EWR 2 (2003), Nr. 6 (November/Dezember 2003)

Margitta Rudolph
Nachhilfe - gekaufte Bildung?
Empirische Untersuchung zur Kritik der außerschulischen Lernbegleitung
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2002
(273 Seiten; ISBN 3-7815-1194-4; 24,80 EUR)
Nachhilfe - gekaufte Bildung? Ausgehend von der aktuellen bildungspolitischen Situation und besonders unter dem Aspekt der PISA-Studie untersucht die Autorin die Ursachen für die wachsende Zahl kommerzieller Nachhilfeinstitute, die sich auf eine immens große Nachfrage nach außerschulischer Lernbegleitung gründet. Soll Nachhilfe die Rettung für eine angeschlagene Unterrichtskultur sein, ist sie überhaupt effektiv, oder dient sie eher dazu, die pädagogische Alltagsrealität zu verschleiern und die "immer deutlicher werdende Schieflage unseres Bildungswesens und ihre Unterrichtskultur zu vertuschen?" (8) Ist nicht eher das gesamte Bildungssystem korrekturbedürftig?

Die Autorin beleuchtet kritisch die außerschulische Lernbegleitung in Niedersachsen, sie geht aber davon aus, dass ihre Untersuchung als repräsentativ für Deutschland angesehen werden kann.

M. Rudolph skizziert einleitend den Begriff ‚Nachhilfe’ in seinen traditionellen Bedeutungssträngen und heutigen Gehalten. Die Sachverhalte: Neben der klassischen Form der Nachhilfe durch Eltern, Geschwister, private NachhilfelehrerInnen oder schulinterne Betreuung hat sich seit Beginn der 1970er Jahre ein weit verbreitetes Nachbeschulungssystem etabliert (Unternehmen wie "Schülerhilfe" und "Studienkreis" verzeichnen heute mehr als 2000 Institute deutschlandweit, die Tendenz ist steigend). Mit den Fragen, welche Gründe es für die hohe Nachfrage der Zusatzförderung gibt, wie die Institute im Vergleich zur Schule arbeiten oder wie die kommerziellen Anbieter die bildungsökonomische Nische erkannt und genutzt haben usw., beschäftigt sich die vorliegende Untersuchung.

Die Autorin definiert Nachhilfe nicht nur als Zusatzunterricht und außerschulische Lernbegleitung, sondern in erster Linie als Hausaufgabenhilfe. Darum stellt sie zunächst die historische Entwicklung des Phänomens Hausaufgaben dar, bevor sie fünf Thesen formuliert, die ihre Studie leiten. Die erste These lautet: "Die derzeitige unzulängliche Hausaufgabenpraxis begünstigt die erhöhte Nachfrage an Nachhilfeunterricht erheblich" (36). Die zweite These: "Weil sich Familie durch gesellschaftliche Zwänge in ihrer Binnenstruktur stark verändert hat (…) kann sie bisherige Kernaufgaben in der Betreuung der Kinder (z.B. Hausaufgabenbearbeitung) nicht mehr leisten und nimmt deshalb vermehrt (…) außerfamiliale Dienstleistungen in Anspruch, z.B. Nachhilfeinstitute." (44).

Die nachfolgenden Thesen beziehen sich auf die Arbeitsmarktsituation, die Halbtagsschule und die Akzentuierung auf kognitive Fähigkeiten in der Schule.

Im empirischen Teil stellt Rudolph zunächst den Forschungsplan, die Forschungsinstrumente und die Vorgehensweise vor. Demzufolge wurden Eltern und Lehrerinnen an öffentlichen Schulen per Fragebogen befragt, mit der Leitung und den Lehrenden der Institute wurde ein leitfadengestütztes Interview durchgeführt. Die Ergebnisse aller Teiluntersuchungen sind in einer Synopse tabellarisch zusammengefasst.

Im abschließenden Teil, der den Verwertungszusammenhang thematisiert, kommt Rudolph zu folgenden Aussagen: Trotz mangelnder Zufriedenheit der Betroffenen besteht immer noch eine sehr hohe Nachfrage nach institutioneller Nachhilfe. Außerschulische Lernbegleitung ist demzufolge kein temporäres Phänomen, sondern eine Dauereinrichtung. Die Schule könne individuelle Bildungsbedürfnisse offenbar nicht mehr befriedigen. Unterschiedliche Lernvoraussetzungen und Tempi der SchülerInnen erforderten ein hohes Maß an Differenzierung, was im deutschen Schulsystem derzeit fehle. Zudem kämen Übungs- und Wiederholeinheiten zu kurz.

Die Hauptursache der Expansion des Nachhilfesektors erkennt Rudolph im Halbtagsschulsystem. Deshalb regt sie eine schulsystemische Reform zur Ganztagsschule mit integriertem Nachhilfeangebot an. Dies würde zum einen den Konflikt aus den Familien nehmen, zum anderen könnten alle Kinder eine schulinterne Aufgabenbetreuung erhalten, egal aus welcher sozialen Schicht sie kommen.

Die bildungspolitischen Schlüsse lauten: "Es reicht nicht aus, einen Bildungsnotstand zu beklagen, Unterrichtsmethoden zu bemängeln und mehr Schulabsolventen mit höheren Bildungsabschlüssen in kurzer Zeit zu fördern. Dafür müssen auch Investitionen getätigt werden und Taten folgen." (250) Dazu kommt die Forderung nach einer grundlegenden Strukturreform des Schulsystems mit einem besonderen Blick auf die Orientierungsstufe, wo ein erhöhter Nachhilfebedarf festzustellen sei (es sei an dieser Stelle angemerkt, dass die Orientierungsstufe in Niedersachsen gerade abgebaut wird).

Rudolph legitimiert den Reformansatz mit ihrer Untersuchung: "Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Ganztagsbeschulung ein unbedingter Schritt zu vermehrter Chancengleichheit in unserem Bildungssystem darstellt. Die dadurch erreichbaren Möglichkeiten von optimierter Forderung und Förderung der SchülerInnen sowie die Erschließung zeitlicher Erfahrungs- und Übungsräume könnten die Problematik der außerschulischen Zusatzbeschulung weitgehend überflüssig machen." (260)

Rudolphs Studie greift mit dem Fokus auf kommerzielle Nachhilfeanbieter eine Problemlage auf, die in der aktuellen bildungspolitischen Diskussion zunächst nebensächlich zu sein scheint, bei genauerer Betrachtung aber offensichtlich einen zentralen Stellenwert hat. Die Forderung der Autorin nach einer weitreichenden Reform des Schulwesens, die sie aus der Problematik der Nachhilfe als "gekaufte Bildung" entwickelt, weist auf die Wurzeln des "Bildungsnotstands" in Deutschland hin. Die außerschulischen Bemühungen, die SchülerInnen nicht nur mit zusätzlichem Wissen zu versorgen, sondern ihnen vor allem Lernhilfe zu geben und Übungsräume zu eröffnen, um ihre schulischen Leistungen und Erfolge zu optimieren, verursacht eine erhebliche bildungspolitische Schieflage.

Im Hinblick auf einen anhaltenden öffentlichen Diskurs um Bildungsstandards und Leistungsbeurteilungen in der Bundesrepublik bildet die Untersuchung einen wichtigen Teil der Bestandsaufnahme schulischer und außerschulischer Lernsituationen. Sie liefert zudem eine überzeugende Kritik am derzeitigen Schulsystem und den Nebenerscheinungen, die sich daraus ergeben. Im Rahmen der bildungspolitischen Reform-Diskussion dürften die Befunde der Studie vor allem für die Befürworter der Ganztagsschule von Interesse sein, stützen sie doch die Argumente für den Auf- und Ausbau der Ganztagsschule aus der Perspektive der Nachhilfeproblematik noch einmal auf besondere Weise.
Katharina Stock (Tübingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katharina Stock: Rezension von: Rudolph, Margitta: Nachhilfe - gekaufte Bildung?, Empirische Untersuchung zur Kritik der außerschulischen Lernbegleitung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151194.html