EWR 2 (2003), Nr. 6 (November/Dezember 2003)

Sibylle Beetz-Rahm / Liselotte Denner / Thomas Riecke-Baulecke (Hrsg.)
Jahrbuch für Lehrerforschung und Bildungsarbeit
Band 3
Weinheim und München: Juventa 2002
(342 Seiten; ISBN 3-7799-1333-X; 27,00 EUR)
Jahrbuch für Lehrerforschung und Bildungsarbeit Erst kurze Zeit ist es her, dass "Der Spiegel" einmal mehr Klage führte über die bundesdeutsche Lehrerschaft. Die Lehrer fühlten sich ausgebrannt "und überfordert (...), ihrer Aufgabe nicht gewachsen, für viele wird jede Stunde Unterricht zur Qual. Manche haben nur noch ein Ziel: so schnell wie möglich dem täglichen Klassenkampf zu entfliehen"[1]. Instruktiv sind diese Einlassungen insbesondere deshalb, weil standardisierbare empirische Belege für diese Einschätzung insgesamt unterbleiben und Einzelbeispiele für das Ganze genommen werden. Was folgt sind Wandersagen über den Lehrerberuf, die nicht nachgewiesen werden können, weil es seit Jahrzehnten keine systematische Beobachtung der Gesamtheit gibt. Davon wird in den Medienberichten in der Regel aber nicht gesprochen. So gespenstern überalterte, ergraute, überlastete, ausgebrannte und labile Pädagogen durch die Gazetten, die vermeintlich ihren Aufgaben nicht gewachsen sind und nichts sehnlicher herbeiwünschen als den wohlverdienten, vorzeitigen Ruhestand.

Mit dem dritten Band des "Jahrbuches für Lehrerforschung", der noch einen nicht unbedeutenden Zusatz "und Bildungsarbeit" erhielt, setzen die Herausgeber wieder einen Kontrapunkt zu den öffentlich geführten Einlassungen zu Beanspruchung und Belastung im Lehrerberuf. Schon in den beiden ersten Bänden aus den Jahren 1997 und 1999 fanden sich hier neben auch kolportierten Wandersagen, die empirisch mit am besten abgestützten arbeitsmedizinischen Untersuchungsergebnisse gleichsam "am Puls der Lehrerschaft". Bilanzierend hieß es damals nach Messung von Herzfrequenz und Blutdruck ostdeutscher Lehrerinnen und Lehrer, dass die "somatische, d.h. körperliche Beanspruchung bei Lehrern einer mittleren Arbeitsbeanspruchung entspricht"[2], wobei die höchste Herzfrequenz "während organisatorischer Aktivitäten in der Klasse (auf)trat, die geringste bei Verhaltensbewertung. Bezieht man die Pause ein, so treten individuell häufig die höchsten Werte während der Pause durch Treppensteigen auf"[3]. Gesundheitliche Risiken des Berufes wurden danach auch nicht für alle vollbeschäftigten Insassen der Organisation Schule konstatiert, sondern insbesondere eine "individuelle Spannbreite der Beanspruchung" markiert[4], die darauf verweist, habituellen "Bewältigungsstilen" (ebd.) nachzugehen, wenn körperliche Unversehrtheit zum Thema wird. Schließlich sind in allen bisher vorgelegten Studien zu beruflicher Beanspruchung und Belastung um die 70% der Befragten mit ihrer beruflichen Situation sehr bzw. durchaus zufrieden.

Im vorliegenden Band wird die Einschätzung der damaligen Arbeitsgruppe um Klaus Scheuch nun auch für eine ausgewählte Westpopulation bestätigt. Basis der medizinischen Einlassungen sind standardisierte Erhebungen im Bundesland Bremen bei bis zu 180 Lehrerinnen und Lehrern. Dabei wurden durch eine Arbeitsgruppe um Hans-Georg Schönwälder und Gerhart Tiesler Herzfrequenzprofile erstellt, dosimetrische Messungen vorgenommen und die psychophysische Verfassung zum Ende der 1990er Jahre ermittelt.

Die Ergebnisse wiedersprechen eindeutig den Einlassungen zu einer insgesamt labilen und psychisch deprivierten Lehrerschaft. Vielmehr nehmen, wenn überhaupt, "zwei Drittel aller Lehrerinnen und Lehrer, hauptsächlich wegen physischer Ursachen, häufig oder regelmäßig ärztliche Hilfe in Anspruch" (267). Dies bezieht sich vor allem auf Störungen im Bewegungsapparat und dem HNO-Bereich. Bilanzierend heißt es etwa über zwölf, unterschiedlich erhobene, gesundheitlich bedeutsame Befunde, dass in 57% der Fälle die Probanden frei von bedeutsamen Befunden waren und 42% solche nachwiesen, wobei es einschränkend sogar hieß, die dort "als ´auffällig´ bezeichneten Befunde sind in ihrer Mehrzahl sicher nicht klinisch bedeutsam in dem Sinne, dass sie Krankheitswert hätten oder ein gesteigertes Krankheitsrisiko signalisieren würden und therapeutische Konsequenzen oder signifikante Verhaltensreaktionen auslösen müssten" (279). Wie in den beiden ersten Bänden wird im Kontext von Beanspruchung und Belastung dabei auch nicht von individuellen Dispositionen abstrahiert, personale Eigenschaften sogar vor arbeitssituative gestellt (244).

Alles in allem nehmen die Befunde über Beanspruchungsreaktionen bei Lehrkräften leider nur 60 komprimierte Seiten im Jahrbuch ein, die auch nur rudimentär auf die Lehrerforschung zur Belastung und Beanspruchung Bezug nehmen und selbst die Arbeiten in den Vorgängerbänden nur kursorisch streifen. Dies ist für Neueinsteiger in die Jahrbuchreihe schade und für den kenntnisreicheren Leser ärgerlich, weil teilweise fragend auf nicht signifikante Einflüsse von Alter und Geschlecht bzw. Beschäftigungsdauern (Teilzeit/Vollzeit) rekurriert wird, wohl wissen könnend, dass diese Merkmale zur Erklärung in der Regel, gegen alle Vermutung, nichts beitragen.

Neben den vorgestellten vier Beiträgen finden sich im Jahrbuch, das ja mit einjähriger Verspätung auf den Markt kam, 17 weitere Beiträge in vier Teilen. Die Herausgeber Sibylle Beetz-Rahm und Liselotte Denner beschreiben sie als "heterogene Antworten auf gesellschaftlichen Wandel" (11) bzw. als "Heterogenität der Sichtweisen auf sich wandelnde gesellschaftliche Praxis" (ebd.).

Diese Sichtweise der Herausgeberinnen lässt sich im Gegensatz auch lesen als den Versuch, vollkommen Disparates unter dem Stichwort Lehrerforschung zu vereinen und zwischen zwei Buchdeckel zu pressen. So finden sich neben programmatischen Einlassungen zu einer neuen Leistungsbewertungskultur (Felix Winter), einem Kerncurriculum unterrichtlicher Arbeit (Horst Bartnitzky/Wolfgang Böttcher) und einem neuen Verständnis von Jugendhilfe und Schule (Bernhard Eibeck), eher analytisch ausgerichtete zur Wirksamkeit von Lehrerarbeit (Thomas Riecke-Baulecke) oder gar vollkommen subjektive über die eigene Arbeit in pädagogischen Kontexten (Margit Rückert – Heilpädagogischer Hort, Ute Kamp – Integrationskindergarten, Geli Wald – Ausbildungsseminar). Querverweise unterbleiben dabei durchgängig und verstärken den Eindruck eines unverbundenen Blütenstraußes. Letztlich gehen auch empirisch quantitativ wie qualitativ gut validierte Ergebnisse zu schulinterner Gruppenberatung (Liselotte Denner), rekonstruktiv-fallbezogener Lehrerbildung (Arno Combe/Susanne von Glasenapp) oder gar gewaltaffinen rechtsextremen Jugendlichen in Ostdeutschland (Christian Glaß) im Zusammenhang unter.

Das Jahrbuch für Lehrerforschung mit dem Zusatz "und Bildungsarbeit" zu versehen, lässt auf den Einfluss der Geldgeber schließen. Die Vorsitzende der GEW und der Max-Traeger-Stiftung macht daraus in ihrer Einleitung auch keinen Hehl, denn "die veränderte Ausrichtung der Reihe entspricht dem gewerkschaftlichen Anspruch, Bildungsarbeit und Bildungspolitik in der gesamten Breite in den Blick zu nehmen" (5). Dass dies von der gewerkschaftlichen Seite so gesehen werden muss, liegt schon historisch begründet im zunächst auftretenden Wunsch nach einer einheitlichen Anerkennung, Ausbildung und Besoldung der Lehrerschaft, der seit den 1990er Jahren nun auch stärker auf Erwachsenenbildner, Sozialpädagogen und Erzieher unter der Rubrik "Die Bildungsarbeiter" [5] ausgedehnt wird und u.a. auf die Verbindung zwischen Jugendhilfe und Schule zielt.

Für die Institutionalisierung eines Kontextes "Jahrbuch für Lehrerforschung" könnte sich diese Richtung aber als kontraproduktiv erweisen, weil sich eigentlich Spezialisierung mit Professionalisierung verschwistert und nicht Diversifikation. Ich denke, hier sollte vielleicht noch einmal das Konzept überdacht werden, um nicht eine gute Idee zu begraben, die ja gerade eine Leerstelle der Forschung füllt und einen Ort bekommen hat. Wahrscheinlich sind themengebundenere Jahrbücher hilfreicher, die den Lehrer interaktionistisch mit seinem Klientel verschwistert zeigen oder organisational mit seinen Kollegen und "Kontrolleuren" oder gar eingebunden in das Schulsystem.

Hier wäre übrigens auch ein Anknüpfungspunkt für den Beginn eines jeden Jahrbuches in Analogie zum "Jahrbuch für Schulentwicklung", das mittlerweile seit über zwanzig Jahren erscheint und alle Ausgaben beginnt mit einer beschreibenden Darstellung der alle zwei Jahre stattfindenden Befragung: Die Schule im Spiegel der öffentlichen Meinung. – Wie wäre es zukünftig also mit: Wie geht es den Lehrern?

Anmerkungen

[1] Der Spiegel (2003). Nr. 46. Hamburg: Spiegel-Verlag, 46.
[2] Scheuch, Klaus/Knothe, Monika (1997): Psychophysische Beanspruchung von Lehrern in der Unterrichtstätigkeit. In: Buchen, S. et al. (Hrsg.): Jahrbuch für Lehrerforschung. Band 1. Weinheim und München: Juventa, 285-299, hier 290.
[3] ebd., 289.
[4] ebd., 292.
[5] Böttcher, Wolfgang (Hrsg.): Die Bildungsarbeiter. Situation – Selbstbild – Fremdbild. Weinheim und München: Juventa 1996.
Axel Gehrmann (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Axel Gehrmann: Rezension von: Beetz-Rahm, Sibylle / Denner, Liselotte / Riecke-Baulecke, Thomas (Hg.): Jahrbuch für Lehrerforschung und Bildungsarbeit, Band 3, Weinheim und München: Juventa 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77991333.html