlegungen zu Wittgenstein auĂerdem unterschiedliche Konsequenzen fĂŒr eine Konzeption des Lernbegriffs: Der Lernbegriff gehe in unterschiedlichen TĂ€tigkeiten des Lernens auf und sei daher nicht nĂ€her definierbar. Weiterhin sei bei jeder deskriptiven AnnĂ€herung die Einbindung in unterschiedliche Lebensformen zu beachten, was schlieĂlich zu der Feststellung fĂŒhre, dass ein solcher Topos des Lernens, formal betrachtet, leer sein mĂŒsse. Das muss jedoch kein Nachteil sein, sondern kann im Gegenteil erst die Wahrnehmung einer âbunte[n] Vielfalt von Lernereignissenâ (189) ermöglichen.
Mit âSprechen und Lernenâ legt Barbara Platzer eine anregende und anschlussfĂ€hige Studie vor. Das Vorhaben, sprachphilosophische und pĂ€dagogische Ăberlegungen zusammenzudenken, ist dabei ebenso begrĂŒĂenswert wie eine Auseinandersetzung mit dem SpĂ€twerk Ludwig Wittgensteins, das im pĂ€dagogischen Kontext zu unrecht oft nur randstĂ€ndig thematisiert wird. Weiterhin eröffnet Platzers Untersuchung interessante Perspektiven auf eine niveauvolle Thematisierung des Lernens jenseits von aktuellen Kompetenzdebatten. Der Versuch einer deskriptiven AnnĂ€herung an einen dezentrierten Lernbegriff, die ohne die Dominanz innerer Instanzen auskommt, liegt quer zu psychologischen VerstĂ€ndigungen. Platzers Analyse ermöglicht eine begrĂŒndete Skepsis gegenĂŒber schlicht identifizierenden Zugriffen auf den Lernbegriff.
Kritische Nachfragen provoziert hingegen die Art und Weise von Platzers Vorgehen. Der oben skizzierte und im Buch oft nicht hinreichend explizierte Wechsel von Fragerichtungen fĂŒhrt zu Irritationen bzw. zur Uneindeutigkeit des Vorhabens: Geht es um die (Neu-)Bestimmung eines pĂ€dagogischen Lernbegriffs? Soll vor dem Hintergrund von Wittgensteins Sprachphilosophie die Unbestimmbarkeit von âLernenâ expliziert werden? Oder besteht schlieĂlich die Absicht der Autorin darin, den Ort des Lernens in der Sprachphilosophie Wittgensteins zu bestimmen? Alle drei Fragen setzen unterschiedliche analytische Ebenen voraus. Welches Sprachspiel wird hier gespielt? Verwirrung stiftet in diesem Zusammenhang auch der Anspruch, Analogien zu identifizieren. Lassen sich âLernprozesseâ (20) und âAnwendungen des Lernbegriffsâ (20), die auf verschiedene analytische Ebenen gehören, analogisieren? Setzt eine Analogie zwischen âLernenâ und âder Rede ĂŒber Lernenâ nicht auĂerdem einen eigenen Lernbegriff voraus? Ein irgendwie bestimmter Lernbegriff scheint m.E. der Sprachspielkonzeption und selbst der Forderung nach einer hinreichenden Unbestimmtheit des Lernbegriffs vorausgesetzt, wobei sich diese Voraussetzung aus der Sprachspielkonzeption Wittgensteins heraus nicht rechtfertigen lĂ€sst.
Eine vollkommen andere und von Platzer durchaus pointiert gestellte Frage ist die nach dem Ort des Lernens innerhalb von Wittgensteins philosophischen Untersuchungen. Ausgehend davon, dass ein âSprechen vom Lernenâ ein âLernen vom Sprechenâ voraussetzt, lĂ€sst sich die Frage, was hier âLernenâ bedeutet, mit einigem Recht an Wittgenstein herantragen. Gleichwohl wĂ€re diesbezĂŒglich wie auch in Hinblick auf pĂ€dagogische Fragestellungen eine intensivere Auseinandersetzung mit der aphoristischen Form Wittgensteinscher Untersuchungen wĂŒnschenswert gewesen. Versteht man deren Unsystematik als systematisch bedingt (23), dann bleibt das nicht ohne Konsequenzen fĂŒr das VerhĂ€ltnis zum Leser sowie fĂŒr den Status der gesamten Theorie. Wenn sich die Unsystematik nicht in Systematik auflösen lĂ€sst und wenn die Form der Darstellung das Dargestellte immer schon affiziert, muss dies zur Suspension von jeglicher Gewissheit fĂŒhren. Nicht eine wie auch immer geartete Sprachphilosophie, sondern der Modus ihrer Darstellung behielte dann stets das letzte Wort. Dies lieĂe sich als pĂ€dagogische Konstruktion thematisieren, die den Anspruch auf pĂ€dagogische VerfĂŒgbarkeit grundlegend problematisiert.
Auch wenn es weitgehend dem Leser ĂŒberlassen bleibt, die unterschiedlichen FragestrĂ€nge, die Platzer in ihrem Buch bearbeitet, zu entwirren, so schmĂ€lert dies jedoch nicht Platzers Verdienst, den Ort des Lernens in Wittgensteins spĂ€ter Sprachphilosophie systematisch aufgearbeitet und fĂŒr aktuelle Diskussionen rund um den Lernbegriff fruchtbar gemacht zu haben.
EWR 7 (2008), Nr. 1 (Januar/Februar)
Sprechen und Lernen
Untersuchungen zum Begriff des Lernens im AnschluĂ an Ludwig Wittgenstein
WĂŒrzburg: Königshausen und Neumann 2006
(215 S.; ISBN 3-8260-3469-4; 28,00 EUR)
Oliver KrĂŒger (Halle/Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Oliver KrĂŒger: Rezension von: Platzer, Barbara: Sprechen und Lernen, Untersuchungen zum Begriff des Lernens im AnschluĂ an Ludwig Wittgenstein. WĂŒrzburg: Königshausen und Neumann 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82603469.html
Oliver KrĂŒger: Rezension von: Platzer, Barbara: Sprechen und Lernen, Untersuchungen zum Begriff des Lernens im AnschluĂ an Ludwig Wittgenstein. WĂŒrzburg: Königshausen und Neumann 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82603469.html