Diese Rezension bespricht die beiden im März 2006 unter dem Titel Schulpädagogische Forschung erschienenen Bände, die von den ehemaligen Vorsitzenden der Sektion Schulforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) Michael Schratz und Sybille Rahm sowie ihrer wissenschaftlichen Assistentin Ingelore Mammes herausgegeben wurden.
Während der erste Band insgesamt 12 Beiträge bündelt, die mit dem Untertitel Unterrichtsforschung zusammengefasst werden, ordnen die Herausgeber die 13 Beiträge des zweiten Bandes dem weit gefassten Untertitel Organisations- und Bildungsprozessforschung zu.
Beide Bände verfolgen das Ziel, auf breiter Basis innovative methodische Ansätze schulpädagogischer Forschung vorzustellen sowie deren Chancen und Grenzen zu diskutieren. Insgesamt wird diese neue methodologische Vielfalt als Beleg dafür gedeutet, dass es der neuen Schulforschung gelungen ist, das klassische Positionierungsdilemma der Schulforschung innerhalb der Erziehungswissenschaft zwischen der geisteswissenschaftlichen, kritisch-hermeneutischen Tradition und der empirischen, pädagogisch-psychologischen Forschung zu überwinden. So gehen die Herausgeber davon aus, dass die ´neue´ Schulforschung „unter Berücksichtigung disziplinergänzender Perspektiven“ (7) auf Kooperation und die bündige Suche nach dem [setzt], was im methodischen Sektor Erfolg verspricht“ (7). Dabei stellen die Herausgeber klar heraus, dass das „apostrophierte neue Selbstbild der Disziplin“ (8) sowohl die vordrängende empirische Bildungsforschung und die geförderten großen Forschergruppen einbezieht als auch einen Ort vorsieht „an dem kleinere pfiffige Forschungsdesigns [,die den forschungspraktischen Standards etablierter wissenschaftlicher Fördergesellschaften derzeit möglicherweise nicht genügen] entwickelt werden können“ (8, Hervorhebung GiB).
Vor dem Hintergrund dieses neuen Selbstbildes der Schulpädagogik stellen die in beiden Bänden präsentierten Beiträge nicht etwa wie bei Artikeln in einschlägigen erziehungswissenschaftlichen Zeitschriften ein durchgeführtes Forschungsprojekt und seine Ergebnisse inhaltlich in den Mittelpunkt, sondern explizit das Untersuchungsdesign sowie den Innovationsaspekt der im Beitrag vorgestellten Forschungsmethode. Dieser forschungsmethodische Innovationsaspekt gestaltet sich in den aufgenommenen Beiträgen im Rahmen
methodischer Triangulation diverser qualitativer und quantitativer Verfahren,
in der Multiperspektivität der Erhebungsinstrumente mit der Betonung, dass alle an den Bildungsprozessen beteiligten Personengruppen – vor allem aber auch die SchülerInnen – als Experten in einem umfassenden Untersuchungsdesign zu berücksichtigen sind, wenn die Komplexität schulischer Bildungsprozesse erfasst werden soll,
der Wiederentdeckung bzw. Weiterentwicklung klassischer Erhebungsverfahren der Schulforschung (z.B. videobasierte Unterrichtsforschung, Fragebogenerhebungen, pädagogische Tatsachenforschung, erwägungsorientierte Evaluation, objektive Hermeneutik, Telefoninterviews, Narration) sowie
der Nutzbarmachung konventioneller Untersuchungsverfahren anderer Disziplinen für die Schulforschung, da sie als geeignet eingeschätzt werden, Prozesse der Qualitätsentwicklung im Bildungsbereich adäquat zu erfassen bzw. zu analysieren (z. B. gesprächsanalytische Untersuchung in der interpretativen Unterrichtsforschung, computergestützte qualitative Methoden, visuelle Zugänge, Aufgabenanalyse, Gruppendiskussionsverfahren, dokumentarische Methode, Dilemmainterviews ).
Nachfolgend soll die Strategie dieser Publikation einerseits am Beispiel einer in Band 1 zur Unterrichtsforschung zentralen Methode – der Videographie – sowie andererseits am Beispiel von zwei Forschungsdesigns im Kontext der Organisations-und Bildungsprozessforschung exemplarisch verdeutlicht werden:
Die Videographie gewinnt in der empirischen Unterrichtsforschung in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung. Sie gilt trotz eines vergleichsweise hohen technischen Aufwandes bei der Aufnahme als besonders geeignetes Untersuchungsverfahren, um Lehr-, Lernprozesse, Unterrichtsinteraktionen und -kommunikationen zu erfassen. Diese Vielfältigkeit sowie der hohe Nutzen für die schulpädagogische Forschung werden auf einer spezifischen Ebene in den Beiträgen von Karin Bräu in einem Forschungsprojekt, welches mittels Videographie von Unterrichtseinzelgesprächen zwischen Lehrern und Schülern auf Handlungsstrategien und Kommunikationsmuster bei der Betreuung individualisierten Lernens schließt, sowie im Aufsatz von Dietlind Fischer behandelt, deren Ziel es ist, mittels Videographie im Religionsunterricht des vierten Jahrgangs basale didaktische Konzeptionen der Lehrer zu erfassen und anhand einer sequentiellen Mikroanalyse einzelner Unterrichtsszenen zu überprüfen, ob sich Hinweise auf kognitiv aktivierende, die SchülerInnen unterstützende und motivierende Aufgaben herausfiltern lassen.
Auf einer vergleichsweise allgemeineren Ebene befasst sich erstens der Beitrag von Isabelle Hugener, Katrin Rakoczy, Christine Pauli & Kurt Reusser, der nach verschiedenen Methoden der Videoanalyse sucht, um einen möglichst differenzierten Blick auf komplexe Lehr- und Lernprozesse zu gewinnen. Aus dem Kontext einer schweizerisch-deutschen Studie stellen die Autoren zwei Verfahren vor – ein niedrig inferentes Codieren zur Identifikation von Sequenzen verschiedener Unterrichtsprozesse sowie ein hoch inferentes Qualitätsrating zur Beurteilung der Qualität unterrichtlicher Prozesse – und kommen in einer differenzierten Diskussion zur Anwendung unterschiedlicher Beobachtungs- und Analyseverfahren zu dem Ergebnis, dass beide Verfahren sich gegenseitig in überzeigender Weise ergänzen und daher komplementär einzusetzen sind.
Schließlich schildern Christiane Müller, Dana Eichler und Sigrid Blömeke die Chancen und Grenzen von Videostudien in der Unterrichtsforschung. Konkret beziehen sie sich auf ein Forschungsprojekt, das darauf abzielt, Unterrichtsskripts von Lehrenden beim Einsatz neuer Medien in den Fächern Deutsch, Informatik und Mathematik zu rekonstruieren, Bedingungsfaktoren solcher Skripts zu analysieren und gegebenenfalls auf Zusammenhänge von Skripts und Expertisegrad zu schließen. Vor diesem Kontext resümieren die Autoren einen bedeutsamen Nutzen videographischer Studien unter der Voraussetzung, dass deren Grenzen (z.B. Kameraeffekt, technisches Know-How, personeller und finanzieller Aufwand, rein theorie- bzw. empiriegeleitetes Vorgehen, Beobachtungsverfahren) ständig kritisch reflektiert werden.
Die Beiträge des zweiten Bandes lassen sich im Gegensatz zu Band 1 primär einer Meso- bzw. Makroebene der Organisations- und Bildungsprozessforschung zuordnen. Vor diesem Hintergrund diskutiert Martin Heinrich beispielsweise den Einsatz von Dilemmainterviews in der Schulentwicklungsforschung. Ausgangspunkt ist für Heinrich die Feststellung, dass die Widersprüchlichkeit schulischer Realität als strukturelle Bedingung von LehrerInnenarbeit schon seit längerer Zeit als Ausgangspunkt für Schulentwicklung begriffen wird (vgl. 83). Dementsprechend könnte das Sichtbarmachen der verborgenen Widersprüche und Spannungsverhältnisse der LehrerInnenarbeit im Kontext der Schulentwicklung die Bewältigung entsprechend komplexer Situationen erleichtern. Sein Ziel ist es, in diesem Beitrag zu überprüfen, inwiefern Dilemmainterviews als Instrument zum Sichtbarmachen dieser widersprüchlichen Realität sinnvoll beitragen können. Den besonderen Vorteil des Dilemmainterviews im Gegensatz zu anderen Interview-Verfahren sieht Heinrich darin, durch das vorgelegte Dilemmaszenario gleich zu Beginn eine (enge) thematische Rahmung bei nachfolgend größtmöglichem Urteils- Einschätzungsfreiraum zu schaffen. Die theoretischen Grundlagen, den konkreten Einsatz sowie die möglichen Fallstricke dieser Methode erläutert Heinrich am Beispiel einer empirischen Untersuchung mit LehrerInnen.
Aus dem Zusammenhang eines Projektes, das die Erfassung des Umgangs bundesdeutscher Bildungsministerien mit den Ergebnissen der PISA-Studien zum Ziel hat, schildern Daniel Kneuper & Isa Nessel von der Herausforderung, enorme Datenmengen zu analysieren. Das Projektdesign sieht neben einer Interviewstudie mit Ministerialbeamten und bildungspolitischen Experten insbesondere die Analyse von ministeriumsinternen und öffentlichen Dokumenten sowie der jeweiligen Landespresse vor. Die Autoren beschreiben nachfolgend das Vorgehen bei der computergestützten Inhaltsanalyse dieser enormen Datenmengen. In einem aufwendigen Verfahren wurde so ein schulpolitisches Thesaurus erstellt, das sowohl eine quantitative als auch eine qualitative Inhaltsanalyse der Pressedaten ermöglichte. In einer kritischen Einordnung des Verfahrens weisen die Autoren einerseits auf den Ertrag dieser Strategie, andererseits jedoch auch auf die methodischen Schwächen einer solchen Vorgehensweise hin. Damit bieten die Autoren dem Leser eine gute Einschätzungsgrundlage, ob diese methodische Anlage für ein eigenes geplantes Projekt in Frage kommt.
Abschließend stellt sich nun die Frage, ob die Publikationen ihren eigenen, oben dargelegten Ansprüchen gerecht werden. Ich möchte diese Frage mit kleinen Einschränkungen positiv beantworten. Die Beiträge beider Bänder bieten dem erfahrenen Leser, der sich über die Bandbreite schulpädagogischer Forschungsansätze sowie deren innovative Weiterentwicklungen informieren möchte, insgesamt eine Orientierungshilfe bzw. eine Inspirationsquelle für methodische Untersuchungsdesigns in eigenen (kleineren) Forschungsprojekten. Mit Blick auf die Beantragung größerer Forschungsprojekte bei etablierten Forschungsgesellschaften erscheint mir auch weiterhin der Blick in die methodologischen Standardwerke unerlässlich.
Mit Blick auf die Anordnung der Beiträge in diesen beiden Bänden kann festgehalten werden, dass eine den Leser unterstützende Systematik leider fehlt. So bleibt für die Rezensentin unklar, warum drei der vier Beiträge, die sich mit Videographie beschäftigen, hintereinander, der Beitrag von Müller, Eichler und Blömeke jedoch deutlich weiter hinten angeordnet wurden. Die Beiträge scheinen somit insgesamt wahllos aneinander gereiht und ohne Zwischenbezüge, die teilweise auftauchende Redundanzen in Beiträgen zu ähnlichen Themen (z.B. Herausforderungen beim Transfer von Methoden in die Kindheits- bzw. Kinderforschung) hätten verhindern können – sofern dies in einer Übersichtspublikation wie dieser gewünscht wird.
Trotz fehlender Systematik bei der Anordnung der Beiträge trägt eine gelungene inhaltliche Kurzzusammenfassung der Beiträge zu Beginn beider Bände durch die Herausgeber zur Erhöhung der Leserfreundlichkeit und Zugänglichkeit der Publikation bei.
Insgesamt richtet sich die Publikation damit an alle im Bereich der Schulpädagogik Forschenden, die bereits über methodologisches Grundlagenwissen verfügen. Da die in den Beiträgen vorgestellten Forschungsmethoden nicht (immer) grundlegend erläutert werden, sondern in der Regel auf Standardwerke, wie z.B. Bohnsack [1] oder Mayring [2] verwiesen wird, handelt es sich nicht um methodologische Einführungstexte. Vielmehr scheint der besondere Mehrwert dieser beiden Bände für schulpädagogische Forscher in einer Orientierungs- bzw. Inspirationshilfe auf der Suche nach geeigneten methodischen Ansätzen für ein geplantes Forschungsprojekt zu sein.
[1] Bohnsack, R. (2003): Rekonstruktive Sozialforschung. EinfĂĽhrung in qualitative Methoden. (5.Aufl.) Opladen: Leske + Budrich.
[2] Mayring, P.(2002): EinfĂĽhrung in Qualitative Sozialforschung. Weinheim/ Basel: Beltz.
EWR 5 (2006), Nr. 5 (September/Oktober 2006)
Schulpädagogische Forschung
Schulpädagogische Forschung. Unterrichtsforschung
Perspektiven innovativer Ansätze. Band 1
Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag 2006
(189 S.; ISBN 3-7065-4259-5; 19,90 EUR)
Schulpädagogische Forschung. Organisations- und Bildungsprozessforschung
Perspektiven innovativer Ansätze. Band 2
Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag 2006
(195 S.; ISBN 3-7065-4260-9; 19,90 EUR)
Grit im Brahm (Bochum)
Zur Zitierweise der Rezension:
Grit im Brahm: Rezension von: Rahm, Sybille / Mammes, Ingelore / Schratz, Michael (Hg.): Schulpädagogische Forschung. Unterrichtsforschung, Perspektiven innovativer Ansätze. Band 1. Innsbruck, Wien, Bozen: Studien Verlag 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/70654259.html
Grit im Brahm: Rezension von: Rahm, Sybille / Mammes, Ingelore / Schratz, Michael (Hg.): Schulpädagogische Forschung. Unterrichtsforschung, Perspektiven innovativer Ansätze. Band 1. Innsbruck, Wien, Bozen: Studien Verlag 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/70654259.html