EWR 7 (2008), Nr. 1 (Januar/Februar)

Fritz Bauer Institut, Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hrsg.)
Neue Judenfeindschaft?
Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus
(Jahrbuch 2006 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust)
Frankfurt a.M.: Campus 2006
(377 S.; ISBN 3-593-38183-4; 29,90 EUR)
Neue Judenfeindschaft? Die gestiegene öffentliche Präsenz antisemitischer Argumentationsfiguren, die das geschichtspolitische Selbstverständnis Deutschlands in jüngster Zeit häufig irritiert hat, macht auch vor den Klassenzimmern nicht halt. In historisch-politischen Erziehungskontexten trifft das Irritationspotential dieser „neuen Judenfeindschaft“ auf einen besonders sensiblen Resonanzboden. Dies macht bereits ein kursorischer Blick auf die Beiträge des vom Fritz Bauer Instituts und der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank herausgegebenen Sammelbandes deutlich. Wenn Pädagogen berichten, dass Schüler Hitlers Mein Kampf zur vornehmlichen Freizeitlektüre erklären oder eine in guter pädagogischer Absicht begonnene Lehreinheit über das Thema Antisemitismus in einem Streit zwischen Schülern endet, der von antisemitischen Stereotypen getragen wird, dann wird der Problemdruck und Reflexionsbedarf der historisch-politischen Erziehung offenkundig. Mit dem Überschreiten der in Politik und Öffentlichkeit akzeptierten Redeweisen über die NS-Geschichte, Juden oder den Staat Israel steht auch die zentrale Zielsetzung einer „Erziehung nach Auschwitz“, nämlich Mündigkeit, auf dem Prüfstand. Insbesondere jugendliche Migranten mit muslimischem Hintergrund werden als Problemgruppe dieser Grenzüberschreitungen ausgemacht. Dies wiederum fügt sich in das populäre Bild, in dem das Erstarken des Antisemitismus vor allem als Ausdruck eines gestiegenen öffentlichen Einflusses islamistischer Ideologien gedeutet wird.

Auf diesen Problemhorizont reagiert der vorliegende Band mit dem Ziel, einen „Zwischenstand der Diskussionen und konzeptionelle[…] Entwicklungen unter engagierten Pädagogen zu dokumentieren“ (11). Die Herausgeber sind keineswegs Unbekannte auf dem Feld der Erinnerungspädagogik. Bereits der 2000 vorgelegte Sammelband „Erziehung nach Auschwitz“ in der multikulturellen Gesellschaft (Lieberz-Groß/Fechler/Kößler) griff eine bis dahin nicht systematisch reflektierte Problemstellung der Erinnerungspädagogik auf. Mit dem jetzigen Band schließen die Herausgeber an diese Diskussion an und rücken mit dem Thema „Antisemitismus“ eine neue politische wie pädagogische Herausforderung ins Zentrum der Auseinandersetzung. In der Summe liefern die Beiträge facettenreiches Reflexions- und Orientierungswissen für Pädagogen der historisch-politischen Bildungsarbeit. Trotz seiner pädagogischen Schwerpunktsetzung bietet der Band aber auch dem pädagogischen Laien und dem (geschichts-)politisch interessierten Leser einen informativen Einblick in die erinnerungspolitische Gesamtproblematik Deutschlands.

Das als Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts erschienene Buch ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil mit sozialwissenschaftlichen, pädagogischen und programmatischen „Hintergrundbeiträgen“ zielt dem Anspruch nach darauf ab, „den Kontext aktueller pädagogischer Arbeit gegen Antisemitismus auszuleuchten“ (16). Im zweiten Teil, der den Titel „Praxisberichte und Reflexionen“ trägt, werden neben einer sehr aufschlussreichen Schilderung einer Schulstunde (Rosa Fava) – von der noch zu berichten sein wird – pädagogische Einrichtungen und Initiativen der auĂźerschulischen Jugendbildung vorgestellt, die zum Thema Antisemitismus arbeiten: die Jugendbegegnungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main (Sabine Diederich/Christa Kaletsch), das Projekt „BildungsBausteine gegen Antisemitismus“ des Bildungsteams Brandenburg e.V. (Peter Wagenknecht), das Projekt „Israeli Short Questionnaire“/ „I Ask You“ (ISQ) des Bundesverbandes jĂĽdischer Studierender (BJSD) (Irina Rosensaft/Georg Chernyak), die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz (Elke Gryglewski), das NS-Dokumentationszentrum Köln (EL-DE-Haus) (Doğan Akhanli), die Aktion SĂĽhnezeichen Friedensdienste (ASF) (Ulla Kux), das gewerkschaftliche Bildungsmaterial „Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit“ (Julika BĂĽrgin/Tanja von Fransecky) sowie die Amadeu Antonio Stiftung (Heike Radvan).

Insgesamt wird der Band seinen selbstgesteckten Zielen über weite Strecken gerecht, weist aber auch einige konzeptionelle Schwachstellen auf. Während der Titel „Praxisberichte und Reflexionen“ das Spektrum der Beiträge des zweiten Teils relativ gut abbildet, lässt sich dies für den ersten Teil leider nicht behaupten. Auch nach der Lektüre der Einleitung ist bei der Auswahl und Anordnung der für sich jeweils lesenswerten Beiträge kein innerer Zusammenhang erkennbar. Gerade die Bandbreite der Reflexionsebenen, hätte eine differenzierte Systematisierung der Beiträge aber verdient gehabt und wäre als Lesehilfe allemal sinnvoll gewesen. Die einzelnen Beiträge unter dem allgemeinen Label „Hintergrundbeiträge“ zu rubrizieren ist hingegen irreführend. Exemplarisch zeigt sich diese Schwäche an einem „Interview mit Aycan Demirel über die Arbeit der ‚Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus’“. Der Beitrag hätte sich inhaltlich gut in die „Praxisberichte und Reflexionen“ des zweiten Teils eingefügt, wird überraschender Weise aber dem ersten Teil zugeordnet.

Diese konzeptionelle Schwäche mindert den sachlichen Gehalt der einzelnen Beiträge aber keineswegs. Aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive lassen sich im ersten Teil mindestens drei Reflexionsebenen unterscheiden: erstens eine sozialwissenschaftliche Ebene, auf der der politisch-öffentliche Diskurs zum Thema Antisemitismus ausgeleuchtet (Werner Bergmann, Holger Oppenhäuser) und nach den Identitätskonstruktionen vor allem jugendlicher Migranten gefragt wird (Barbara Schäuble/Albert Scherr, Nikola Tietze); zweitens eine pädagogische Reflexionsebene, auf der das professionelle Anforderungsprofil (Astrid Messerschmidt, Bernd Fechler) und die Tauglichkeit von Schulbüchern (Gottfried Kößler) für das Arbeitsfeld zum Thema Nationalsozialismus und Antisemitismus diskutiert wird; drittens schließlich eine pädagogisch-programmatische Ebene, auf der aktuelle Lernziele formuliert und konkretes Handlungs- und Orientierungswissen (Monique Eckmann, Barbara Schäuble/Hanne Thoma) angeboten wird.

Um einen detaillierteren Eindruck vom inhaltlichen Gesamtprofil des Bandes zu bekommen, bietet es sich an, einige Beiträge exemplarisch vorzustellen: Werner Bergmann rekonstruiert die „Erscheinungsformen des Antisemitismus in Deutschland heute“ und befindet, dass es sich hierbei keineswegs um einen „strukturell neuartigen Antisemitismus“ (35) handelt. Bergmann argumentiert, dass die vorgefundene antisemitische Rhetorik alten Mustern folge, die jedoch unter den Bedingungen der Globalisierung anders gelagerte Motive und Thematisierungsanlässe finde. Diese erschöpfen sich nicht mehr nur im bereits in den 1950er Jahren von Theodor W. Adorno ausgemachten „Schuldabwehr-Antisemitismus“ der deutschen Vergangenheitsbewältigung (43). Im Kontext des 11. Septembers und des Nahostkonflikts formieren sich im Spektrum linker, rechter und islamistischer Ideologien neue politische Gelegenheitsstrukturen, in der antisemitische Stereotype mit antiamerikanischer, antizionistischer, antikapitalistischer oder antiimperialistischer Grundierung aufscheinen.

Holger Oppenhäuser analysiert am Beispiel einer Rede des NPD-Vorsitzenden Voigt und der Ansprache des ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Hohmann die Spielart des Antisemitismus der (extremen) Rechten in Deutschland. Die Analyse bildet eine wichtige Ergänzung zum Beitrag von Bergmann. Sie verdeutlicht den öffentlichen Einfluss von antisemitischen Argumentationsfiguren der politischen Rechten, der durch die Diskussion um die „neuen“ Ausdrucksformen des Antisemitismus an Aufmerksamkeit verloren hat. Beide Beiträge liefern der historisch-politischen Erziehung wichtiges Reflexionswissen über ihren diskursiven Kontext. Diesen Kontext, der ihr vorausgesetzt ist, kann die historisch-politische Bildung nicht beeinflussen. Er beeinflusst hingegen sie, weil die verschiedenen antisemitischen Argumentationsfiguren – vermittelt über die Schüler – in den Unterricht hineingetragen werden.

Wie die von den Schülern vorgetragenen Positionen gedeutet werden können, darüber geben die Interviewinterpretationen von Barbara Schäuble/Albert Scherr und Nikola Tietze Auskunft. Die Befunde zeichnen – wie es von qualitativer Sozialforschung nicht anders zu erwarten ist – ein differenziertes, aber auch uneindeutiges Bild von den Bezügen, die die befragten Jugendlichen zum Thema Antisemitismus herstellen. Ungeachtet von Differenzen im Einzelnen verdeutlichen beide Beiträge, dass antisemitische Stereotype im Deutungshaushalt der Befragten zwar unübersehbar sind, dass diese jedoch keinesfalls in einem festen ideologischen Weltbild aufgehen. Oft, so die Befunde, diene der Rückgriff auf diese Stereotype der Selbstverortung in und Abgrenzung zur der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Damit wird der provokative Gehalt solcher Positionen zwar nicht geschmälert; er erscheint aber in einem weniger bzw. anders dramatischen Licht, wenn er, wie von den Autorinnen vorgeschlagen, als ein Ruf nach Anerkennung gedeutet wird, der letztlich auf die soziale, rechtliche und bildungsbezogene Benachteilung jugendlicher Migranten in Deutschland verweist.

Das Argument der Anerkennung bildet auch einen Bezugspunkt der Beiträge von Astrid Messerschmidt und Bernd Fechler. Messerschmidt macht mit der theoretischen Figur der „Verstrickung“ auf die vielfachen Reflexionsdefizite von Pädagogen im Kontext des Themas „Antisemitismus“ aufmerksam. Ausgehend von einem kritischen Bildungsverständnis hebt sie die unhintergehbare Verwicklung der tätigen Pädagogen in einen partikularen (NS-Geschichte) und einen universellen Schuldzusammenhang (Kolonialgeschichte) hervor. Bleibe dieser in pädagogischen Kontexten unreflektiert, dann bestehe erstens die Gefahr, antisemitische und rassistische Ressentiments zu reproduzieren. Zweitens könnte eine auf Schuldabwehr basierende Moralisierung ablehnende Haltungen auf Seiten jugendlicher Migranten provozieren. Messerschmidt plädiert dafür, diese Verstrickungen in den Bildungsprozess zu integrieren: durch kritische Selbstreflexion und die pädagogische Einbeziehung der verschiedenen Identitätskonzepte der Schüler.

Fechlers Beitrag, der bereits an anderer Stelle veröffentlicht wurde, legt die handlungspraktischen Dilemmata historisch-politischer Erziehung frei, die er im Spannungsfeld einer auf Verstehen und Anerkennung setzenden Pädagogik einerseits und pädagogischer Interventionsnotwendigkeiten andererseits sieht. In diesem Beitrag klingt am deutlichsten ein zentrales strukturelles Problem der historisch-politischen Erziehung an, dessen systematische Reflexion der Band jedoch schuldig bleibt. Auch eine reflektierte Pädagogik der Anerkennung, welche um die eigenen Verstrickungen weiß und die antisemitischen Provokationen der Schüler sensibel zu deuten vermag, steht weiterhin vor der praktischen Herausforderung, erziehen zu müssen. Antisemitische Stereotype, rassistische Bemerkungen oder Verunglimpfungen von NS-Opfern können in pädagogischen Kontexten nicht unwidersprochen bleiben, auch wenn hinter ihnen keine gefestigte ideologische Gesinnung vermutet werden muss. Es muss folglich bewertet werden – und das nach Möglichkeit so, dass die Schüler nicht beschämt oder politisch einseitig beeinflusst werden. Die pädagogische Haltung der Anerkennung steht gerade bei der Behandlung eines Themas mit offenkundig nur geringem Pluralitätsspielraum vor der Gefahr, in politische und moralische Beliebigkeit abzudriften. Letztlich wiederholt sich an diesem Fall historisch-politischer Erziehung die kantische Grundparadoxie von Freiheit und Zwange. Immer geht es darum, Einfluss auf den Schüler zu nehmen, ohne dabei seine freie Selbstbestimmung zu beschneiden.

Wie schwer das Austarieren dieser Spannung praktisch sein kann, zeigt der bereits angesprochene Beitrag von Rosa Fava im zweiten Teil des Bandes. Der Versuch, den „Antisemitismusstreit“ um Jürgen Möllemann aus dem Jahre 2002 didaktisch für die Aufklärung antisemitischer Stereotype zu nutzen, erzeugt einen unerwarteten Konflikt zwischen einigen Schülern, in dem sich antisemitische Vorurteile offensichtlich verhärten. Die Pädagogin greift die wesentlichen pädagogischen Elemente, die den pädagogischen Tenor des Sammelbandes bilden, zur Planung ihrer Unterrichtseinheit zwar auf: keine Moralisierung, die Dekonstruktion antisemitischer Stereotype/Diskurse und einen moderierenden Lehrstil. Dennoch lädt sich die Situation moralisch in einer Weise auf, die für die Pädagogin letztlich nicht mehr angemessen bearbeitet werden kann.

Der Beitrag von Fava ist der einzige, in dem die Ungewissheit und Eigendynamik sichtbar wird, die pädagogische settings im Allgemeinen und zu moralischen Konfliktthemen im Besonderen auszeichnet. Ein systematischer Zugriff auf die paradoxalen Untiefen des prallen pädagogischen Lebens findet aber auch hier nicht statt. Insofern bleibt der Band seinem Anspruch treu: Er sorgt für breit angelegtes normatives Reflexions- und Orientierungswissen, gibt wichtige pädagogische Antworten, stellt aber kaum erziehungswissenschaftliche Fragen.
Wolfgang Meseth (Frankfurt a.M.)
Zur Zitierweise der Rezension:
Wolfgang Meseth: Rezension von: Frank, Fritz Bauer Institut, Jugendbegegnungsstätte Anne (Hg.): Neue Judenfeindschaft?, Perspektiven fĂĽr den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus (Jahrbuch 2006 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust). Frankfurt a.M.: Campus 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/59338183.html