Man weiß immer noch wenig über die Auswirkungen der „Wende“ auf die Biografien von Kindern wie Erwachsenen in der DDR. Über die unmittelbaren Transformationsprozesse hinaus sind auch langfristige Folgen dieses alle Lebensbereiche berührenden gesellschaftlichen Umbruchs von Interesse. Kirchhöfer muss somit sein Unternehmen nicht rechtfertigen (vgl. 9). Nun waren diejenigen, die im Mittelpunkt seiner Studie stehen, 1989/90 gerade einmal 10 bis 15 Jahre alt. Die „Wende“ war Teil ihrer Kindheitssozialisation in einem Staat, der in seinem letzten Jahrzehnt immer instabiler wurde und von Jahr zu Jahr an Legitimation verlor – letzteres auch wegen der Zukunftsperspektiven für die Kinder. Eine Untersuchung der Frage, ob die „Mauerfallkinder“ Subjekte oder „Objekte eines fremden Gestaltungswillens“ (13) waren, muss diese spezifischen Sozialisationsbedingungen berücksichtigen. So kam ein vergleichbares Projekt zur Wahrnehmung der „Wende“ bei Ostberliner Schülern zu dem Ergebnis, dass die „erstarrte DDR-Gesellschaft“ in dieser Altersgruppe „eine Rationalität des Handelns erzeugt hatte, die sich in den radikalen Umbruchsprozessen bewährte“ [1].
Dieter Kirchhöfer untersucht „Veränderungen in den Reflexions- und Wertungsmustern ostdeutscher Schüler in den Jahren 1989-92“ (7). Zwischen Dezember 1989 und April 1990 wurden in sechs Städten der DDR ca. 1200 Schüler der 5. bis 12. Klasse aufgefordert, in einem Schulaufsatz „ihre Meinung zu den gesellschaftlichen Veränderungen im Lande zu formulieren“ (23). 1990 und 1992 sollten sie ihre Texte erneut kommentieren. Die dritte Erhebung, in der noch 172 Texte von Schülern der Geburtsjahrgänge 1974-79 aus Greifswald, Neubrandenburg, Berlin, Strausberg und Leipzig ausgewertet wurden, fand die Schüler schon nicht mehr in der DDR-Einheitsschule.
Ob das Vorhaben bereits 1989 als Längsschnittuntersuchung geplant war, erfährt der Leser leider nicht. Falls ja, dann lässt das schöne Marx-Zitat („Jede Revolution löst die alte Gesellschaft auf; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch“) als Aufsatzthema der 11. und 12. Klassen (25) aufhorchen: Es zeigt – wie die Themen „Meine Gedanken, Wünsche und Träume zu den Veränderungen in unserem Lande“ (5.-7. Klasse) und „Mein Leben in und mit der Wende“ (8./10. Klasse) –, dass ein Ende der DDR nicht erwartet, vielleicht sogar jetzt erst ein ‚wirklicher Sozialismus‘ erhofft wurde. Was im Nachhinein als kontinuierlicher Forschungsprozess erscheint, muss somit selbst erheblichen Veränderungen unterlegen gewesen sein.
Etwas Aufschluss gibt der eingangs zitierte Text eines 15-Jährigen: „Außerdem stört mich, dass wir die Aufgabe von unserer Lehrerin gestellt bekommen haben. Früher waren doch auch dauernd Leute von der APW an unserer Schule, und jetzt kriegen die es nicht mal fertig uns ihre Wünsche selbst zu sagen“ (9). Die Akademie der pädagogischen Wissenschaften der DDR als Auftraggeber würde erklären, dass im beschriebenen Umfang Schulaufsätze angeordnet werden konnten. Mit dem Zitat („Wie naiv sind eigentlich diese Leute, dass sie glauben, wir würden von heute auf morgen genau das lernen, was sie uns jahrelang verboten haben? Nämlich: frei reden [...]“, ebd.) leitet Kirchhöfer pointiert die Frage ein, die sich auch der Leser stellt: Welche Reflexionsmöglichkeiten (und -fähigkeiten) waren im Erhebungskontext zu erwarten?
Im Kapitel 1 verortet Kirchhöfer die Untersuchung im „öffentlichen Diskurs zu einer Generation der Wendekinder“. Er fragt, ob der Umbruch von 1989 „als generationsprägendes Ereignis“ erfahren wurde (10), findet das aber nicht bestätigt: „Systemkrise, Zusammenbruch der Gesellschaft und ihrer Utopien, Vereinigung und Triumph des kapitalistischen Systems und erneute Entillusionierung wurden [...] nicht als gemeinsame Erfahrung erlebt“ (13). Das begründe sich aus sozialen und regionalen Differenzen bzw. unterschiedlichen Erfahrungshintergründen.
Überraschend ist zunächst die – nicht nur seiner Forschung – zugrunde liegende Annahme, es habe solche Differenzen nicht gegeben. Die normative Sicht auf die „Wende“ und das recht ungenaue Generationskonzept („dass die im Kindesalter erfahrenen Prägungen die Tendenz haben, sich als natürliches Weltbild mit seinen Mustern festzusetzen"; 11) lassen jedoch Aussagen über eine potentielle Generationsbildung schwerlich zu [2]. Kirchhöfer hatte eine – politische – „Wendekindergeneration“ vermutet, die „als 20- bis 25jährige vielleicht ein besonderes Protestverhalten zeigen würde“ (11). Das zumindest war wohl eine Illusion.
Kapitel 2 widmet sich der „Methode der reflektierenden Selbstkommentierung“, mit der Einblicke in Identitätsbildungsprozesse gewonnen werden sollen. Die Originalität des Ansatzes liegt darin, die Produktion schriftlicher Texte zu initiieren, auf die – wiederum schriftlich – in zeitlichen Abständen reflektierend Bezug genommen wird. Die mehrfache Selbstkommentierung zwinge zur Korrektur „vorschnelle[r] und einseitige[r] Urteile“, das Individuum sei gezwungen, „seine Identität zu konstruieren, zumindest aber zu befragen“ (23). Die Auswertung der Texte erfolgte anhand einer Deskriptorenliste (z.B. „Lehrer-Schüler-Beziehung“, „Einheit/Vereinigung“, „Arbeitslosigkeit“; 27) und der Ermittlung von „Nennenshäufigkeiten“ (28) sowie einer anschließenden „Klassifikation der Wertungen“ der schulischen bzw. gesellschaftlichen Veränderungen („kritischnegierend“, „affirmativ-bejahend“, ambivalent wertend“; 30ff.). Der eigentliche qualitative Zugang beginnt mit der Ermittlung „kommunikative[r] Reflexionsmuster“ (43). Methodisch beruft sich der Autor dabei auf eigene Vorarbeiten.
Kapitel 3 („Die erkennbaren Reflexionsmuster“) konfrontiert den Leser recht unvermittelt mit Ergebnissen: Die drei Erhebungen folgten – dem Autoren zufolge – den Mustern „Ungezügelte Hoffnung“, „Entillusionierende Realitätserfahrung“ und „Gespaltene Wahrnehmung“. Unterschieden werden „Reflexionsmuster individueller Befindlichkeit“ und „Reflexionsmuster gesellschaftlicher Realität“. Das Kapitel ist mehr als eine Analyse. Es ist ein Dialog des Forschers mit seinen Probanden: über die DDR, über die Perspektiven der deutschen Einheit, über Lebensentwürfe von Kindern und Jugendlichen. Für Kirchhöfer ist die Zeit der dritten Erhebung „durch eine zunehmende Konsolidierung kapitalistischer Verhältnisse in Ostdeutschland charakterisiert“ (49), und er scheint fast überrascht von der „Akteursperspektive“ (51) und dem „Optimismus“ als „Grundbefindlichkeit“ (53) der Schüler, da diese doch „den individuellen Subjektivitätsanspruch unter entfremdeten sozialen Verhältnissen realisieren müssen“ (55). Seine Annahme, dass die Schüler „vor allem die destruktiven Wirkungen des Umbruchs reflektieren und einen regelrechten Ernüchterungsschock erleben würden, war nicht haltbar“ (49f.). Die Beurteilungen der individuellen und der gesellschaftlichen Perspektive gehen zwar – wie in anderen Jugendstudien – oft auseinander, ob für letztere aber deswegen schon die „enttäuschte Hoffnung als grundlegende Disposition“ (58) gilt, erscheint nur bedingt plausibel. Den Charakter einer „Ent-täuschung“ hat zweifellos die wachsende Einsicht, dass die Teilhabe an den Segnungen der Markwirtschaft begrenzt ist – kaum ein Text, in dem nicht die drohende bzw. eintretende Arbeitslosigkeit der Eltern und das Zurückschrauben von Ansprüchen thematisiert ist. Ein möglicherweise damit verbundener Zugewinn an Reflexion oder auch unterschiedliche Bewältigungsstrategien lassen sich jedoch vermutlich erst aus größerer zeitlicher Distanz bestimmen.
Im Kapitel 4 sind die „kommentierten Selbstzeugnisse“ umfangreich abgedruckt (185 von 270 Seiten). Schulaufsätze sind das nicht – man merkt den Texten an, dass ihre Verfasser Mühe hatten, die auf sie einströmenden Eindrücke zu ordnen. Dass die „Wende“ für die meisten Schüler eine Anomieerfahrung darstellte, teilt sich sofort mit. Hat man vor Augen, dass sich viele Fünft- und Sechstklässler „Westzeitungen“ (die BRAVO), „Konzerte von Pop-Sängern“, „schicke Klamotten“ und bessere Autos gewünscht haben – nach ihren „Wünschen“ wurden sie ja gefragt – relativiert sich jedoch Kirchhöfers primäre Deutung einer erzwungenen politischen Um- oder Neuorientierung. Dass die Jugendlichen die „Wendezeit“ als Zeit der Wünsche erlebt haben, hat hingegen eine ganz eigene Aussagekraft. Die alltagskulturelle Dimension bleibt bedauerlicherweise aus der Analyse ausgeklammert.
Kaum nachvollziehbar ist die Behauptung, die Schüler hätten über Eltern, Familie und Freunde „kaum reflektiert“ (25). Von „Wir fahren einen Citroen“ (53) bis zu „Ich forderte nieder SED, Freie Wahlen und Aufdeckung der Verbrechen“ (164) – die Familien sind durchgängig präsent. In Hoffnungen wie Befürchtungen bilden sie die Folie für die Schüleraufsätze, auch wenn die Schüler ihre Eltern (im Gegensatz zu den Lehrern) nicht bewerten. Auffallend ist die hohe Identifikation mit den Eltern, die als einzige als Garanten von Stabilität erscheinen.
Auf eine hermeneutische Textanalyse wurde verzichtet, weil „die Zielstellung der Untersuchung es nicht erforderlich machte“ (42). Lohnend wäre es allemal gewesen. Das beginnt schon bei den Einleitungen der Texte, die – offenbar unterschiedlich normiert (z. B. Greifswald: „Es passiert viel in unserem Land, auch wir möchten unsere Meinung äußern“, 83ff.; Neubrandenburg: „Meine Gedanken...“, 194ff.) – Fragen nach differenten Aufgabenstellungen, deren Deutungen und textstrukturierenden Wirkungen aufwerfen. Welches kommunikative Reflexionsmuster ist erkennbar, wenn ein Siebtklässler pragmatisch eine Tabelle mit den Rubriken „Gedanken“, „Wünsche (Träume)“, „Erfahrung“ fertigt, um unter die Stichwortsammlung dann „Alles Scheiße!“ zu setzen (183)?
Die vorgestellte Erhebungsmethode eröffnet Möglichkeiten, die über herkömmliche Befragungsmethoden hinausgehen, indem Textformen erzeugt werden, die eine Nähe zu Brief oder Tagebuch zeigen. Diese maßgeblich auf der Basis von Häufigkeitsverteilungen auszuwerten, erscheint im Hinblick auf Aufwand und Ergebnis unbefriedigend. Hier hätte es auch eine standardisierte Fragebogenerhebung getan. Kommunikative Reflexionsmuster lassen sich hingegen nur rekonstruieren, indem man sich – bei Berücksichtigung der Trias von Sender, Medium und Empfänger – auf die Texte analysierend einlässt, um die Bedeutungen zu lesen und zu verstehen, die die Verfasser der „Wende“ und ihrer eigenen Rolle in diesem Prozess gaben. Das schützt auch vor Enttäuschungen eigener Erwartungen und einer Instrumentalisierung der Texte für einen nicht die Lebenswelt der 10- bis 15-jährigen repräsentierenden Diskurs („In den Texten wurden Aussagen nahezu ohne Reflexion der eigenen Stellung im vergangenen System wiedergegeben, die Schüler gaben sich nicht als Funktionsträger zu erkennen, sie hatten scheinbar ohne Ämter, ohne Verantwortung agiert [...]“; 26). Die gnadenlos korrekte Wiedergabe der Orthographiefehler, die zeigt, dass die Schüler schneller dachten, als sie ihre Gedanken aufschreiben konnten, erschwert übrigens das Lesen und wirkt teilweise beschämend. Eines machen die „wiederholten Selbstkommentierungen“ der Jugendlichen in jedem Fall deutlich: Diese Untersuchungsgruppe dürfte auch künftig noch von einigem Interesse sein.
[1] Stock, Manfred/Tiedtke, Michael (1992): Schüler erfahren die Wende. Schuljugendliche in Ostdeutschland im gesellschaftlichen Transformationsprozess. Weinheim, München, S. 13.
[2] Vgl. Mannheim, Karl: Das Problem der Generationen. In: Ders. (1964): Wissenssoziologie. Berlin/Neuwied, S. 536. Mannheim spricht von „der ersten Jugendzeit“ und sieht die potentielle Generationsbildung mit der gewonnenen Reflexivität zwischen dem 17. und 25. Lebensjahr (S. 538f.).
EWR 5 (2006), Nr. 6 (November/Dezember)
Enttäuschte Hoffnungen
Reflektierte Selbstkommentierungen von Schülern in der Wende
(Kindheiten, Bd. 28)
(Kindheiten, Bd. 28)
Weinheim, München: Juventa 2006
(270 S.; ISBN 3-7799-0248-6; 28,00 EUR)
Petra Gruner (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Petra Gruner: Rezension von: Kirchhöfer, Dieter: Enttäuschte Hoffnungen, Reflektierte Selbstkommentierungen von Schülern in der Wende (Kindheiten, Bd. 28). Weinheim, München: Juventa 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77990248.html
Petra Gruner: Rezension von: Kirchhöfer, Dieter: Enttäuschte Hoffnungen, Reflektierte Selbstkommentierungen von Schülern in der Wende (Kindheiten, Bd. 28). Weinheim, München: Juventa 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/77990248.html