Handbücher sind die anspruchsvollste Publikationsform und Textgattung der Kartografie eines Faches, zumal wenn sie darauf abzielen, die gesamte disziplinäre und professionelle Landschaft zu vermessen und historisch auszuloten. Mit zunehmender Ausdifferenzierung eines Faches lassen sich dessen Regionen jedoch in einer Panoramaaufnahme nicht mehr feinmaschig kartografieren. Dies ist dann speziellen und thematisch focussierten Handbüchern vorbehalten und bei der Bewertung eines allgemeinen Handbuches zu berücksichtigen.
Der von Werner Thole in Zusammenarbeit mit Karin Bock und Ernst-Uwe Küster edierte "Grundriss Soziale Arbeit" will "in Form eines einführenden Handbuches ... mit den grundlegenden Frage- und Problemstellungen der Sozialen Arbeit bekannt ... machen" und damit eine Lücke in der "sozialpädagogischen Publikationslandschaft" schließen, denn nach Auffassung des Herausgebers mangelt es der Sozialen Arbeit "bislang an einer einführenden, Elementarwissen präsentierenden, systematisch strukturierten Publikation, also an einem Kompendium, das in übersichtlicher Form in zentrale Themen und Fragestellung des ausdifferenzierten sozialpädagogischen Koordinatensystems einführt" (11). Der Grundriss soll darüber hinaus "in seiner Anlage auch ein Plädoyer für das Projekt einer modernisierungstheoretisch unterfütterten, empirisch aufgeklärten, gesellschaftskritischen Sozialpädagogik" sein, also eine "Herausforderung, ... über die alten und neuen disziplinären und professionstheoretischen Probleme und Aufgabenstellungen des sozialpädagogischen Projekts im Kontext eines nicht linearen Theoriemodells nachzudenken" (55). Der Anspruch eines einführenden Handbuches ist – sofern es sich dabei nicht lediglich um eine publikationsstrategische Abgrenzung zu schon vorhandenen Kompendien handelt – ungewöhnlich und m.E. auch kaum einlösbar. Denn mit dem label der Einführung wird eine Textgattung offeriert, die im Rahmen eines Handbuches methodisch wie didaktisch eine Herausforderung darstellt, die sich – sofern damit nicht konzeptionelle Anspruchsminimierungen signalisiert werden sollen – nur bedingt verwirklichen lässt. Sie ist denn auch nicht Bewertungsmaßstab dieses klassischen und in manchen Punkten doch anderen Handbuches.
Die 54 Beiträge von 65 Autoren und Autorinnen verteilen sich anteilsmäßig auf folgende Gliederungspunkte; Entwicklung und Standortbestimmung der Sozialen Arbeit als Disziplin und Profession – und zugleich eine Menükarte des Grundrisses (1 Beitrag), Geschichte der Sozialen Arbeit (3), theoretische Positionen und Konzepte (10), Arbeitsfelder und AdressatInnen (7), Träger und Institutionen (5), sozialpädagogische Methoden und Konzepte (10), rechtliche Grundlagen und Rahmungen (4), Soziale Arbeit als Profession und Berufsfeld (5), sozialpädagogische Aus-, Fort- und Weiterbildung (4) und Forschung (5). Bei den Autoren und Autorinnen handelt es sich durchweg um fachlich ausgewiesene Experten. Entsprechend anspruchsvoll ist – bis auf wenige Ausnahmen – das Niveau der Beiträge, die zumeist sehr voraussetzungsvoll sind, also keineswegs einen einleitenden Charakter haben. Etwa die Hälfte der Autoren und Autorinnen sind, wenn auch nicht immer mit den gleichen Themen, in der zeitgleich erschienenen 2. Auflage des "Handbuches Sozialarbeit – Sozialpädagogik" vertreten.
In dem einleitenden Artikel unternimmt Werner Thole den Versuch einer disziplinären und professionellen Standortbestimmung, in dem er auch die einzelnen Beiträge platziert. Er präsentiert sich hier als profunder Kenner einer insgesamt ausdifferenzierten, aber auch nicht selten unübersichtlichen Landschaft, der sensibel registriert, dass die Soziale Arbeit sich noch "auf Trebe" befindet: "in gewollter disziplinärer Heimatlosigkeit, immer dort sich spontan einnistend, wo ihr der Zeitgeist ein attraktives (populistisches) zeitlich befristetes Zuhause anbietet" (35). Dies erschwert natürlich den Versuch, die (auch neuere) Theorietradition wenigstens schematisch zu fixieren und personell aufzuflaggen. Unabhängig davon, was denn eine "neuere Theorietradition" (33) ist – die älteste Publikation stammt aus dem Jahr 1977 –, erscheint mir die Auswahl der auf diese Weise Geadelten, auch wenn sie pragmatisch begründet wird, mehr Fragen hervorzurufen (warum der oder die nicht?) als Sortierungswünsche zu befriedigen.
Insgesamt wird das disziplinäre und professionelle Panorama der Sozialen Arbeit in diesem als Grundriss eher bescheiden deklarierten Handbuch jedoch sehr gut kartografiert. Es ist schon erstaunlich, mit welcher kurzen Vorlaufzeit hier ein anspruchsvolles und im positiven Sinn auch ein wenig anderes Handbuch erschienen ist, das die Publikationslandschaft – und dies zu einem akzeptablen Preis – bereichert. Hilfreich und weiterführend ist der für Handbücher ungewöhnliche Serviceteil zum Weiterlesen, der die jeweiligen Kapitel abschließt. Wenig hilfreich ist dagegen das Sachregister. Hier werden bei manchen Stichworten unnötig viele und das Suchverhalten strapazierende Verweise ausgegeben, die keine ergiebigen Fundstellen im Text markieren. Völlig unerschlossen bleibt mir der Sinn des Stichwortes Soziale Arbeit in einem Handbuch der Sozialen Arbeit. Mit den für Handbücher eher ungewöhnlichen Randnotizen (Marginalien) kann ich wenig anfangen. Aber vielleicht hängt das auch mit meinen noch gewöhnungsbedürftigen Lesegewohnheiten zusammen.
Ausdifferenzierte Fächer lassen sich in einem Handbuch nicht in allen ihren Binnendifferenzierungen vermessen. Sie sollten jedoch in der Konzentration auf die wesentlichen Konturen keine blinde Flecken aufweisen und hinsichtlich aktueller Trends diese wenigstens angemessen registrieren. Diesem auch selbst gesetzten Anspruch wird der Grundriss Soziale Arbeit auf einem bemerkenswert hohen Niveau gerecht, wenngleich auch einige Wünschen offen bleiben. Dies betrifft zum einen die nicht sehr ausgeprägte Berücksichtigung der gesellschaftlichen Grundlagen und Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit, die zwar in einigen Beiträgen berücksichtigt werden, denen aber ein eigenes Kapitel angemessen wäre. Dies betrifft zum anderen auch die gezwungenermaßen exemplarische Berücksichtigung der Handlungsfelder der Sozialen Arbeit. Hier wäre ein eigenständiger Beitrag vor allem zu den neueren Arbeitsfeldern angebracht gewesen. Das betrifft auch mit Einschränkung bestimmte Themen und Methoden (z.B. frühkindliche Erziehung, Jugendberufshilfe, Straffälligenhilfe, Sozialpsychiatrische Dienste, Selbsthilfe, Mediation, Selbstevaluierung), deren ausführlichere Verhandlung ich mir gewünscht hätte. Aber diese Verlustmeldungen stehen in keinem Verhältnis zu dem, was ich vorgefunden und mit Gewinn registriert habe: Ein anspruchsvolles Kompendium zur Sozialen Arbeit.
EWR 2 (2003), Nr. 1 (Januar 2003)
Grundriss Soziale Arbeit
Ein einfĂĽhrendes Handbuch
Opladen: Leske und Budrich 2002
(976 Seiten; ISBN 3-8100-3319-7; 39,00 EUR)
Siegfried MĂĽller (TĂĽbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Siegfried MĂĽller: Rezension von: Thole, Werner (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit, Ein einfĂĽhrendes Handbuch, Opladen: Leske und Budrich 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.01.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81003319.html
Siegfried MĂĽller: Rezension von: Thole, Werner (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit, Ein einfĂĽhrendes Handbuch, Opladen: Leske und Budrich 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.01.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81003319.html