Eine Krise der Erziehung ist vielfach konstatiert worden. Bis in die jüngste Vergangenheit hinein verfolgt der Gedanke der Krise die Geschichte der Pädagogik wie ihr heimlicher Schatten. In den 1960er Jahren prägte Georg Picht den Begriff der „Deutschen Bildungskatastrophe“. Im pädagogischen Diskurs ist dieses Szenario bis heute präsent. Auch Manfred Bönsch setzt sich in seiner Monographie „Erziehung in der Krise? – Pädagogik in Krisen“ mit dem pädagogischen Krisenbewusstsein auseinander. Sein Akzent liegt im Allgemeinen auf der Konzeptionierung einer präventiven Pädagogik. Dabei kreisen die Gedanken des Autors im Besonderen um Verbesserungen in den Bereichen der Schule und des Unterrichtes, für die der mittlerweile emeritierte Hannoveraner Erziehungswissenschaftler als ausgewiesener Experte gilt. In diversen Abhandlungen hat sich Manfred Bönsch bisher fundiert zu den Themen Schulpädagogik und allgemeine Didaktik zu Wort gemeldet.
Eine schematische Darstellung, die das Vorwort ersetzt, leitet den Band ein. Wie in dieser „Leseübersicht“ zu erfahren ist, soll die Monographie in erster Linie ratsuchenden Pädagoginnen und Pädagogen als Orientierungshilfe dienen. Der Autor versichert die enthaltenen Texte seien als „Leseangebot“ zu verstehen. Dementsprechend nimmt die Monographie in Teilen Handbuchcharakter an. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass der Fließtext in großen Passagen durch stichwortartige Zusammenfassungen, Thesen und Schaubilder durchsetzt ist. Diese Anordnung legt einen instrumentellen Gebrauch der Literatur nahe, was für ihre Rezeption jedoch nicht immer von Vorteil ist. Die Monographie ist in drei Hauptkapitel gegliedert, die in fünf Unterabteilungen zerfallen und „sternförmig“ auf den Gedanken einer institutionellen und kommunikativen pädagogischen Krise bzw. „Verstörung“ zulaufen. Die einzelnen Abschnitte der Kapitel lassen sich weniger in ihrer thematischen Aufeinanderfolge, als vielmehr von ihrem inneren Zusammenhang mit dem programmatischen Leitgedanken des Werkes her verstehen.
Zu Beginn des ersten Kapitels skizziert Bönsch die Hauptströmungen der gegenwärtigen Pädagogik. Dabei verweist er auf die Ausdifferenzierung, die die Pädagogik in den letzten Jahrzehnten erfahren hat. Von einer Wissenschaft, die hauptsächlich von allgemeinen und systematisch pädagogischen Fragestellungen bestimmt gewesen sei, habe sie sich zu einer Integrationswissenschaft gewandelt, die in diverse spezialpädagogische Subdisziplinen zerfällt und sich theoretischen Rat bei diversen Bezugswissenschaften einholt. Dieser „neuen Unübersichtlichkeit“ steht Bönsch nicht unkritisch gegenüber. Sie bringe nämlich den Bereich der Schulpädagogik in eine schwierige Lage, die durch beschleunigte gesellschaftliche Veränderungsprozesse eine zusätzliche Brisanz erhalte. Bönsch widmet sich zunächst dem Thema „Schule“ im gesellschaftlichen Kontext und fragt nach dem Sinn schulischer Strukturreformen. Dabei geht er auf den Zusammenhang von Schulprogramm und Schulprofil ein und erwägt Erziehungspartnerschaften und Elternbeteiligungen. Im Anschluss daran wird noch einmal die Frage nach der Funktion der Schule vor dem Hintergrund sich wandelnder gesellschaftlicher und ökonomischer Rahmenbedingungen aufgeworfen.
Bönsch sucht im Folgenden nach Antworten und Lösungen, indem er Theorien und Sichtweisen unabhängig von ihrer „sozialen Herkunft“ im wissenschaftlichen Milieu betrachtet. Zunächst fragt er nach der Aktualität der Reformpädagogik, deren auf „Ganzheitlichkeit“ gerichtete Konzepte er in wesentlichen Punkten für wegweisend hält. Die Reformpädagogik bleibt zwar für Bönsch wegen ihrer weltanschaulichen Implikationen umstritten, ihre pädagogischen Konzepte liefern jedoch in mancherlei Hinsicht ein Potential, auf das im schulpädagogischen Diskurs nicht verzichtet werden sollte. Im nächsten Abschnitt wirft Bönsch einen theoretischen Blick auf die Problemlage der Erziehungstheorie, die zwischen „Desorientierung“ und „Neuorientierung“ schwanke. Damit der wissenschaftliche Diskurs zu einem zeitgemäßen Erziehungsbegriff finden könne, der zwischen „alter Autorität“ und „antiautoritärem Ansatz“ vermittle, sei es erforderlich eine Kompromisskultur zu etablieren, in der Erziehende und zu Erziehende beiderseitig zu ihrem Recht kommen. Eine Möglichkeit der Vermittlung sieht Bönsch in der Erziehung zu „ethischer Kommunikation“, die er als „Konkretisierung“ seiner erziehungstheoretischen Überlegung auf der Grundlage der habermasschen „Theorie des kommunikativen Handelns“ entwickelt. Damit eröffnet sich die Perspektive für eine „aufklärerische Didaktik“, die ihre Qualität an kommunikativen Gütekriterien (Gegenseitigkeit, Einfühlungsvermögen, Einwirkungsfähigkeit) bemisst. Das Primat der Inhaltsvermittlung im Unterricht soll zugunsten des Primates der befreiten Kommunikation aufgelöst werden. Im darauf folgenden Abschnitt äußert sich Bönsch zu Möglichkeiten der „Entstörung“ der defizitären aktuellen Schul- und Unterrichtskultur. Zwei Verstörungen der Institution Schule seien derzeit maßgeblich: zum einen die „institutionelle Verstörung“ der Schule, die an der verstörten Situation der Hauptschulen ersichtlich sei, und zum anderen die kommunikative Verstörung der Schule, die an der Form des Schulunterrichts als Mittel zur Disziplinierung abgelesen werden könne. Ausgehend von seiner „aufklärerischen Didaktik“ analysiert Bönsch abschließend die Phänomene Schul- und Leistungsverweigerung.
Im nächsten Kapitel widmet sich Bönsch Überlegungen zu einer „neuen Pädagogik“. Hier geht es ihm hauptsächlich darum, das Konzept einer kommunikativ entspannten „guten Schule“ darzustellen, welches sich von der landläufigen, kommunikativ verstörten „schlechten Beschulung“ absetzt. Bönsch verweist in seinen weiteren Überlegungen auf die Relevanz der Bindungstheorie Bowlbys, um auf dessen Grundlage die Frage zu diskutieren, welche Bindungskräfte die Schule heute zu entfalten vermag. Es folgt ein Plädoyer für eine Kultur der „soft skills“, die den Menschen als Maß schuldpädagogischer Theoriebildung in den Vordergrund rückt. Davon ausgehend diskutiert Bönsch die Ergebnisse der PISA-Studie und ihre schulpädagogischen Folgen. Entgegen der aktuellen Entwicklung in Richtung verstärkter Leistungsorientierung sei ein verstärktes Augenmerk auf die „Arbeit am Menschen“ zu richten. Kooperation und Selbstorganisation seien hierfür maßgeblich. Im letzten Drittel des Kapitels wendet sich Bönsch dem Grundgedanken seiner Krisenpädagogik zu. Da die institutionelle Pädagogik häufig an ihre Grenzen stößt, müssen – so Bönsch – im schulpädagogischen Sektor neue, unkonventionelle Wege eingeschlagen werden. Zu den neuen Kooperationsstrategien, die Bönsch im Auge hat, zählen die „Veränderung der Institution“, die „kumulative Verdichtung des Beziehungsrahmens“ und die „Entwicklung alternativer, nachhaltiger Erziehungs- und Lernszenarien“. Zusammengenommen zielen die Überlegungen Bönschs auf eine grundlegende Veränderung des pädagogischen Ethos des Lehrerstandes.
Welche Veränderungen sich Bönsch genau in Hinblick auf das Berufsethos der Lehrerschaft vorstellt, wird im dritten und letzten Kapitel seiner Monographie deutlich. Der angestrebte Veränderungsprozess setzt bei der Qualifikation der Schulleitung an. Um der Misere der administrativen Verstörung der Schule zu begegnen, soll in einem ersten Schritt die Schulleitung ihr genuin pädagogisches Profil zurückgewinnen. Zusätzlichen Verwaltungs- und Managementaufgaben erteilt Bönsch eine deutliche Absage. Die Schulleitung gehört ins Klassenzimmer. Ähnliche Forderungen erhebt Bönsch auch für das Selbstkonzept von Lehrerinnen und Lehrern. Auch hier soll mehr die Person und weniger die Funktion des Lehrenden im Vordergrund stehen. Für sein schulpädagogisches Entstörungskonzept reaktiviert Bönsch reformpädagogisch aufgeladene Begriffe wie Ethos, Geist, Klima und Kooperation. Nicht unerwähnt sollen an dieser Stelle die Konsequenzen bleiben, die sich dadurch für das Referendariat ergeben. Hier sei der Entwicklung und Verbesserung „pädagogischer Kompetenzen“ eine übergeordnete Priorität einzuräumen. In den letzten Abschnitten des dritten Kapitels zieht Bönsch eine programmatische Bilanz aus seinen bisherigen Überlegungen. Zunächst beschäftigt er sich mit den Defiziten im Bereich der deutschen Vorschulpädagogik. Viele Kinder werden gemäß Bönschs Expertise „zu spät“ eingeschult. Er fordert deshalb eine grundständige Reform der Schuleingangsphase. In Zukunft soll das Gros der Kinder bereits mit fünf Jahren eingeschult werden, im so genannten „nullten“ Jahr. Unter der Überschrift „Lernen aus LAU“ thematisiert Bönsch die Untersuchungsergebnisse der Sozialerhebung „Aspekte der Lernausgangslage und der Lernwicklung“ (kurz LAU) aus den Jahren 1996/1997. In den Befunden des LAU-Reports sichtet Bönsch Hinweise auf eine strukturelle Benachteiligung bildungsferner Bevölkerungsschichten, die durch ein „Verändertes Ethos der Lehrerschaft“, „konsequente Förderung“ und „Ausweitung des Lernzeitenangebots“ zu verringern und, soweit wie möglich, aufzuheben sei. An diese emanzipatorischen Überlegungen schließen sich Forderungen nach „einer guten Ganztagsschule“ und Überlegungen zur „Beratung als systemstützende und -weiterentwickelnde Aktivitäten“ an.
Mag Bönschs Monographie für den systemorientierten Leser zunächst ein wenig „unsortiert“ wirken, so eröffnet sie doch vielfältige Perspektiven. Eine systematische Entwicklung einer geschlossenen Theorie der Krisenpädagogik liefert Bönsch hingegen nicht. Dafür erhält der Leser die Möglichkeit, seine eigenen Lesewege zu beschreiten. Insofern wird Bönsch seiner Intention gerecht, ein „Leseangebot“ zu liefern. Der Wert dieser Monographie liegt jedoch nicht nur in der Option ihres instrumentellen Gebrauchs, die sie besonders für den praktischen Einsatz in pädagogischen Krisenherden geeignet erscheinen lässt. Auch für den erziehungstheoretischen Diskurs liefert das Werk wichtige Impulse. In dem Abschnitt über „Prügelknaben – Zur Lage der Jungen in Schule und Unterricht“ wird ein Forschungsdesiderat angesprochen, das in der aktuellen schulpädagogische Diskussion unterbelichtet bleibt. Bönschs programmatische Forderungen zur Revision der Schuleingangsphase erweisen sich hingegen als problematisch. Erinnert sei an dieser Stelle an Dahrensdorfs Forderung nach einer „Bildung als Bürgerrecht“ und Robinsohns Vorstoß zu einer „Bildungsreform als Revision des Curriculums“ aus den Jahren 1965 und 1967, die flankiert von Pichts These einer allgemeinen „Bildungskatastrophe“ den „Strukturplan für das deutsche Bildungswesen“ von 1970 auf den Weg brachten. Vorschule, Grundschule und Sekundarstufe sollten reformiert werden. Das bisherige Bildungssystem galt es zu überwinden. All dies drängte seinerzeit unter der Maxime der „Chancengleichheit“ dazu, auf politischem Wege in die Tat umgesetzt zu werden und versetzt seither die deutsche Bildungslandschaft in den Zustand einer unaufhörlichen Dauerreform. Dabei oszillieren die didaktischen Modelle zwischen emanzipatorischen Forderungen und konkreten Leistungserwartungen, wobei man beiden Ansprüchen gerecht werden möchte. Auch in Bönschs Forderungen schwingt die spätaufklärerische Hoffnung auf Befreiung von Herrschaft durch (kommunikative) Revolutionierung des Schulsystems mit. Daneben fordert er aber auch die Verbesserung von Lernprozessen zur Steigerung der schulischen Leistungsfähigkeit, also die Anpassung der Schule an externe Leistungsstandards, denen zweckrationale Interessen zugrunde liegen. Dies ist ein pädagogisches Dilemma. Man versucht zwei Herren gleichzeitig zu dienen, womit letztendlich niemandem gedient ist. An dieser Stelle stellt sich folgende Frage: Lässt sich soziale Benachteilung auf dem Wege von Schulreformen überhaupt nachhaltig beseitigen oder ist Schule als Funktion der Gesellschaft in erster Linie eine Lehr- und Unterrichtsanstalt, die einem revolutionären Anspruch strukturell nicht gerecht werden kann? Oder mythisch gesprochen: Können wir dem Schreckgespenst einer gesellschaftlichen Dauerkrise mit der Hydra der pädagogischen Dauerreform Einhalt gebieten? Diese Frage lässt sich hier nicht abschließend beantworten. Eines scheint jedoch gewiss: Selten haben die großen Strukturreformen des Bildungswesens jene gesellschaftspolitischen Erwartungen einzulösen vermocht, die ursprünglich an sie gerichtet waren. Einen ersten Hinweis auf eine mögliche Antwort liefert vielleicht das Capricho Nr. 43 Francisco de Goyas. Die Beschriftung des Bildes ist bezeichnenderweise in der deutschen Übersetzung doppeldeutig. Dort heißt es: Der Traum bzw. der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Dies gilt vor allem in Hinblick auf Reformen.
EWR 7 (2008), Nr. 4 (Juli/August)
Erziehung in der Krise? – Pädagogik in Krisen
Münster: Lit 2006
(320 S.; ISBN 3-8258-8585-2; 23,90 EUR)
Alf Hellinger (Duisburg-Essen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Alf Hellinger: Rezension von: Bönsch, Manfred: Erziehung in der Krise? - Pädagogik in Krisen. Münster: Lit 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 4 (Veröffentlicht am 06.08.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82588585.html
Alf Hellinger: Rezension von: Bönsch, Manfred: Erziehung in der Krise? - Pädagogik in Krisen. Münster: Lit 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 4 (Veröffentlicht am 06.08.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82588585.html