EWR 3 (2004), Nr. 5 (September/Oktober 2004)

Frank Lipowsky
Wege von der Hochschule in den Beruf
Eine empirische Studie zum beruflichen Erfolg von Lehramtsabsolventen in der Berufseinstiegsphase
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2003
(421 Seiten; ISBN 3-7815-1298-3; 29,80 )
Wege von der Hochschule in den Beruf Es gibt Bücher, die werden nüchtern und unprätentiös dargeboten, ihre Titel bergen auf den ersten Blick wenig Neues bzw. sie versuchen sich nicht an Container-Wörtern, wie "Praxisschock", "Burnout" oder "Berufsbiographie", in die alles und nichts hineinzuinterpretieren ist. Diese Monographien entschwinden dem eigenen Sichtfeld besonders dann schneller, wenn man als Betreuer für Rezensionen viele zur Ansicht vorliegen hat. Bei Frank Lipowsky war ich vorgewarnt. Ich traf ihn auf einer Tagung in Bremen, bei der wir durch Zufall zusammen eine Arbeitsgruppe bestritten, in der es auch um eine berufsbiographisch orientierte Lehrerforschung ging. Dort stellte er Ergebnisse seiner zum Jahreswechsel erschienenen Heidelberger Dissertation vor, die hier zur Rezension ansteht und, ich will es gleich vorweg nehmen: Ich habe kaum ein Buch für die eigene Tätigkeit sowohl in Forschung als auch in der Lehre so oft in den letzten Monaten in der Hand gehabt und gewürdigt, sei es bei Vorträgen unter Kollegen oder in Lehrveranstaltungen für Lehramtsstudenten. Und ich gebe zu, ich habe auch kein anderes Buch so oft für Präsentationsfolien genutzt, weil die aufgeführten Tabellen und Graphiken anschaulich, auch für ungeübte Betrachter nachvollziehbar und in ihren Ergebnisse insgesamt erhellend sind.

Die berufsbiographisch orientierte Lehrerforschung nimmt ihren Anfang u.a. in einem Konstanzer Arbeitszusammenhang. Sein prägendes Insignium wird die sogenannte "Konstanzer Wanne" [1]. Danach war über eine längsschnittliche Betrachtung sichtbar geworden, dass die Einstellungen von den die Schule, Hochschule und wieder Schule bzw. Referendariat durchlaufenden "Insassen" biographisch insofern tangiert sind, als mit dem Hochschulzugang eine Liberalisierung der Einstellungen einhergeht und zum Berufseinstieg wieder diejenigen konservativen Einstellungen vorliegen, wie vor dem Studium. Der "Praxisschock" war geboren und ist deshalb bis heute als Begriff prominent geblieben, wiewohl schon die Autoren selbst feststellen mussten - das im Einklang mit ihren Kritikern - solche Entwicklungen nicht selbstverständlich eintreten müssen.

Nach dem Streit um den konservativen Wandel der Junglehrerschaft nimmt sich Ewald Terhart in Deutschland am nachdrücklichsten der berufsbiographischen Konturierung des Lehrerlebenslaufes an. Er begründet zwischen 1987 und 1994 theoretisch in unterschiedlichsten Beiträgen die Notwendigkeit dieserart Verortung der Lehrerschaft, legt internationale Beiträge dazu in einem Sammelband vor und schließt sein theoretisches Konstrukt mit einer eigenen Empirie zusammen mit Kurt Czerwenka ab [2]. Zwischen 1995 und 2000 wird der Ertrag dieser Arbeit sodann verbreitet. Als zentrale Einlassung zum Lehrerlebenslauf figuriert seitdem das "Lehrer-Werden und Lehrer-Bleiben als lebenslange(r) Prozeß" [3], denn "Lehrerwerden ist ein Entwicklungsprozeß, der nicht als glatter, problemloser Positions- und Rollenwechsel stattfindet" [4].

Frank Lipowsky kann mit seiner Längsschnittstudie auf der Basis standardisierter, schriftlicher Befragungen zu zwei Erhebungszeitpunkten (5/2001 und 11/2001) 831 ehemalige Lehramtsstudentinnen und -studenten der Pädagogischen Hochschulen aus Baden-Württemberg der Examensjahrgänge 1995-1997 in ihren beruflichen Einstellungen und Erfahrungen nachverfolgen. Er leistet damit einen Beitrag, sowohl zur Rekonstruktion von Selektionseffekten, also internen persönliche Dispositionen, die die berufliche Einmündung vermeintlich beförderten bzw. hemmten, als auch zu Sozialisationseffekten, die danach fragen, ob externe Ereignisse wie etwa der Eintritt in das Referendariat oder der endgültige festangestellte Berufseinstieg im Berufsverlauf die berufbezogenen Kognitionen nachdrücklich tangiert haben. Lipowsky modelliert damit tendenziell eine Verknüpfung aus den alten Arbeiten um den "Praxisschock" und den neueren Arbeiten um das "Lehrerwerden als Entwicklungsprozess". Das replizierte berufliche Kalendarium reicht hierbei von sechs bis 60 Monaten nach dem Ende des Studiums und gibt letztlich einen repräsentativen Einblick in die Grundgesamtheit der 7554 Absolventinnen und Absolventen des Ersten Staatsexamens eines gesamten Bundeslandes.

In Gänze werden in der Arbeit weder "Schocks" noch selbstverständlich problemhafte Positions- und Rollenwechsel nachvollzogen, vielmehr liegt der Schwerpunkt genau auf der differenzierten Betrachtung von Selektions- und Sozialisationseffekten. 60 Monate nach Ende des Examens waren fast 3/4 der Population in den Schuldienst eingemündet (63% vollzeitlich;11% befristet, im Auslandsschuldienst u.ä.) bzw. insgesamt 80% der Absolventen gingen einer "adäquate(n) Erwerbstätigkeit entweder als Lehrer oder als Nichtlehrer" nach (194). Jeder sechste Absolvent war "nur geringfügig oder inadäquat erwerbstätig" (195). Die dichotome Variable "Lehrertätigkeit ja/nein" verwies hier insbesondere auf ein Nebeneinander von Selektions- und Sozialisationseffekten, "wobei den Selektionseffekten ein stärkeres Gewicht eingeräumt werden muss" (366). Danach mündet derjenige eher in die Tätigkeit ein, der ein positiveres Selbstbild schon zum ersten Messzeitpunkt besaß, doch die dann ausgeübte Tätigkeit ändert so gut wie nichts an den einmal erhobenen Einstellungen. –Von "Praxisschock" also keine Spur.

Frank Lipowsky hat sich auch über eine Clusteranalyse an der Konstruktion von Lehrertypen versucht, die es möglich macht, große Datenmengen zu kleineren Einheiten zusammenzufassen. Ihm gelingt dies vor dem Hintergrund beider Datensätze. Er verbindet unterschiedliche persönlichkeitsbezogene Selbstbildskalen quasi in der Zeit und so wird es möglich, nachzuvollziehen, ob sich eklatante Umstiege durch Temporalisierung ergeben. Vier Lehrertypen ließen sich extrahieren, die der Autor heuristisch "selbstbewusste und optimistische Protagonisten", "belastete und stille Komparsen", "aufgeschlossene Mitspieler" und "gefährdete und zurückgezogene Mitspieler" nennt. Der erste Typ bezeichnete danach Personen, die über ein besonders positives Selbstbild verfügen (31.5% zum ersten Untersuchungszeitpunkt). Der zweite wäre das Pendant dazu. Diese Personen besitzen ein "vergleichsweise geringes Zutrauen in die eigene Person" (250). Die beiden weiteren Typen markierten jeweils im Groben Näherungen zu den beiden extremen Ausprägungen ("aufgeschlossene Mitspieler" – 38.3%, "gefährdete und zurückgezogene Mitspieler – 23.4%). Werden nun die Zuordnungen zum ersten Untersuchungszeitpunkt mit dem Material zum zweiten Untersuchungszeitpunkt verglichen, so ergeben sich 18 Monate später durch Temporalisierung und Ereigniszuwachs keine eklatanten Wanderungsbewegungen. Vielmehr heißt es lapidar, wertet "man Wanderungen zwischen verwandten bzw. ähnlichen Typen nicht als gravierende Veränderungen, so zeigt sich eine hohe Stabilität der Zuordnungen" (262). Zwischen 70 und 97% der ursprünglichen Population gehörten zum zweiten Erhebungszeitpunkt in die gleiche oder benachbarte Gruppe. Das Überspringen von einer Gruppe kommt nur in den beiden Extremgruppen vor. Man wechselt in 10% der Fälle entweder von den "belasteten und stillen Komparsen" zu den "aufgeschlossenen Mitspielern" beziehungsweise in umgekehrte Richtung in 6% der Fälle von den "selbstbewussten und optimistischen Protagonisten" zu den "gefährdeten Mitspielern". Interessant ist diese empirische Rekonstruktion auch vor dem Hintergrund der Dichotomisierung "erfolgreiche Ein- und Aufsteiger" versus "übrige Absolventen". In über 70% beider Fälle kommt es jeweils zu keinen Umstiegen bzw. zu Verbesserungen in der Typenzugehörigkeit, in nur 30% zu Verschlechterungen. Von problemhaften Positions- und Rollenwechseln in der Zeit zu sprechen, wird also fragwürdiger. Oder anders, auch "dieser Befund spricht gegen Sozialisationseffekte" (264).

Neben dem nicht selbstverständlich nachweisbaren "Praxisschock" und den eher weniger problemhaften Positions- und Rollenwechseln ist mir ein drittes Ergebnis wichtig zu erwähnen. Frank Lipowsky umkreist nämlich das vermeintliche Thema "Burnout" nun einmal für eine ganz junge Population, indem er die Aussagen der tatsächlich beschäftigten Lehrerinnen und Lehrer nochmals nach motivationalen und persönlichkeitsbezogenen Komponenten clustert. Im Ergebnis wird dabei deutlich, dass schon zum zweiten Erhebungszeitpunkt fast 30% der Befragten zur Gruppe der "belasteten Lehrer" zählen, "bei der ein belastetes Selbstkonzept und ungünstige Werte in den beruflichen Werthaltungen kulminieren" (297). Frauen sind in dieser Gruppe leicht überrepräsentiert, wie in anderen Studien auch, und Elternschaft ist leicht unterrepräsentiert (298). Beides zusammengenommen heißt, dass Doppelbelastung der Lehrerinnen durch Beruf und Elternschaft eher nicht vorliegen kann. Oder anders: Geht man nach dem vorhandenen Datenmaterial davon aus, dass extreme Umstiege in Zuordnungen nur sehr rudimentär vorkommen, bleibt es nicht aus, pointiert zu formulieren, man muss nicht gebrannt haben, um als "ausgebrannt" zu gelten, schließlich gibt es schon belastete Lehrer zum Berufseinstieg [5]. Für unsere Lehrerausbildung sollte uns dies sehr nachdenklich stimmen.

Insgesamt wird hier ein bisher einzigartiges Bild einer nachgewachsenen Lehrergeneration gezeichnet, das in Verbindung mit anderen Studien geradezu eine Baseline in Bezug auf Auskünfte über berufliche Beginner markiert. Kritikwürdig bleibt am Schluss allein die allzu große Breite des vorgelegten Materials, in der nicht geübte Kenner des Komplexes womöglich die zentralen Perlen gar nicht finden auf den über 400 Seiten, die auch noch durch eine besonders kleine Schrifttype überfüllt sind. Wünschenswert wäre eine Begrenzung auf weniger Argumentationslinien gewesen, die dauerhafter durchgehalten blieben. Auch hätte manche nebensächliche Erklärung unterbleiben können, um den Text zu straffen. – Frank Lipowsky arbeitet mittlerweile in der Abteilung "Bildungsqualität und Evaluation" am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung. Wir dürfen gespannt sein, was aus dieser neuen Frankfurter Schule weiter vorgelegt wird.



[1] Müller-Fohrbrodt, G. (1973): Wie sind Lehrer wirklich? Ideale - Vorurteile - Fakten. Eine empirische Untersuchung über angehende Lehrer. Stuttgart: Klett, S. 108.
[2] Terhart, E./Czerwenka, K./Ehrich, K./Jordan, F./Schmidt, H.J. (1994): Berufsbiographien von Lehrern und Lehrerinnen. Frankfurt a.M.: Lang.
[3] Terhart, E. (1990): Sozialwissenschaftliche Theorie- und Forschungsansätze zum Beruf des Lehrers: 1970 - 1990. In: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie 10, S. 247.
[4] Terhart, E. (1987): Vermutungen über das Lehrerethos. In: Zeitschrift für Pädagogik 33, S. 795.
[5] Gehrmann, A. (2003): Der professionelle Lehrer. Muster der Begründung – Empirische Rekonstruktion. Opladen: Leske + Budrich.
Axel Gehrmann (Rostock)
Zur Zitierweise der Rezension:
Axel Gehrmann: Rezension von: Lipowsky, Frank: Wege von der Hochschule in den Beruf, Eine empirische Studie zum beruflichen Erfolg von Lehramtsabsolventen in der Berufseinstiegsphase, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 5 (Veröffentlicht am 05.10.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151298.html