Über Mädchen im Physikunterricht gibt es bereits zahlreiche Untersuchungen, die immer wieder die leidvollen Erfahrungen eines jeden Physiklehrers bzw. einer jeden Physiklehrerin mit präzisen Aussagen bestätigen: Mädchen zeigen ein geringes Interesse am Unterrichtsfach Physik und haben ein nur schwach ausgeprägtes fachbezogenes Selbstkonzept, d. h. schätzen ihre Begabung und Leistungsfähigkeit für Physik als gering ein. Ursula Kessels geht von diesen Befunden aus und stellt sich in der Arbeit die Aufgabe, die theoretische Basis zur Erklärung dieser misslichen Situation zu schärfen und in einer empirischen Studie zu belegen, dass in einem monoedukativen Physik-Anfangsunterricht (in Berlin Klasse 8) die Mädchen ein ganz anderes Verhalten zeigen.
Die Autorin begründet ihre Annahme, dass monoedukativer Unterricht für Mädchen fachbezogene positive Effekte in den Merkmalen Interesse und Selbstkonzept zur Folge hat, mit dem Identitätsmodell von Bettina Hannover, nach dem es vor allem von dem situativen aktuellen Kontext abhängt, ob sich Menschen geschlechtstypisiert verhalten oder nicht. In monoedukativen Gruppen sollte den Schülerinnen (und Schülern) die eigene Geschlechtsidentität weniger bewusst sein als in geschlechtsheterogenen Gruppen, und die Mädchen sollten sich daher nicht in dem üblichen Maße von dem als maskulin betrachteten Fach Physik zurückziehen.
Ursula Kessels verweist auf Positionen in der Gender-Forschung, nach denen der sozial konstruierte Aspekt von Gender sehr stark interaktiv und situational geprägt ist und das Geschlecht in diesem Sinne kein dauerhaftes Merkmal einer Person sei. Dem vom Individuum vorgenommenen, in bestimmten Kontexten interaktional stattfindenden "doing gender" wird als Arbeitshypothese und Interventionsziel ein "undoing gender" entgegengesetzt, das durch das Gestalten eines situativen Kontextes, in dem die Geschlechtsidentität der Schülerinnen und Schüler nicht aktiviert wird, erreicht werden soll. Eine solche Situation wird in geschlechtshomogenen Gruppen gesehen.
Die Autorin beschreibt ausführlich, warum sie gerade den Physik-Anfangsunterricht in Klasse 8 für eine Interventionsstudie mit monoedukativen Gruppen geeignet hält, warum sie den Ansatz der chronischen individuellen Geschlechtsrollenorientierung für Interventionsmaßnahmen in ihren empirischen Studien nicht verfolgt und wie sich ihr Untersuchungsdesign von bisherigen Forschungsansätzen dadurch abhebt, dass durch die Bildung von geschlechtshomogenen und koedukativen Gruppen jeweils innerhalb von Schulen wichtige Variablen kontrolliert werden können, die bei schultypvergleichenden Studien (Mädchenschulen!) nicht in den methodischen Griff zu bekommen sind. Die überzeugende theoretische Einbettung in den sozialpsychologischen Rahmen, die gründliche Aufarbeitung der Berichte über bisherige empirische Annäherungen an das Problem und die über jeden methodischen Zweifel erhabene Beschreibung von Design und Messinstrumenten der Untersuchung lassen beim Leser den Eindruck entstehen, in dieser Studie würde die Frage, in welcher Gruppierung man Mädchen im Physikunterricht am besten helfen kann, ein für alle Mal methodisch einwandfrei geklärt.
Die Ergebnisse bestätigen die Annahmen: Monoedukative Lerngruppen im Physik-Anfangsunterricht führen bei Mädchen dazu, "dass sie ein besseres fachbezogenes Selbstkonzept und eine höhere unterrichtsbezogene Motivation entwickeln als in koedukativen Lerngruppen und sich bezüglich dieser Variablen nicht von den Schülern des gleichen Jahrgangs unterscheiden" (161). In einem zweiten Teil der Studie wurde u. a. gezeigt, dass diese für Mädchen positiven Effekte sich darauf zurückführen lassen, "dass während des Unterrichts in monoedukativen Gruppen die eigene Geschlechtsidentität weniger salient ist" (213).
Diesen eindeutigen und mit den hinzugezogenen Theorien völlig im Einklang befindlichen Resultaten stehen Teilergebnisse gegenüber, die die Autorin nicht befriedigend erklären kann. Zwischen der Mitte und dem Ende des Schuljahres ergab sich keine Veränderung der positiven Effekte monoedukativen Unterrichts, während für die Jugendlichen insgesamt die Motiviertheit durch den Unterricht, die Überzeugung, im Physikunterricht gute Leistungen zu bringen, sowie die Einschätzung des Nutzens des Unterrichts abnahmen. Gleichzeitig berichten die Schülerinnen und Schüler zum Ende des Schuljahres über mehr eigene Aktivitäten im Physikunterricht als zur Mitte des Schuljahrs.
Es wird nicht der Versuch gemacht, diese Befunde auf methodische und/oder didaktische Komponenten des Unterrichts zu beziehen, Daten und Beobachtungen dieser Art wurden nicht aufgenommen. Können jedoch, so muss im fachdidaktischen Interesse gefragt werden, diese Ergebnisse ohne Einbeziehung inhaltlicher Aspekte angemessen erörtert werden? Welche Unterschiede bestanden zwischen den Halbjahren bezüglich der Themen und der Arbeitsformen? Wie sah – geschlechtsbezogen – die Zusammensetzung der experimentellen Arbeitsgruppen in den beiden Halbjahren aus? Das Fehlen fachdidaktischer Expertise empfindet der Leser als besonderen Mangel bei einem Ergebnis, das Auskunft über die Veränderung der subjektiven Kompetenz geben sollte: Die Jugendlichen hatten zu beiden Messzeitpunkten einzuschätzen, ob sie vorgelegte Physikaufgaben würden lösen können. Das Ergebnis: Auch nach einem halben Jahr längeren Physikunterrichts ist die Erwartung, die Aufgaben lösen zu können, nicht gestiegen. Die Autorin schließt nicht aus, dass die Aufgaben die Unterrichtsanforderungen nicht abbildeten. Warum wurden nicht einfach die Lehrer(innen) gefragt? Welche Rolle spielten überhaupt die Physikdidaktiker, die gemäß dem Vorwort offiziell im Forschungsprojekt involviert waren, in der Untersuchung?
Das Fehlen jeglicher inhaltlicher und unterrichtsmethodischer Bezüge kann die Aussagekraft der Resultate nicht grundsätzlich in Frage stellen, ihre Berücksichtigung hätte jedoch in dem einen und anderen Fall den Ergebnissen eine ohne fachdidaktische Analysen nicht sichtbare Plausibilität verliehen, und die Arbeit wäre damit für Bemühungen um empirisch gestützte Veränderungen von Unterricht und Schule wesentlich hilfreicher geworden. Auf jeden Fall ist der Bericht eine eindringliche Aufforderung an Lehrer(innen) und Schulen, über eine optimale Gruppierung ihrer Schülerinnen und Schüler im Physikunterricht nachzudenken.
EWR 3 (2004), Nr. 4 (Juli/August 2004)
Undoing Gender in der Schule
Eine empirische Studie über Koedukation und Geschlechtsidentität im Physikunterricht
Weinheim und München: Juventa 2002
(256 Seiten; ISBN 3-7799-1439-5; 23,00 EUR)
Helmut Fischler (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Helmut Fischler: Rezension von: Kessels, Ursula: Undoing Gender in der Schule, Eine empirische Studie über Koedukation und Geschlechtsidentität im Physikunterricht, Weinheim und München: Juventa 2002. In: EWR 3 (2004), Nr. 4 (Veröffentlicht am 05.08.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77991439.html
Helmut Fischler: Rezension von: Kessels, Ursula: Undoing Gender in der Schule, Eine empirische Studie über Koedukation und Geschlechtsidentität im Physikunterricht, Weinheim und München: Juventa 2002. In: EWR 3 (2004), Nr. 4 (Veröffentlicht am 05.08.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77991439.html