EWR 2 (2003), Nr. 1 (Januar 2003)

Birgitta Fuchs
Maria Montessori
Ein pädagogisches Porträt
Weinheim und Basel: Beltz Verlag 2003
(162 Seiten; ISBN 3-8252-2321-3; 15,00 EUR)
Maria Montessori Die Autorin versteht ihre Arbeit als eine "Einführung in die Montessori-Pädagogik unter dem doppelten Anspruch von Darstellung und Kritik". Im Einklang hiermit verspricht der Klappentext eine "unerwartet neue und kritische Deutung der Montessori-Pädagogik" und empfiehlt den Band der Zielgruppe der Studierenden zum Gebrauch für Referat und Prüfungsvorbereitung. Dieser Ausblick und der großangelegte Vorsatz der promovierten Pädagogin, das Sublime dieser reformerischen Konzeption einer "Pädagogik vom Kinde aus" aufzuspüren, bei ihrer Suggestivkraft zu packen und ihre hinter "kinderfreundlichen Parolen" versteckte "Manipulation und Indoktrination" zu enttarnen, verheißen dem unbefangenen Leser ein aufregendes und dem eingefleischten Montessori-Anhänger ein aufreibendes Leseerlebnis.

B. Fuchs untergliedert ihre Arbeit in vier Kapitel, denen neben Einleitungs- und ResĂĽmeeteil eine Zeittafel zu Leben und Werk M. Montessoris beigefĂĽgt ist.

Das Buch setzt ein mit einer Interpretation von M. Montessoris Programm einer wissenschaftlichen Pädagogik vor dem Hintergrund des im 19. Jahrhundert in Italien aufkeimenden Wissenschaftspositivismus. Die Verfasserin macht hier insbesondere einen wissenschaftstheoretischen Einfluss A. Comtes auf das Gedankengut der italienischen Ärztin und Pädagogin geltend, obwohl diese selbst nicht auf ihn verweist.

Zunächst wird in groben Zügen das positive Wissenschaftsverständnis des französischen Philosophen und Soziologen skizziert. Der Comtesche Erkenntnisweg entspricht demnach dem Schema von empirischer Beobachtung und logischer Rekonstruktion vorgefundener Gesetzmäßigkeiten mittels synthetischer Verstandesleistung. Ein Übergehen der im Relativitätsgedanken wurzelnden Kritik A. Comtes an der theoretischen Vernunft ermöglicht es der Interpretin, dessen Wissenschaftsauffassung als offen für die Indienstnahme durch technokratische Ideologien hinzustellen.

Dieses Raster wendet B. Fuchs daraufhin auf M. Montessoris Entwurf einer Experimentalpädagogik an. Auf diese Weise gelangt sie zu einem pädagogischen Modell, dessen Theorie auf die durch positive Forschung ermittelten Naturgesetzmäßigkeiten festgeschrieben wird, dessen Praxis auf die Gewinnung operationalen Fachwissens und die technische Inszenierung der Umgebung zu Zwecken der weltanschaulichen Beeinflussung der Zöglinge angelegt ist, und dessen poietische Dimension folglich in eine Sozial- und Humantechnik einmündet.

Die so geartete Fixierung der Pädagogik M. Montessoris auf Tätigkeitsklassen zieht eine Einseitigkeit der Lesart nach sich, die viele Ungereimtheiten aufwirft, welche die Autorin der mangelnden Reflektiertheit Maria Montessoris anzulasten versucht.

Die auf wissenschaftliche Förderung angelegte Ausrichtung M. Montessoris am Kinde und ihre Forderung des Respekts vor der selbsttätigen Hervorbringung der intelligiblen Qualitäten verwandeln sich unter der Feder von B. Fuchs in einen rigorosen biologischen Konstruktivismus; M. Montessoris kritische Maxime des inneren Naturzwecks wird zur mystischen Weisheitslehre aufgebläht. Der Erweis eines doppelten Fundierungshorizontes des pädagogischen Ansatzes M. Montessoris ist keine Leistung der Analyse B. Fuchs, sondern wurde von L. Kratochwil 1991 in die Fachdiskussion eingebracht und auf die Formel einer "doppelendigen Weltanschauungslehre" mit einem "naturwissenschaftlich-psychophysischen Unterbau" und einem "(christlich) religiösen, metaphysischen und ethischen Überbau" zugespitzt. Seither wurde diese von verschiedenen Seiten (H. Ludwig, H. Holtstiege u.a.) aufgegriffen. Während sich diese Interpreten jedoch bemühen, die auf eine vorschnelle Vertheoretisierung zurückzuführende Zweigleisigkeit zu überbrücken, will sich B. Fuchs auf derlei Kompromisslösungen nicht einlassen, sondern einen eklatanten ideologischen Normativismus hinter dem Montessorianischen "Oszillationsmodell" zum Vorschein bringen. Sie wirft auf, dass M. Montessori selbst eine Horizontverschmelzung durch die Einführung eines der Natur "immanenten Bauplans" vorgenommen habe. Auf dieser Basis versucht B. Fuchs nun, der Pädagogik M. Montessoris einen durchgängigen Determinismus zu attestieren.

Daher geht es im Folgekapitel darum, M. Montessoris Beobachtungen am Kinde, die sie in ihren praxisbegleitenden Schriften und ihren zahlreichen Vorträgen immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln reflektiert hat, in eine neurowissenschaftlich und kognitionspsychologisch untermauerte "Entwicklungs- und Lernpsychologie" mit Querbezügen zum modernen pädagogischen Konstruktivismus einzuschmieden, der zufolge sich das Kind durch die Selektion äußerer Reize seine geistige Welt fabriziere. Die von M. Montessori dem Individuum zugesprochenen sensiblen Phasen für eine unbeschwerte Hervorbringung der Kultureigenschaften deutet Fuchs als inneres "Entwicklungsprogramm mit festen Zeitregeln". Der absorbierende Geist, bei M. Montessori Instanz der ganzheitlichen aisthetischen Anschauung, verschrumpft im neurobiologischen Modell der Engramme zum unbewussten und unkritischen Bildersammler.

Im selben Zuge wird der dialogische Kern des Phänomens der Polarisation der Aufmerksamkeit verkannt und diese Erscheinung zum "äußeren Ausdruck" der "inneren Selbstorganisation" abgewandelt , die einer Polung der "intellektuellen und motorischen Energien auf ein Ziel hin" entspräche. Die Sinneserziehung des Kindes in der Phase der aufbauenden Vervollkommnung präsentiert sich als manipulatorische "Schulung" der Sinne, die durch ein programmatisches, "didaktisches" Material durchgesetzt wird; der Bildungsprozess in der nachfolgenden intellektuellen Periode tritt im Gewand der "gezielten Gesinnungsbildung" auf. M. Montessoris Erfahrung des "normalisierten Kindes" wird ins Ideal des aus empirischen Einzeldaten zusammengestückelten, statistischen "Durchschnittsmenschen" verkehrt, als dessen Gewährsmann A. Quetelet ins Feld geführt wird. An ihm habe sich auch ihre "Theorie" des Ästhetischen orientiert.

Kapitel 3 verfolgt M. Montessoris Kosmische Theorie aus dem Blickwinkel der These der Montessori-Kritikerin A. Buck, der zufolge die Pädagogin "unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Exaktheit" mit der Kosmischen Theorie eine naturmetaphysische Weltsicht habe durchsetzen wollen, um so das durch die rein naturwissenschaftliche Begründung der Erziehung offen gelassene Loch der ethisch-religiösen Sollensfrage zu schließen. B. Fuchs stützt diese Deutung, indem sie Verbindungslinien zur physikotheologischen Denktradition herstellt. Dieser Schule verpflichtet, begreife M. Montessori die Welt als mathematisch geordnetes Schöpfungsprodukt eines "himmlischen Geometers" und den Menschen als dessen Funktionär, der auf die bloße "Reproduktion der göttlichen Ordnungsstrukturen", eines "universalen Evolutionsplans, der das gesamte Universum determiniert", abgestellt sei. In einem weiteren Schritt wird die Demaskierung der dieser "Idee einer Wissenschaftsreligion" impliziten christentumsfeindlichen Haltung angestrebt. Es verberge sich hinter ihr eine mechanische Moralität, die Demut und Willenlosigkeit gegenüber dem Regiment der Naturgesetze einfordere, das Gutsein Gott vorbehalte und dem christlichen Freiheitsgedanken widerspreche.

Das letzte Kapitel weitet das eingeschlagene Entmythologisierungsprogramm auf das sozialreformerische Engagement M. Montessoris aus. Auch dem sieht B. Fuchs eine geschlossene, biologisch fundierte und zudem rassistisch orientierte Sozialtheorie zugrunde liegen, deren Wurzeln ebenfalls in der Kosmischen Theorie zu suchen seien. Die methodische Umsetzung dieses "antidemokratischen und antiaufklärerischen Gesellschaftskonzepts" wird der zur "reinen Sozialtechnologie verkommenen" sozialen Erziehung zugeschrieben, in der nach M. Montessori der Erzieher die Rolle des "großen Führers" und "Sozialingenieurs" einzunehmen habe. Im Kinderhaus werde die manipulatorische Sozialintegration über das Prinzip der Kohäsion, in der Schule der Sechs- bis Zwölfjährigen über die Kosmische Erziehung und im Jugendalter über das Prinzip der Organisation in einer Erfahrungsschule des sozialen Lebens vollzogen. Die Interpretin rundet ihr "pädagogisches Porträt" durch gezielte Selektion von Zitaten ab, die, aus dem Gesamtzusammenhang des Textes gerissen, tatsächlich ideologisch besetzt erscheinen, um der Italienerin des 20. Jahrhunderts eine faschistische Gesinnungskrämerei nachsagen zu können.

Rückblickend drängt sich die Frage auf, von welchem normativen Standort B. Fuchs die Direktiven für ihre Darstellung und Kritik bezieht.

Die eigene theoretische Position wird von ihr nicht entfaltet. Sie klingt nur zwischen den Zeilen an. Im Vordergrund steht wohl die Konzeption der "pluralen Weltdeutungen" und deren Umsetzung über den kritischen Diskurs, geleitet vom Ideal der "Autonomie des Subjekts, das sich freitätig Zwecke setzt und sich durch Wahl und Entscheidung an die regulative Idee der Sittlichkeit bindet".

Dies Ideal, dem M. Montessori übrigens durchaus nicht abhold war, verlangt aber auch angesichts der durch die Heterogenität der Rationalitätsformen bedingten Konfliktlage, die sich gerade im Bildungswesen zunehmend bemerkbar macht, mehr als nur das naive Insistieren auf das unwiderrufliche Recht des Differenten. Nach M. Montessori kann es sich verwirklichen im Eingehen auf die poietische Konstitution menschlichen Erkennens, nicht aber nur auf dem Wege der Lehre. Dieses Anliegen der Pädagogin wird von B. Fuchs – wohl wegen ihrer unzulänglichen Auseinandersetzung mit der Dimension der Poiesis – übergangen. Ob Fuchs diesem Ideal durchgängig treu bleibt, sei dahingestellt. Zweifel daran kommen insbesondere auf, wenn sie auf subtile Weise religiöse Standpunkte gegeneinander aufwiegt.

Fazit: B. Fuchs entwickelt ihre Kritik nicht dialektisch, was sich vor dem Hintergrund des zweischneidig geführten fachwissenschaftlichen Diskurses – der als "Streit um Montessori" bereits sprichwörtlich geworden ist – angeboten und vielleicht sogar eine "unerwartet neue und kritische Deutung" mit sich gebracht hätte. Sie verweilt allein bei der altbekannten verneinenden Position, die sie systematisch vertieft und philosophiegeschichtlich abstützt. Diese Arbeit führt sie – dem Rahmen des in der Sekundärliteratur angebotenen Interpretationsspektrums angemessen – gründlich, konzise und sprachlich niveauvoll aus. Wenn dies auch nicht ausreicht, um einen Meilenstein zu setzen, oder auch nur den Anspruch eines Studienbuches zu erfüllen, so ist es ihr doch gelungen, der Montessori-Bewegung einen Mühlstein in den Weg zu legen, der nicht ohne weiteres übersprungen werden kann.

Bleibt zu hoffen, dass es der Kritikerin damit auch geglückt ist, die Montessori-Forschung aufzuwecken und endlich zu einer erweiterten Auseinandersetzung mit der bedeutenden pädagogischen Konzeption der Italienerin zu bewegen, weil sie – aus einer erkenntnistheoretisch tieferen Perspektive – die Kluft von Geistes- und Naturwissenschaft in sich aufzuheben vermochte.
Karin Kortschack-Gummer (MĂĽnchen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Karin Kortschack-Gummer: Rezension von: Fuchs, Birgitta: Maria Montessori, Ein pädagogisches Porträt, Weinheim und Basel: Beltz Verlag 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.01.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82522321.html