Im internationalen Vergleich haben die PISA-Studien 2000 verdeutlicht, dass das deutsche Bildungssystem selektiv ist und soziale Ungleichheit reproduziert. Gerade Migrantenkinder gehören zu dem Schülerkreis, der nicht ausreichend gefördert wird.
In dem vorliegenden Buch stellen 15 Bildungsforscher (eingeschlossen der Herausgeber) ihre entsprechenden Interpretationen der PISA-Studien in zwölf Aufsätzen vor. Es werden bildungspolitische Schlussfolgerungen diskutiert und ergänzende Aspekte der Bildungssituation von Heranwachsenden mit Migrationshintergrund (Migrationskinder bzw. –jugendliche) beleuchtet – zumeist mit dem Ziel, pädagogische Handlungsalternativen aufzuzeigen.
In seiner sehr lesenswerten Einleitung spart der Herausgeber Georg Auernheimer nicht mit Kritik. Diese bezieht sich einerseits auf das methodische Vorgehen bei den PISA-Studien, anderseits moniert er die politische Inanspruchnahme der PISA-Ergebnisse. Die politische Diskussion gehe mitunter so weit, dass "mancher Politiker" (Auernheimer nennt keinen konkreten Namen) die Sache auf den Kopf stelle und die angebliche Benachteiligung des deutschen Schulsystems durch den hohen Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund zu erklären suche.
Vier Themenfelder stehen im Blickpunkt der Ausführungen, die insgesamt für ein integratives Schulsystem samt multilingualer Ausbildung plädieren. So beschäftigen sich die Autoren im ersten Teil mit den durch die PISA-Studien aufgekommenen Herausforderungen, Risiken und Chancen (Ratzki, Gogolin, Hunger&Thränhardt). Ratzki will mit ihrem Vergleich zwischen dem skandinavischen Bildungssystem und der Schule in Deutschland provozieren. Doch bleibt eine ernsthafte Provokation aus. Die Autorin zählt typische Merkmale der Bildungssysteme in Schweden, Norwegen und Finnland auf. Ihre "Provokation" erschöpft sich jedoch in der Schlussfrage: "Was müsste in Deutschland geschehen, wenn wir uns an den erfolgreichen Ländern orientieren? Wo könnten wir anfangen, hier und jetzt?" (31).
Hunger&Thränhardt verdeutlichen bemerkenswerte Diskrepanzen zwischen der PISA-Studie und offiziellen deutschen Schulstatistiken, wobei die PISA-Studie die Wirklichkeit überzeichne und die realen Diskrepanzen zwischen den Bundesländern eher klein ausfielen. Die Daten der Schulstatistik führten dagegen eher zu einer Unterschätzung der Unterschiede zwischen den Ländern, die unter Berücksichtigung der Einbürgerungseffekte größer ausfielen. Es zeigt sich dieses gegenläufige Bild: "In der PISA-Studie kommt heraus, dass Schüler mit Migrationshintergrund höhere Basiskompetenzen in den südlichen Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg aufweisen, während die Schulstatistik zeigt, dass eben in diesen Ländern die Diskriminierung im Hinblick auf den formalen Schulerfolg (gemessen an den Schulabschlüssen) am größten ist. Nach diesen amtlichen Daten schneidet insbesondere Nordrhein-Westfalen außerordentlich gut ab, das in der PISA-Studie in der Mitte liegt. Gleiches gilt aber auch für Bremen, das bei PISA am Ende der Rangskala rangiert" (75).
Strukturelle Aspekte der Bildungssituation von Migrationskindern sind das Thema in den Aufsätzen des zweiten Teils (Kornmann, Gomolla, Granato). Hier beschäftigt sich zum Beispiel Granato mit der Frage, ob Jugendliche mit Migrationshintergrund auch in der beruflichen Bildung geringere Chancen hätten. Die Antwort fällt durchweg bestätigend aus. Zwar sei das Interesse von Schulabgängern ausländischer Herkunft an Ausbildungsstellen nach wie vor hoch, doch die Ausbildungsmöglichkeiten haben sich – trotz einer Steigerung der schulischen Eingangsqualifikation – in den letzten Jahren nicht verbessert. So seien Jugendliche ausländischer Herkunft in der Mehrheit der Büro- und anderen kaufmännischen Ausbildungsberufe unterrepräsentiert. Ihre Chancen in den neuen Berufen (IT- und Medienberufe) seien sogar verschwindend gering. Das gelte für Schulabgängerinnen ausländischer Nationalität überhaupt mehr als für ihre männlichen Mitbewerber. Insgesamt hätten Migrationsjugendliche allenfalls in den Ausbildungsberufen eine Chance, die für junge Deutsche nicht (mehr) attraktiv sind.
Über Schul- und Unterrichtsqualität, Sprach- und Lesekompetenz schreiben Peek & Neumann, Siebert-Ott und Hurrelmann im dritten Teil des Buches. Hier stellt die Lesesozialisationsforscherin Hurrelmann fest, "dass man, um den komplexen Ursachen von Lesemängeln gerecht zu werden, die PISA-Perspektive erstens um eine differenzierte Beschreibung des Kompetenzerwerbs und seiner relevanten Kontexteinflüsse erweitern muss und dass man zweitens eine umfassendere Konzeptualisierung von Lesekompetenz braucht, die sich nicht allein auf die kognitiven Dimensionen von Textverständnis reduziert, sondern die motivationalen, emotionalen und interaktionsbezogenen Teilfähigkeiten des Lesens in den Kompetenzbegriff einbezieht" (178f.).
Bildungsbeteiligung und Förderung von jungen Migranten werden von Schulze & Soja sowie von Bender-Szymanski anhand von Fallstudien im letzten Teil erörtert. So analysiert Bender-Szymanski die Bildungssituation und Förderbedingungen für Migrantenkinder in Schulen in Frankfurt (dass es sich um Frankfurt am Main handelt, erfährt der Leser erst aus dem weiteren Textverlauf) – auch aus der Perspektive von Schulleitern. Die Frage "Unzureichend gefördert?" wird hier nicht eindeutig beantwortet. Die Aussagen der Schulleiter bekunden aber, dass es in den Schulen sehr wohl vielfältige Angebote gibt. Dass diese bislang kaum genutzt werden, läge an der mangelnden Eigeninitiative auf Schulebene. Die Schulleiter kennen diese Probleme im eigenen System offensichtlich sehr gut. Die Frage nach grundsätzlichen Änderungsnotwendigkeiten zur Verbesserung der Bildungsbeteiligung von Schülern anderer Herkunftssprachen beantworten knapp 60% der 132 Schulleiter durch Nennung folgender Kategorien (die am häufigsten genannten zuerst): Schaffung von mehrkulturellen Netzwerken, gezielte und kontrollierte Bildungs(früh)förderung für alle Kinder, Verbesserung der personellen Ressourcen, Qualitätssteigerung der Lehreraus- und Lehrerfortbildung, Schulrechtliche und administrative Änderungen, Ausweitung des schulinternen Bildungsangebotes, Änderung der Förderkonzeption und Vergabepraxis von Fördermitteln (228).
Zahlreiche Statistiken veranschaulichen die empirischen Befunde. Für speziell interessierte Leser mögen einzelne Aufsätze wichtige Anregungen liefern, so vielleicht für Lehramts-Studierende, die sich mit dem Thema "Migrationskinder" ausführlich beschäftigen. Als allgemeiner Einführungstext ist allein die Einleitung zu empfehlen; die weiteren Artikel sind gleichwohl erfassbar und verständlich, jedoch nur durch intensive Lektüre.
EWR 3 (2004), Nr. 5 (September/Oktober 2004)
Schieflagen im Bildungssystem
Die Benachteiligung der Migrantenkinder
Opladen: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften (ehemals Leske + Budrich) 2003
(234 Seiten; ISBN 3-8100-3939-X; 16,90 )
René Börrnert (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
RenĂ© Börrnert: Rezension von: Auernheimer, Georg (Hg.): Schieflagen im Bildungssystem, Die Benachteiligung der Migrantenkinder, Opladen: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften (ehemals Leske + Budrich) 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 5 (Veröffentlicht am 05.10.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81003939.html
RenĂ© Börrnert: Rezension von: Auernheimer, Georg (Hg.): Schieflagen im Bildungssystem, Die Benachteiligung der Migrantenkinder, Opladen: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften (ehemals Leske + Budrich) 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 5 (Veröffentlicht am 05.10.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81003939.html