Mit den Urbanen Spiel- und Straßenwelten wird eine Fallstudie beschrieben, die im Rahmen eines groß angelegten historisch-interkulturellen Projektes zum Thema „Stadt und Quartier als Lebensraum von Kindern und Jugendlichen“ in den 1980er Jahren in Wiesbaden (Deutschland) und Leiden (Holland) durchgeführt wurde. Zielsetzung war es, die Nahräume von Kindern und die in ihnen stattfindenden Sozialisationsprozesse für den Zeitraum 1900-1980 zu erforschen. Das von Imbke Behnken vorgestellte Teilprojekt untersucht im Wesentlichen die Modernisierung von Kindheit im frühen 20. Jahrhundert, dieses unter der Maßgabe, typische Entwicklungsmuster für eine Interpretation aktueller Kindheit zu nutzen. Neu ist im Rahmen der sozialgeschichtlichen Kindheitsforschung dabei der ausdrückliche Bezug auf das Alltagsleben, das Spiel und die Spielgruppen der Arbeiter- und Kleinbürgerkinder in den Altstadtquartieren. Sie stellen, nachdem der Formwandel zu einer familienorientierten Kindheit für die Kinder des Adels und Bürgertums bereits um 1900 einsetzt, die „klassische Straßenkindheit“ dar.
Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel: Zunächst wird ein Überblick über Zielsetzung und Ansatz des Projektes gegeben (1), dem folgt seine theoretische Verortung (2), eine Beschreibung ausgewählter städtischer Erhebungsorte in Wiesbaden (3), generelle Überlegungen zur „Straßenkindheit“ (4) und eine explizite Auseinandersetzung mit dem Kinderspiel und der Bedeutung von Spielgruppen (5).
Ihre theoretische Fundierung erhält die Studie einerseits durch eine sozialökologisch ausgerichtete historische Feldforschung. Diese bestimmt das städtische Wohnviertel als öffentlichen Lebens- und Erfahrungsraum, in dem Nachbarschafts- und Freundschaftsbeziehungen wesentliche Sozialisationsfaktoren darstellen. Andererseits erfolgt ein sozialgeschichtlicher Zugriff. Er trägt mit einem Bezug auf Zivilisationstheorien dazu bei, Entwicklungslinien der historischen und gegenwärtigen Kindheit aufzuzeigen und sie zu vernetzen, darüber hinaus aber auch soziokulturelle Aspekte der städtischen Arbeiterkindheit zu beleuchten. In diesem Zusammenhang ergibt sich unter anderem die Frage, „in welcher Weise und in welchem Ausmaß die einzelnen Quartier- und Stadtumwelten die sozialen Erfahrungen der Kinder begrenzen und ideologisieren“, welche Auswirkung die Kinderarbeit auf das -spiel hat, wie und ob sich „Kinder der städtischen Unterschichten mit anderen sozialen Gruppen vernetzen“ (40).
Konkret verbindet sich mit diesem Zugriff das Anliegen, kindliche Entwicklungen in ihren alltäglichen Lebenswelten und in den Wechselwirkungen sozialer Gruppen zu analysieren. Dieses geschieht unter Heranziehung eigener Erfahrungen und deren Weitergabe an Folgegenerationen. Die individuelle Lebensgeschichte wird damit zur Quelle – Erzählungen, Fotos, Lagepläne des Wohnviertels, Wohnungsgrundrisse und lokale Begehungen werden zu Medien der Rekonstruktion kindlichen Alltagslebens. Grundlage der Erhebung sind Interviews mit Personen der Geburtsjahrgänge 1886–1920, die an Hand der Materialien in offenen Gesprächssituationen ihre Erinnerungen schildern. Damit ist das Projekt einerseits der neueren, aus der Perspektive des Kindes argumentierenden Kindheitsforschung zuzuordnen, andererseits der historischen Analyse verpflichtet. Die Triangulation biografischer und ethnographischer Methoden ermöglicht es der Verfasserin nicht nur, ihre Ergebnisse mehrperspektivisch zu erheben, sondern sie auch theoretisch fundiert und anschaulich darzustellen.
Die historischen Bedingungen des Wandlungsprozesses werden schließlich am Beispiel des Kinderspiels konkretisiert. Dabei wird ein informativer und detaillierter sozialkultureller Perspektivenreichtum entwickelt, der es zudem nicht unterlässt, nostalgischen Klischees kritisch entgegenzutreten: Die Störanfälligkeit (zu) großer Spielgruppen und der damit verbundene kollektive Druck auf Einzelne, das Eingebundensein in „Arbeitsprozesse“ (Botengänge, Geschwisterbetreuung), aber auch die Verwiesenheit auf enge Hinterhöfe und Nischen haben lange Zeit zu einer – heute häufig nicht mehr wahrgenommenen – Beeinträchtigung kindlicher Freiheiten und damit zu einer Reduzierung von Spielmöglichkeiten geführt.
Obwohl das Schwergewicht des Teilprojektes eine vorrangig historische Ausrichtung hat, gelingt es der Verfasserin mit dem Verweis auf die Ergebnisse des Gesamtprojektes auch, Aussagen zum gegenwärtigen Wandel von Kindheit zu treffen. Als wesentliche Faktoren, die die Entwicklung historischer und aktueller Kindheiten beeinflussen, werden in der Studie die Segregation und die Geschlossenheit genannt. Zum einen ist damit eine seit 1900 zunehmende Trennung kindlicher und erwachsender (Arbeits- und) Lebensräume bei einer zugleich zunehmenden Verschmelzung der symbolischen Welten von Kindern und Erwachsenen (z.B. im Bereich von Mode und Medienkonsum) gemeint. Zum anderen wiesen die Altstadtquartiere lange Zeit eine homogene Sozialstruktur auf, die ihren Bewohnern Sicherheit und Identität verlieh – eine Tendenz, die für Trabantenstädte heute neu zu überdenken ist. Betrachtet man unter diesen Perspektiven die sozialen Beziehungen der Kinder, so betont die Studie markante Wandlungsprozesse:
- Fanden sich Kinder zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu Spielgruppen zusammen, so steht aktuell eher die Paarbildung im Vordergrund. Dieses gibt für die Autorin zu der Vermutung Anlass, dass „sich die Abfolge sozialer Beziehungsmuster historisch“ (61) umkehrt.
- Waren Volks- und Mittelschulen ehemals „Nachbarschaftsschulen“, die jene durch die Straße geschaffene Kindergemeinschaft stabilisierten, trägt die zunehmende Zentralisierung und Spezialisierung leistungsbezogener Schulformen heute eher dazu bei, dass „Bildungsinstitutionen (...) Kontakte unter Kindern nach Kriterien schulischer Selektion“ (63) stiften.
- Damit und mit der zunehmenden Institutionalisierung (Kindergarten, Hort, Schule, Vereine) erweitern sich die sozialen Nachbarschaftsräume heutiger Kinder, allerdings können sie – nicht zuletzt auch aufgrund eines begrenzten Zeitbudgets – nur selektiv aufgesucht werden.