
Zum Buch selbst: Es handelt sich um eine erziehungswissenschaftliche Dissertation, also ein wissenschaftlich empirisches Werk, das demzufolge in seinem Aufbau, seiner Struktur, wie auch in seinem Argumentationsgang im Gewand wissenschaftlicher Theoriebezüge und methodischer Transparenz aufgemacht ist. Die Autorin schreibt klar und verständlich, was einen sehr positiven Beitrag zur Lesefreundlichkeit auch für nicht Professionelle leistet. Einzig problematisch erscheinen die mangelnden Übergänge der Kapitel sowie fehlende Zusammenfassungen, die sich der Leser durchaus an der einen oder anderen Stelle wünscht.
Zum Aufbau und Inhalt: Biendarra beginnt ihre Arbeit in Kap. I mit Bezug auf das Krankheitserleben bedeutender Persönlichkeiten. Goethe, Jaspers, Nietzsche und Freud kommen im Hinblick auf ihre eigene Auseinandersetzung mit ihrem von Krankheit durchzogenem Leben zu Wort. Gemeinsam ist ihnen die Besinnung und selbstreflexiv geführte Betrachtung ihres Lebens in Bezug auf ihre Krankheit und ihrer jeweiligen Suche nach einem Umgang mit dieser Form lebensbegleitender Einschränkung und Leidens. Damit ist eine erste biografische Spur aufgemacht, die von der Autorin im zweiten Kapitel mit der Frage weitergeführt wird, warum sich eigentlich erziehungswissenschaftliche Biografieforschung für den Gegenstandsbereich von Gesundheit und Krankheit interessiert. Jenseits einer Legitimation durch gesundheitspädagogische Aufgabenstellungen geht es speziell darum, aus einer empirischen Perspektive den Zusammenhang von Krankheit, Identität und Bildung herzustellen. Entsprechend breit ist der theoretische Rahmen dieses Kapitels. Ausführlich und aus den verschiedensten Disziplinen heraus werden zunächst die Begriffe Gesundheit und Krankheit erläutert sowie kritisch reflektiert. Was kann Krankheit für den Menschen bedeuten? Anknüpfend an von Weizäckers medizinische Anthropologie und Pestalozzis biografische Nachforschungen wird so dann noch einmal die zentrale Fragestellung dieser Arbeit begründet und im Weiteren auf den Aspekt von Bildung fokussiert. Im Hinblick darauf, dass Biendarra ältere Menschen in einer Rehabilitationsklinik interviewt hat, werden im dritten Kapitel die Aspekte von Alter und Krankheit unter eine pädagogische Perspektive gestellt. Hier geht es neben Ergebnissen der Altersforschung und den Fragen praktischer Arbeit mit alten Menschen vor allem um die Faktoren von Identität, Krankheit, Sterben und Tod.
Nach Darlegung dieses theoretischen Bezugsrahmens erläutert Biendarra im vierten Kapitel sehr umfangreich ihre Methodenwahl hinsichtlich der qualitativen Inhaltsanalyse, pädagogischer Biografieforschung und hermeneutischer Psychologie. Diese sehr gründliche und gediegene Darstellung verweist auf eine sehr durchdachte Gesamtkonzeption für die Empirie und ist auch für den bislang in der qualitativen Forschung nicht bewanderten Leser ausgesprochen informativ. Auf dieser Basis gelingt es dem Leser auch, die im fünften Kapitel aufgeführten fünfundzwanzig Klinikgespräche in ihrem Ansatz inhaltsanalytischer Auswertung wie auch die hermeneutisch psychologischen Interpretationen nachzuvollziehen. Sehr anschaulich, eindrucksvoll und nahezu fließend erschließt sich, wie die Verarbeitung von Krankheit durch lebensgeschichtliche Erfahrungen, Einstellungen und Erlebnisse geprägt ist, ebenso wie Krankheiten durch biografisch einschneidende Prozesse in ihrer Entstehung begünstigt werden. Ausdrücklich und ausführlich geht Biendarra auf das bildende Potential von Krankheiten ein. Selbstkritisch stellt sie dabei fest, dass die Frage, wie bildend Krankheit tatsächlich ist, von außen betrachtet nicht wirklich objektivierbar war, sondern lediglich aus der subjektiven Betrachtungsweise erschlossen werden konnte. Insoweit verwundert ihre abschließende, die Programmatik ihres Ansatzes einschränkende und hervorgehobene Schlussfolgerung nicht: Krankheit ist ein biografisches und womöglich bildendes Ereignis.
Fazit: Ilona Biendarra hat die nicht nur pädagogisch ausgesprochen interessante Frage nach dem Zusammenhang von Biografie, Krankheit und Bildung in spannender Breite beleuchtet und damit zweifelsohne auch im interdisziplinären Kontext von Medizin, Psychologie und Pädagogik eine produktive subjektorientierte Perspektive aufgemacht, die es – wie die Autorin es selbst formuliert – weiter zu denken gilt.