Manche Bücher erscheinen zur falschen Zeit – und vielleicht gerade deshalb zur richtigen. "Der professionelle Lehrer" von Axel Gehrmann scheint mir dazuzugehören. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: "Der Lehrer ist anders als die Öffentlichkeit sich vorstellt, die Verwaltung sich wünscht und die Wissenschaft temporär akzentuiert. Er besitzt heute, nach seiner eigenen Einschätzung, ein hohes Maß an beruflicher Zufriedenheit und Disponibilität." (421). Hier hat einer den Fehdehandschuh geworfen – mit Lust am Detail und auf der Basis umfänglicher Datensätze.
Worum geht es? Zunächst einmal um eine aus der "Betrachtung qualitativer Einzelfälle" generierte und zudem vielfach im Soziologischen verbleibende Professionsdiskussion (16), die Gehrmann zurechtzurücken gedenkt, indem er eben das tut, was er bei (etlichen) anderen Erziehungswissenschaftlern vermisst: Implizite und explizite Hypothesen empirisch quantitativ überprüfen und der marginal gebliebenen systematischen Beobachtung von "hauptamtlichen Pädagogen" (15) einige entsprechend fundierte Ergebnisse anzufügen.
Ich muss zugegeben, dass ich skeptisch war, ob Gehrmann die im Vorwort formulierten Ansprüche selbst einlöst.
Den Leser, die Leserin erwartet zunächst ein auf wesentliche Aspekte begrenzter Abriss der erziehungswissenschaftlichen Professionsdiskussion der letzten 30 Jahre, nachfolgend deren theoretische Ursprünge. Gehrmann lässt ihn – bzw. sie – an keiner Stelle des Buches im Unklaren darüber, was er gerade tut – und warum er es so und nicht anders tut. Er sondiert implizite und explizite Hypothesen, bündelt sie, um Begründungsmuster herauszuarbeiten, kommt zum disziplinären Wissenskanon (den ich mir etwas ausführlicher gewünscht hätte), und schließlich zur Überprüfung der Hypothesen anhand von vier standardisierten Lehrerbefragungen aus den Jahren 1994-1999 in Berlin bzw. Brandenburg.
Dabei macht er durchaus deutlich, dass die von ihm verwendeten Datensätze Regtime und Regtime 3 zehnmal größer (und genauer?) als Datensätze von Terhart u.a. 1994[1], Ipfling u.a. 1995[2] usw. sind. Aber wiederum auch, wie die Idee zu einem "Trend-Design" sich im Laufe von Jahren entwickelt hat, warum die Konfrontation der theoretischen Begründungsmuster mit dem empirischen Material schließlich zu dem geworden ist, was er nun vorgelegt hat.
Ich habe Gehrmanns Band mit zunehmendem Interesse gelesen – und mit zunehmendem Vergnügen. Das hat auch mit mancher frechen Formulierung zu tun wie: "Zum Lehrerberuf gehört historisch das Räsonnement über die Qualen dieser beruflichen Tätigkeit" (123), oder Gehrmanns Ausführungen zur kolportierten Belastung versus empirisch konstatierter Zufriedenheit von Lehrerinnen und Lehrern mit ihrem Beruf usf. - vor allem aber mit der forschungsmethodischen Transparenz des Bandes (Vor- und Nachteile des gewählten monokausalen Ansatzes, Versuch, Muster der professionellen Orientierung von Lehrerinnen und Lehrern hypothesengestützt und in unterschiedlichen Stichproben darzulegen und zu zeigen, dass diese nicht nur querschnittlich nachzuweisen sind, sondern auch in der Zeit replizierbar (224), und natürlich mit der Dignität der Untersuchungsergebnisse.
Gehrmann ist angetreten, um professionelle Begründungsmuster kenntlich zu machen und zu überprüfen. Das gelingt ihm in überzeugender Weise. Zugleich enthält der Band zahlreiche Trouvaillen. Frauen urteilen positiver über ihre Schule als männliche Kollegen (410). Wurde das in der Qualitätsdiskussion an Grundschulen eigentlich berücksichtigt? Für den überwiegenden Teil der Berliner Lehrkräfte stellt die Schulaufsicht kein Bedrohungspotenzial dar, sondern fördert im Gegenteil die berufliche Autonomie (431). Wie sind die dem entgegenstehenden Ergebnissen aus anderen Bundesländern einzuschätzen, und wie steht es um ihre Datenbasis?
Für Gehrmann ist der pädagogische Professionalisierungsprozess "heute letztlich abgeschlossen. Der Lehrerberuf hat sich als eigener Stand etabliert, wird wissenschaftlich ausgebildet und kann darauf setzen, dass mit ihm Gemeinwohlorientierung einhergeht. Dennoch bleiben nach wie vor öffentliche Einreden nicht aus …" (457). Und durch Sparzwänge begründete bildungspolitische Unsinnigkeiten (zumindest in etlichen Bundesländern) auch nicht.
Immerhin kann sich der Leser bzw. die Leserin des Bandes dann in der empirisch abgesicherten Erkenntnis zurücklehnen, dass durchschnittlich 65 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer zufriedene Lehrerinnen und Lehrer sind – und dass dafür vor allem individuelle interne Verhaltensdispositionen sowie interne Bedingungsvariablen der einzelnen Schulen verantwortlich sind (130).
Anmerkungen:
[1] Terhart, E. u. a.: Berufsbiografien von Lehrern und Lehrerinnen. Frankfurt/M. 1994.
[2] Ipfling, H.-J. u. a.: Wie zufrieden sind die Lehrer? Empirische Untersuchungen zur Berufs(un)zufriedenheit von Lehrern/Lehrerinnen der Primar- und Sekundarstufe im deutschsprachigen Raum. Bad Heilbrunn 1995.
EWR 2 (2003), Nr. 6 (November/Dezember 2003)
Der professionelle Lehrer
Muster der Begründung – empirische Rekonstruktion
Opladen: Leske und Budrich 2003
(513 Seiten; ISBN 3-8100-3803-2; 35,00 EUR)
Dietlinde Hedwig Heckt (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dietlinde Hedwig Heckt: Rezension von: Gehrmann, Axel: Der professionelle Lehrer, Muster der BegrĂĽndung – empirische Rekonstruktion, Opladen: Leske und Budrich 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81003803.html
Dietlinde Hedwig Heckt: Rezension von: Gehrmann, Axel: Der professionelle Lehrer, Muster der BegrĂĽndung – empirische Rekonstruktion, Opladen: Leske und Budrich 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81003803.html