EWR 5 (2006), Nr. 6 (November/Dezember)

Heinz Günter Holtappels / Katrin Höhmann (Hrsg.)
Schulentwicklung und Schulwirksamkeit
Systemsteuerung, Bildungschancen und Entwicklung der Schule
Weinheim, MĂĽnchen: Juventa 2005
(308 S.; ISBN 3-7799-1681-9; 24,50 EUR)
Schulentwicklung und Schulwirksamkeit Das 2005 erschienene Buch geht auf die im Oktober 2003 veranstaltete Fachtagung „Schulentwicklung und Schulwirksamkeit" zurück. Anlass war das 30jährige Bestehen des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS). Wie es im Vorwort der HerausgeberInnen heißt, sollten mit der Tagung an der Universität Dortmund „durchaus auch die Arbeits- und Forschungsbereiche von Hans-Günter Rolff getroffen (werden), der 1973 das IFS gegründet und aufgebaut hat und der im Jahr 2005 emeritiert wird". Rolffs Tätigkeiten, so bringen die HerausgeberInnen zum Ausdruck, sollen damit geehrt werden, dass ein aktueller und „facettenreicher Überblick über Fragen von Schulentwicklung und Schulwirksamkeit präsentiert" wird (10). Das Buch liefert also keine „Leistungsschau“ des ISF – diesbezüglich fehlen u. a. Arbeiten zu schulischen Steuergruppen, die vom IFS unternommen werden – sondern es werden verschiedene Forschungsprojekte aus dem deutschsprachigen Raum vorgestellt, die auf der Tagung zu Wort kamen und die das Thema der Schulentwicklung aus unterschiedlichen Sichtweisen untersuchen.

Mit welchen Themenschwerpunkten sich die Forschung aktuell beschäftigt, lässt sich den vier im Buch skizzierten Forschungsfeldern entnehmen. Das erste Forschungsfeld wird „Schulentwicklung und Systemsteuerung" genannt; drei weitere heißen „Bildungschancen", „Entwicklung der Einzelschule" und „Unterrichtsentwicklung".

Natürlich kann man von einem einzigen Sammelband keine Beseitigung aller Forschungslücken erwarten. Zumindest wäre jedoch eine grobe Einordnung der im Buch vorgestellten Einzelprojekte in eine Gesamtschau des Standes der Forschung hilfreich gewesen, um zu sehen, in welche Lücken die in dem Buch vorgestellten Projekte stoßen. Immerhin – und dies ist keine geringe Leistung – werden die Forschungsprojekte so vorgestellt, dass sie sich sukzessive von Makro-Meso-Übergängen (so meine Begrifflichkeit) zu Meso-Mikro-Übergängen, d. h. Unterrichtsproblemen, vorarbeiten.
Insgesamt hat damit der Leser erstens eine gute Übersicht insbesondere zu der Breite der Forschungsbemühungen, die um Fragen der Schulentwicklung und der Schulwirksamkeit kreisen. Hierbei befinden sich „klassische“ Fragen der „Entwicklung der Einzelschule“ in der Mitte des Buches, und diese Beiträge werden durch vorangestellte Beiträge zum Thema „Schulentwicklung und Systemsteuerung“ und „Bildungschancen“ sowie durch das nachfolgende Thema „Unterrichtsentwicklung“ gerahmt.

Da es im Rahmen einer Rezension kaum möglich ist, jedem einzelnen der 19 Beiträge gerecht zu werden, möchte ich mich auf das erste im Buch genannte Forschungsfeld „Schulentwicklung und Systemsteuerung" konzentrieren. Denn in diesem Buchabschnitt finden sich – als zweite Leistung des Buches – insbesondere auch Theoriebeiträge, die ansetzen, Befunde aus der Schulentwicklungsforschung theoretisch mehr zu verdichten. Dies erscheint als längst überfälliger Schritt, um über die Ansammlung von einzelnen Projektbefunden zur Schulentwicklung hinaus zu kommen. Die theoretischen Bemühungen verdeutlichen, dass gegenwärtige Forschung in der Tradition des Schulentwicklungsansatzes nicht auf die Ebene der einzelnen Schule begrenzt ist, sondern vielmehr eine theoretische Verortung vornimmt, verschiedene Ebenen des Schulsystems zusammen denkt und so „differentielle Wirkungen“ (Holtappels, 39) einer Vielzahl von Einzelfaktoren benennt.

Das Forschungsfeld „Schulentwicklung und Systemsteuerung" markiert gleichsam Probleme des Makro-Meso-Übergangs. Angesprochen ist die Schule als Organisationseinheit auf der Meso-Ebene, die durch Rahmenvorgaben der Makro-Ebene beeinflusst wird bzw. selbst (zusammen mit anderen Faktoren) Kontextfaktoren setzt. Hierbei „übersetzt“ die Schule als Organisations- und Vermittlungsstruktur gesellschaftliche Ungleichheiten in Bildungsungleichheiten.

Insbesondere die beiden theoretischen Beiträge zum Forschungsfeld „Schulentwicklung und Systemsteuerung" – von Reynolds, der der Tradition der school-effectiveness und school-improvement-Forschung verpflichtet ist, und von Holtappels – setzen an, diese „Übersetzungsleistung“ der Schule genauer zu spezifizieren. Hierbei werden Leistungen sowie künftige Aufgaben der Forschung kenntlich gemacht. Reynolds (13) fordert u. a. stärkere Modelldiskussionen, um differente Leistungen zwischen Schülern, Schulklassen, Ländern und Schulen auch theoretisch erklären zu können. Weiter benennt Reynolds Forschungsfragen, z. B. warum Schulen unterhalb einer „regression line" in unterentwickelten Gemeinden zu liegen kommen, bei denen dann auch schulische Qualitätsbemühungen kaum noch greifen. Hier ist nach Reynolds nicht nur die Erforschung der "effective", sondern auch der "ineffective schools" dringend gefordert. Als erklärende Hypothese formuliert Reynolds, dass sich in Schulen „below the regression line" elterliche und schulische Beeinflussungsfaktoren (negativ) addieren können (15). Solche Additionsmodelle (die dann auch theoretisch weiter auszuarbeiten wären) ergänzen offensichtlich die beiden klassischen Haltungen der Forschung – nämlich sich entweder vornehmlich auf außerschulische oder vornehmlich auf schulische Beeinflussungsfaktoren zu konzentrieren – um eine dritte Variante sich addierender Faktoren. Gerade für die Analyse solcher Faktoren sieht Reynolds ein weites Forschungsfeld. Er fordert hier z. B. die Untersuchung verschiedener Varianten von Curricula, neuer Formen eines weniger instruierenden und mehr am Lerner ausgerichteten Unterrichts sowie Forschungen zu interpersonalen Beziehungen zwischen dem Führungspersonal ein. Ziel ist es, genauere Angaben darüber machen zu können, nicht nur dass, sondern auch warum einige Schulen erfolgreicher sind als andere (24).

Holtappels ergänzt diese Skizzierung von Forschungsfeldern durch Berichte, wie im deutschsprachigen Raum anglo-amerikanische Forschungen zur school-effectiveness und -improvement rezipiert wurden. Es werden Schwächen der deutschsprachigen Forschung benannt, jedoch auch Ansatzpunkte aufgezeigt, die sich ausbauen lassen. Sinnvoll und nützlich ist es, dass Holtappels seinen Überblick immer wieder zu thesenförmigen Befunden verdichtet.

Insgesamt bieten die beiden ersten theoretischen Beiträge einen sehr guten Überblick über die Lücken und Leistungen der internationalen und deutschsprachigen Schulentwicklungsforschung. Diesen theoretischen Beiträgen folgen drei Projektberichte (Rolff zum Projekt Selbstständige Schule; Bos/Pietsch zu KESS 4; und Pfeiffer zu Schulleitungen). Hierbei machen die von Bos/Pietsch angeführten Ergebnisse zu KESS 4 – die Studie „Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern/ Jahrgangsstufe 4“ bilanziert an der „Gelenkstelle zwischen Primar- und Sekundarschulwesen“ (65) die erreichten Lernstände Hamburger SchülerInnen am Ende der vierten Klasse – die paradigmatische Umstellung für die Schulentwicklungsforschung deutlich. Wie die beiden Autoren resümieren, gehören gut 12 % der Hamburger SchülerInnen in ihren Lesefähigkeiten zu einer Risikogruppe, wobei sich an einzelnen Schulstandorten Hamburgs durchaus extrem gute sowie extrem schlechte Testungen ergaben. Der paradigmatische Umschwung besteht darin, dass durch solche Testungen im Prinzip fortlaufend Befunde zu Ergebnissen von Schulentwicklungsprozessen auf der Seite der SchülerInnen festgehalten werden können, ohne dass sich derzeit theoretisch fundierte Angaben für die Ursachen solcher Ergebnisse angeben lassen. Damit ist zwar ein notwendiger Schritt bezüglich der Ergebnisfeststellung getan, der jedoch für sich genommen nicht hinreichend für Wirkungsanalysen ist. Schulentwicklungsforschung, aber auch Testsysteme werden so verstärkt mit der Aufgabe konfrontiert, zumindest ausschnittartige Erklärungen für die Entstehung von Bildungsungleichheiten angeben zu müssen. Insbesondere bleibt unklar warum, wie die Autoren resümieren, getestete System Zuwächse in den erreichten Lernständen der SchülerInnen nachweisen können (81), ohne jedoch angeben zu können, auf welchen Binnenprozessen dies basiert. Testsysteme selbst rücken diesbezüglich zu einem Forschungsgegenstand auf, sofern sie zwar vordergründig das Wissen hinsichtlich erreichter Lernstände vergrößern, jedoch hintergründig kaum Angaben zu den Ursachen erlauben, d. h. das Unwissen um Produktionsprozesse der Ergebnisse eher noch zu vergrößern scheinen.

Insgesamt liefert damit das Buch erstens einen informativen Überblick zu Forschungsprojekten, die die Schulentwicklung in den Forschungsfeldern „Schulentwicklung und Systemsteuerung", „Bildungschancen", „Entwicklung der Einzelschule" und „Unterrichtsentwicklung" untersuchen. Diesbezüglich handelt es sich um ein informatives Werk, um auf dem Laufenden zu bleiben – auch wenn aus Raumgründen keineswegs alle deutschsprachigen Forschungsprojekte abgebildet werden konnten. Zweitens offenbart das Buch eine Forschungslücke der Schulentwicklungsforschung insgesamt; sie bezieht sich auf den angloamerikanischen und auf den deutschsprachigen Raum. Bis dato ist es nicht gelungen, auch nur angenähert eine „Landkarte der Forschungsprojekte“, eine Bestandsaufnahme der Ergebnisse zu einzelnen Schulentwicklungsprojekten zu erstellen, die über eine bloßes Nebeneinander hinaus kommt. Mit den vier theoretischen Beiträgen des Buches ist diesbezüglich eine Trendwende hin zu stärkeren theoretischen Betrachtungen unternommen. Erforderlich ist insbesondere die Beschäftigung mit der Frage, wie sich Einzelbefunde zur schulischen Wirksamkeit verallgemeinern lassen oder, wie sich Befunde zur Wirksamkeit „guter“ Schulen generalisieren lassen. Diese Forschungslücke wirft spiegelbildlich die Frage auf, wie sich Befunde aus flächendeckenden Leistungstests für einzelne Schulen rückübersetzen und konkretisieren lassen. In der Lücke zwischen diesen beiden Forschungsdefiziten stehen Bedingungen der Schulentwicklung, über die empirisch gesehen noch vieles im Unklaren ist. In diesem Sinne ist ein derartiger informativer Sammelband zu begrüßen – und es wäre wünschenswert, würden sich daran viele weitere Bände anschließen, die insbesondere Bemühungen um eine theoretische Verdichtung der Vielzahl von Einzelbefunden zur Schulentwicklung weiter fortsetzen.
Thomas BrĂĽsemeister (Hagen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Thomas BrĂĽsemeister: Rezension von: Holtappels, Heinz GĂĽnter / Höhmann, Katrin (Hg.): Schulentwicklung und Schulwirksamkeit, Systemsteuerung, Bildungschancen und Entwicklung der Schule. Weinheim, MĂĽnchen: Juventa 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77991681.html