Im Zentrum steht die Frage, ob und wie die Problematik des 3. Teils der Antinomie der reinen Vernunft, wie Kant sie in seiner ersten Kritik entwickelt hatte, aufgenommen und behandelt wurde; darin sieht die Autorin zugleich die Behandlung der Frage nach der Möglichkeit der Erziehung zwischen mundus sensibilis und mundus intelligibilis, phĂ€nomenaler und noumenaler Welt, empirischem und intelligiblem Charakter. Nicht nur weil nur wenige Leser die Texte der Autoren kennen dĂŒrften, lassen sich diese Kapitel mit Gewinn lesen, denn die Verfasserin hĂ€lt sich mit groĂer PrĂ€zision an die gestellte Aufgabe und verzichtet konsequent auf weitlĂ€ufigere Darstellungen oder Erörterungen, die nicht unmittelbar zum Thema gehören.
Da nun die Arbeit zwar einen "historischen" Gegenstand hat, aber einer systematischen Fragestellung folgt, trĂ€gt die Verfasserin in zwei abschlieĂenden Kapiteln eine Art Systematik dessen vor, was man die transzendentalpĂ€dagogische Fragestellung um 1800 nennen könnte. Vier "Varianten" in der Behandlung dieser transzendentalpĂ€dagogischen Frage nach der Möglichkeit der Erziehung zur MoralitĂ€t werden von der Verfasserin unterschieden:
- "Die transzendentale Differenz wird vernachlĂ€ssigt", das heiĂt, die Autoren (Stephani, Niemeyer, Pölitz) kĂŒmmern sich, vermutlich aus pragmatischen GrĂŒnden, um dieses kantsche LehrstĂŒck ĂŒberhaupt nicht.
- "Die transzendentale Differenz wird nicht erkannt" (Schuderoff).
- "Die transzendentale Differenz wird thematisiert", aber "inkonsequent" gelöst (Greiling, Heusinger, Weiller).
- "Die transzendentale Differenz wird thematisiert" und "eindeutig" zu lösen versucht (Schmid, Milde, Schwarz).
Auch wenn man diese Schlussfolgerung akzeptiert, ist der Bedarf an Antworten auf historisch interessierte Fragen zur TranszendentalpĂ€dagogik um 1800 durch diese Arbeit nicht geringer, sondern eher gröĂer geworden, wobei dies durchaus nicht als Kritik gewertet werden sollte, sondern als Hinweis auf weiteren Forschungsbedarf, der durch die vorliegende Arbeit ĂŒberhaupt erst konkret erkennbar geworden ist. Dazu nur einige wenige Hinweise:
(1) Die transzendentalphilosophische Fragestellung ganz allgemein lautet "Wie ist X möglich?", wobei man fĂŒr "X" Erkenntnis, MoralitĂ€t, Recht, Schönheit .... einsetzen kann, und eben auch Erziehung. Insofern ist die X-Frage der Transzendentalphilosophie identisch mit der X-Frage der modernen Soziologie im 20. Jahrhundert, wobei in ihr fĂŒr X der Ausdruck "soziale Ordnung" eingesetzt wird. Nehmen wir nun an, der Verfasserin selbst sei aufgrund von Transzendentalphilosophie oder Soziologie der Sinn der Frage nach der Möglichkeit von X klar und deutlich, so ist noch nicht ausgemacht, ob es auch fĂŒr die frĂŒhkantianischen Autoren selbst zutrifft. Dies lĂ€sst sich an Formulierungen ablesen, die die Autorin z. T. von den Autoren ĂŒbernimmt, und die nicht immer zu erkennen geben, ob zwischen der Frage, ob Erziehung zur MoralitĂ€t möglich sei, der anderen Frage, wie Erziehung zur MoralitĂ€t möglich sei, und der dritten Frage, wie Erziehung zu MoralitĂ€t durchfĂŒhrbar sei (mit welchen Mitteln), genau unterschieden wird. Die erste Frage ist transzendentalphilosophisch und soziologisch unbeantwortbar und fĂŒhrt zurĂŒck in die von Kant ĂŒberwunden geglaubten systematischen SelbsttĂ€uschungen der menschlichen Vernunft, die unter dem Namen der "rationalen Theologie" etc. gefĂŒhrt wurden; die letzte Frage ist Sache der Erziehungstheorie als Frage nach der Art und Weise und der QualitĂ€t der erzieherischen Interaktion (Luhmann und Schorr wĂŒrden es die erziehungstechnologieersatztechnologische Frage nennen). Wenn zwischen diesen drei Fragen, wie bei einigen Autoren ersichtlich, nicht prĂ€zise unterschieden wird, löst sich die transzendentalpĂ€dagogische Frage im UngefĂ€hren auf.
(2) Nehmen wird aber weiterhin an, die erste und die dritte Lesart seien genau von der zweiten getrennt, so ist auch dann noch lange nicht klar, was es heiĂt, wenn man fĂŒr X "Erziehung zur MoralitĂ€t" einsetzt: Denn diese Frage in Analogie zur kantischen Frage der ersten Kritik "Wie ist Erkenntnis möglich?" durchfĂŒhren zu wollen, stöĂt sich an Kants anderer Lehre vom Faktum der Vernunft. Diese sagt ja nichts anderes, als dass sich nach der Möglichkeit eines kategorischen Imperativs nicht sinnvoll fragen lĂ€sst. Entsprechend mĂŒsste man erwĂ€gen, ob allein die Frage nach der Möglichkeit der Erziehung zur MoralitĂ€t in sich sinnwidrig ist.
(3) Diese beiden Fragen nach dem historischen Sinn der X-Frage fĂŒhren auf einen zweiten Untersuchungskomplex, auf den die hier angezeigte Arbeit indirekt hinweist: Dass sich die untersuchten Autoren mehr oder weniger als Kantianer verstanden haben, sagt in dem Augenblick nicht mehr viel, in dem man bemerkt, dass gerade in den Grundlagenfragen der kantianischen praktischen Philosophie die 90er Jahre des 18. Jahrhunderts einen (auch heute noch faszinierenden) Streit um die "richtige" Kant-Deutung bieten, der immerhin Thesen wie die der IdentitĂ€t von Freiheit und Fatalismus (Schmid) genauso umfasst wie indifferentistische Konzeptionen einer grundlosen Vernunft (Reinhold) oder kausalistische Konzepte (Creuzer). So wird man also fragen mĂŒssen: Wenn beispielsweise Schuderoff oder Greiling ĂŒber moralische Erziehung handeln: Wie haben sie Kant gelesen? Ein Blick auf die WidmungsblĂ€tter ihrer ersten BĂŒcher und erst recht ein Blick in diese BĂŒcher selbst lĂ€sst vermuten, dass sie mit Schmid und mit Reinhold der Meinung gewesen sind, dass mindestens die Darstellung der Moralphilosophie bei Kant in sich nicht konsistent ist und man Kant besser verstehen mĂŒsse als er sich selbst verstanden habe. Mit anderen Worten: Ein direkter Vergleich zwischen den von der Autorin untersuchten Autoren mit dem Werk Kants lĂ€sst in einer historischen Perspektive vielleicht doch die KomplexitĂ€t der Rezeptionsschicksale der Kantischen Philosophie auĂer Acht.
(4) Man konnte sich in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts als Kantianer verstehen und dennoch, in allen Bereichen, in denen es ĂŒber das Handeln der einzelnen Personen hinausgeht, der Meinung sein, dass die kantsche Zwei-Welten-Lehre mit ihrem vermeintlichen Antagonismus von Freiheit und Determinismus in sich nicht schlĂŒssig ist. Diesen Weg sind, je auf ihre Weise, Reinhold, Fichte und der frĂŒhe Herbart gegangen.
Es spricht fĂŒr das Niveau der hier angezeigten Arbeit von Chr. Ruberg, dass sie solche weit ausgreifenden Fragen und Perspektiven weiterer Forschung ermöglicht und provoziert.