Ursula Stenger lässt sich hingegen in ihrem Buch auf das schwierige Unternehmen ein, dem Wesen des Kreativen nachzugehen und es zu konkretisieren. Dabei spricht sie bewusst nicht von Kreativität, sondern vom Schöpferischen, um das ursprüngliche Phänomen wieder in den Blick zu bekommen. In diesem Sinne stellt sie sich in die Tradition Edmund Husserls und folgt quasi seinem Ruf zu den Sachen selbst zurückzukehren und sich nicht den Blick von vorhandenen Kreativitätstheorien verstellen zu lassen. Die Phänomenologie (zumindest des frühen) Edmund Husserls ist Ursula Stenger aber letztlich für ihr Anliegen zu bewusstseinsimmanent und zu sehr der erkenntnistheoretischen Trennung von Subjekt und Objekt verhaftet. Weiter führt sie das Denken Martin Heideggers und vor allem die Strukturphänomenologie dessen Schülers Heinrich Rombach, die zu einer der Hauptreferenztheorien ihrer Untersuchung wird. Strukturphänomenologie bedeutet sehen – genauer, die Prozessualität und Relationalität der sogenannten Dinge wahrzunehmen und unseren Blick nicht auf das Feststellen, Planen und Messen zu reduzieren. In diesem Geist klärt Ursula Stenger zunächst die theoretischen Vorfragen und ihre eigene Fragestellung ab.
Teil I ist dahingehend eine Darstellung der Phänomenologie in Grundzügen, eine historische Herleitung der Fragestellung Ursula Stengers sowie eine Konfrontation mit der modernen Kreativitätsforschung. Dass sie dabei bis in die Antike zurückgeht und Streifzüge durch Nietzsche, Freud, Montessori u. a. unternimmt, legt zwar die Spur ihrer persönlichen Auseinandersetzung, lässt aber auch die Kritik zu, dass der abendländischen Geistes- und Wissenschaftsgeschichte ein paar zu klare rote Fäden entsponnen werden. Ein etwas kleinerer Horizont der Vorfrage wäre hier sinnvoller gewesen. Die sich daraus ergebenden Fragestellungen aber sind spannend und fesseln zum Weiterlesen:
- Was geschieht in schöpferischen Prozessen?
- Wie entstehen neue Werke und wie bringt sich der Mensch mit und durch sie immer wieder neu hervor?
- Wie kommt es – und hier wird das anthropologische Interesse Ursula Stengers deutlich – zum Durchbruch von neuem Sinn und von einem neuen Selbstverständnis des Menschen?
Teil II konkretisiert "das Phänomen der Dimension" anhand des "Phänomens Picasso" und durch die Darstellung des Übergangs von der kindlichen Kritzelphase zum gegenständlichen Zeichnen.
Mit dem Phänomen Dimension rekurriert die Autorin auf eine Prozessvorstellung, wie sie in der Strukturphänomenologie Heinrich Rombachs beschrieben wird. Prozess meint hier das Geschehen, in dem Mensch und Welt, Subjekt und Werk gleichermaßen hervorgebracht werden. Ein Geschehen, das der Sichtbarkeit und Messbarkeit der Dinge vorausgeht, ein Werden, das das Substanzgewordene durchfließt. Schöpferisch wird dieser Prozess dann, wenn neue Werke, neue Welten und ein neues Selbstverständnis des Menschen entstehen – eben eine neue Dimension. Wichtig ist es Ursula Stenger in diesem Teil aufzuzeigen, dass solche neuen Dimensionen aus Umbrüchen hervorgehen, "die sich nicht nur auf der kognitiven Ebene abspielen, sondern den Menschen in seiner ganzen Existenz betreffen" (76). Beispiel eines solchen Durchbruchgeschehens ist ihr die Entstehung des Bildes "Les Demoiselles d’Avignon", das als kubistische Wende Picassos gilt. Picasso habe damit eine neue Dimension gefunden, die nicht nur das Selbstverständnis der Kunst, sondern auch sein eigenes und schließlich das kulturelle Sein und Denken im Ganzen verändert habe. Das Beispiel Picasso könnte nun nahelegen, dass hier das Schöpferische mit genialem Kunstschaffen gleichgesetzt wird. Ursula Stenger aber widerlegt dies dadurch, dass sie die gleiche Prozessstruktur des Umbruchs und Durchbruchs bei Kindern aufzeigt. Als Beispiel einer Wende in eine neue Dimension dokumentiert sie den Übergang von der Wirklichkeitserfahrung, die sich in Kritzelbildern zeigt zur Wirklichkeitsbeobachtung, die zum gegenständlichen Zeichnen führt.
In Teil III werden die "Grundzüge des schöpferischen Prozesses" weiter systematisiert und in ihrer anthropologischen Bedeutung spezifiziert. Deutlich wird hier noch einmal hervorgehoben, dass schöpferische Prozesse nicht gemacht oder geplant werden können. Schöpferische Prozesse entwickeln eine Eigendynamik, in der mehr entsteht als zuvor erwartet, gegeben oder auch geleistet wurde – es ereignet sich eben Neues. In diesem Teil werden zudem Beginn und Ende des Prozesses beschrieben, wobei Ursula Stenger viele Parallelen, vor allem zu den Kreativitätsuntersuchungen Csikszentmihalyis zieht. Bei diesem käme aber schließlich "der Kognitionspsychologe durch, der dann doch derartige Prozesse in der Hand behalten will" (129). An solchen Stellen wird sehr deutlich, worum es Ursula Stenger anthropologisch, wissenschaftstheoretisch und letztlich pädagogisch geht: eine in unserem Zeitgeist nicht mehr populäre Dimension des Vertrauens in Situationen zu proklamieren und dies nicht als Irrationalität abzutun, nur weil sich unsere Rationalität auf die methodische Beherrschung von Prozessen reduziert hat.
Teil IV beschreibt "Ich und Welt im schöpferischen Prozeß". Dabei wird u. a. auf den Vortrag "Das Ding" von Martin Heidegger Bezug genommen und damit auf seine Kritik an der modernen Technik und (positivistischen) Wissenschaft, die dem Menschen die Nähe zum Sein versperre. Bei aller Berechtigung dieser Kritik, so steckt darin doch auch die Romantik einer besseren, heileren und eigentlicheren Welt, der wir uns nur ergeben müssten, um gut und glücklich zu sein. Auch Ursula Stenger hat in ihrem Buch viel von diesem romantischen Geist und es sei dahingestellt, ob dies zu kritisieren oder zu bewundern ist.
In diesem Teil befindet sich auch eine Auseinandersetzung mit dem Konstruktivismus. Statt selbstreferentieller Erfindungsprozesse von Wirklichkeit vertritt die Autorin ein Wirklichkeitsverständnis der Findung von Ich und Welt über situative Dynamik. Wiederholt wird dabei betont und teilweise anekdotenhaft durch die Erfahrung mit den eigenen Kindern beschrieben, dass sich das Subjekt verwandeln müsse. Interessant ist aber das Verständnis des Ich als Plural (u. a. im Anschluss an Nietzsche) und als Schöpfung (u. a. im Anschluss an Foucault).
Im V. und letzten Teil des Buches geht es um Konsequenzen dieser Anthropologie – oder eigentlich Ontologie – im pädagogischen Feld. Ursula Stenger sieht vieles der von ihr dargestellten schöpferischen Prozesse in der Reggiopädagogik verwirklicht, obgleich sich diese zu viel an konstruktivistische bzw. kognitionspsychologische Denkformen halte. Die Autorin wählt mit der Reggiopädagogik bewusst ein Beispiel aus der Vorschulerziehung, da in dieser Zeit besonders viele Umstrukturierungsprozesse stattfänden. Vorgestellt werden verschiedene Projekte mit den Kindern, die nicht vorweg von den Erzieherinnen geplant werden, sondern die an die spontan geäußerten Interessen der Kinder anknüpfen und mit den Kindern gemeinsam Schritt für Schritt gestaltet und entwickelt werden. Die Rolle der Pädagogen sei es, die Kinder zu beobachten und an ihre Fragen anknüpfend Impulse zu geben, die helfen neue Dimensionen zu entdecken. Dabei sollen weder Ziele noch Antworten gegeben werden. Entscheidend sei vielmehr eine Atmosphäre der Achtung und des Interesses.
Einwenden lässt sich hier die Frage, warum auch in diesem pädagogischen Konzept, bei dem es doch erstrangig darum geht, dass sich alle Beteiligten "konkreativ" auf einen Prozess einlassen, der Pädagoge distanziert bleibt. Warum darf er/sie sich nicht mit seinen/ihren Zielen und auch Antworten einbringen, ohne dass dies schon heißen muss Prozesse unschöpferisch zu destruieren. Das Geschehen selbst zu würdigen sollte doch nicht heißen, gefundene Kultur nicht mehr geltend machen zu dürfen.
Dennoch stellt die Arbeit Ursula Stengers eine anregende "Antithese" zu dem gegenwärtig wieder stark anschwellenden didaktischen Aktionismus dar. Theoretisch wäre sie durch die Hermetik Heinrich Rombachs noch bereichert worden, die viel zwischen den Zeilen erscheint, aber nicht ausgeführt wird.