Das die Öffentlichkeit aufschreckende Ergebnis der PISA-Studie war das im internationalen Vergleich schlechte Abschneiden deutscher Schüler in den basalen Kompetenzen Lesen, mathematische und naturwissenschaftliche Grundbildung. Ca. ein Viertel der fünfzehnjährigen Schüler erreichen nicht das als Mindeststandard definierte Niveau in den getesteten Kompetenzen. Die PISA-Autoren halten diese "Risikogruppe" für ein zentrales gesellschaftliches und pädagogisches Problem. Wie lässt sich erklären, dass ein nicht geringer Teil der Schülerschaft nicht über ein Mindestniveau in den Basiskompetenzen verfügt, die für einen erfolgreichen Übergang von der Schule in die berufliche Erstausbildung erforderlich sind?
Jaqueline Tupaika unternimmt in ihrer Erfurter Dissertation den anspruchsvollen Versuch, die vielfältigen Bedingungsfaktoren für schulisches Versagen zu sammeln und zu systematisieren sowie in einem theoretischen Modell zusammenzufassen, um daraus Handlungskonseqenzen zu entwickeln. Die zentrale Frage ihrer Arbeit lautet: "Wie entsteht Schulversagen bzw. wodurch wird die Lern- und Leistungsfähigkeit eines Schülers eingeschränkt und wie lässt sich der Ursachen-Wirkungs-Zusammenhang des Schulversagens beschreiben und in einem allgemeingültigen Modell festhalten?"(37).
Tupaika definiert Schulversagen als "auffällige unterdurchschnittliche Lernleistungen im Vergleich zum Leistungsdurchschnitt der jeweiligen Bezugsgruppe (Schulklasse)" (15). Nach den einführenden Erläuterungen zur allgemeinen Definition des Schulversagens, seinen Folgen und dem gesellschaftlichen Umgang mit schulversagenden Schülern im ersten Kapitel, orientiert sich Tupaika in der weiteren Gliederung ihrer Arbeit am Rahmenmodell zur Persönlichkeitsentwicklung von Schülern nach Pekrun und Helmke unter ökologischer Betrachtungsweise nach Hildeschmidt (39ff.). Der Struktur dieses Modells folgend, analysiert sie in jeweils drei Kapiteln die sechs Sozialisationsinstanzen bzw. Schulversagensfaktoren unter dem Aspekt möglicher leistungshemmender Fehlentwicklungen: den individuensystemischen Versagensfaktor "Schüler" (somatische, kognitive, non-kognitive Bedingungsfaktoren), den primären mikrosystemischen Versagensfaktor "Familie" (Struktur-, Prozessbedingungen, Sozialstatusvariablen), die sekundären und tertiären mikrosystemischen Versagensfaktoren "Peergroup" (Schulklasse, Freundschaften, Liebesbeziehungen) und "Lehrerschaft" (Lehrerpersönlichkeit, -verhalten, -erwartung und –urteil), den exosystemischen Versagensfaktor "Institution Schule" (Curriculum und Unterrichtsbedingungen, Schulorganisation und Schulqualität, Bildungspolitik) sowie den makrosystemischen Versagensfaktor "Gesellschaft"(Arbeitsgesellschaft und Schulleistung, Sozialisation und Schülerauffälligkeiten, Pluralismus und Sinnsuche). Diese Kapitel stellen das Grundgerüst und den umfangreichsten Teil der Arbeit dar (206 Seiten). Mit der Intention, "durch diesen Überblick einen Weitblick für das Schulversagen zu erzielen und für das Phänomen zu sensibilisieren" (38), listet Tupaika "eine Vielzahl von empirischen Forschungsergebnissen" auf, ebenso wie "Alltagstheorien, praktische Erfahrungen und naive Erklärungsversuche von Betroffenen und Pädagogen" (11). Das abschließende achte Kapitel (251ff.) widmet sich einer ätiologischen Gesamtbetrachtung der zuvor dargestellten Sozialisationsinstanzen, der Theorieentwicklung und der daraus abgeleiteten praktischen und forschungsrelevanten Schlussfolgerungen. In der abschließenden Gewichtung aller Einflussfaktoren bewertet Tupaika die Familie als die "zentrale Schnittstelle" (258) im Gesamtgefüge der Versagensfaktoren. Aus Sicht der Autorin entscheidet die Qualität familiärer Beziehungen und ihre "entwickelten Bewältigungskompetenzen" über eine lernhemmmende Wirkung der Peers, der Lehrerschaft, der Institution Schule und der Gesellschaft.
In Abwandlung der Theorie der Bedürfnishierarchie von A.H. Maslow (1954/1999) und in Anlehnung an die Individualpsychologie A. Adlers (1920/1994) entwickelt Tupaika eine "Schulversagens-Theorie der 3-dimensionalen Inferiorität" (280). Unter Zuhilfenahme eines Konstrukts der "Schülerbedürftigkeit" (280) werden im Rahmen dieses Erklärungsmodells die Sozialisationsinstanzen sechs Grundbedürfnissen (z.B. Selbsterhaltung, Sicherheit, Zugehörigkeit, Geltung, Erkenntnis, Selbstverwirklichung) zugeordnet, in der Grundannahme, dass die Nichtbefriedigung dieser Bedürfnisse durch die dafür zuständigen Einflussgrößen zu einer Beeinträchtigung der Leistungsentwicklung bis hin zu Schulversagen führen kann.
Mit dem vorliegenden Buch liefert die Autorin eine detaillreiche Auflistung einer Vielzahl möglicher, die Lernentwicklung des Schülers bedingender Faktoren, in der man sich jedoch auch verlieren kann. Bisweilen bleibt der Leser ratlos zurück angesichts der Aneinanderreihung sich relativierender und teilweise sich widersprechender Behauptungen, die sich zudem an überkommenen Geschlechtsstereotypen orientieren. So wird im Kapitel "Mütterliche Berufstätigkeit und Nicht-Berufstätigkeit" (83f.) zunächst die alte These der kindlichen "maternalen Deprivation" als Folge mütterlicher Berufstätigkeit zurückgewiesen und die berufstätige Frau, im Vergleich zu der an ihrem Hausfrauendasein leidenden und zur Überprotektion neigenden Mutter, als die geeignetere Erzieherin vorgestellt (berufstätige Frauen förderten z.B. durch eine sachbezogenere Beziehungsgestaltung die Entwicklung von Selbständigkeit); andererseits scheint die weibliche Erwerbstätigkeit mit einem erhöhten Gefährdungspotential für die gesamte Familie verbunden zu sein, nicht nur dann, wenn es ihr an Unterstützung durch den Ehepartner mangelt: "Weitere Kriterien der möglicherweise negativen Auswirkungen der Berufstätigkeit wären die Schichtzugehörigkeit, das Bildungsniveau der Mutter, die Qualifikation ihres Berufes, die Erziehungseinstellung der Mutter, der Zeitpunkt der Wiederaufnahme der Berufstätigkeit sowie deren Regelmäßigkeit und Dauer"(84). Die Fehlerwahrscheinlichkeit weiblicher Erziehung scheint angesichts dieses, einem Anforderungsprofil nicht unähnlichen Kriterienkataloges recht hoch zu sein.
Die Rezensentin hätte sich überdies eine kritisch-distanziertere Rezeption der dargestellten Literatur gewünscht, so z.B. in der Erklärung des Schulversagens bei Jungen: "Das zentrale Problem offenbart sich in dem Überhang an weiblichen Lehrkräften ... in Folge dessen demonstrieren Jungen permanent Überlegenheit gegenüber der verweiblichten Schule, sie rebellieren gegen die schulischen Anforderungen, gegen die Lehrerin, gegen die spielerischen Lernmethoden, die als kindisch empfunden werden ... Um Schulversagen unter Jungen einzudämmen, ist es notwendig, ihnen ... vermehrt körperliche Elemente des Kräftemessens (Sportstunden allein reichen nicht aus) in den Unterricht zu integrieren oder z.B. Führungsqualifikationen zu vermitteln, die den männlichen Dominanzinteressen entsprechen. Auf diesem Weg könnte Selbsterkenntnis auf der Suche nach männlicher Identität stattfinden, wodurch sich bei Jungen innere Ruhe und Ausgeglichenheit einstellen würde, die dem Lernprozess zugute käme" (183).
Die Anlehnung an Maslow und Adler erscheint vor dem Hintergrund fehlender empirischer Stützungen und fachwissenschaftlicher Kritik überraschend.
EWR 3 (2004), Nr. 5 (September/Oktober 2004)
Schulversagen als komplexes Phänomen
Ein Beitrag zur Theorieentwicklung
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2003
(338 Seiten; ISBN 3-7815-1285-1; 29,80 )
Dorothea Sauer (Hattingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dorothea Sauer: Rezension von: Tupaika, Jacqueline: Schulversagen als komplexes Phänomen, Ein Beitrag zur Theorieentwicklung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 5 (Veröffentlicht am 05.10.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151285.html
Dorothea Sauer: Rezension von: Tupaika, Jacqueline: Schulversagen als komplexes Phänomen, Ein Beitrag zur Theorieentwicklung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 5 (Veröffentlicht am 05.10.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151285.html