Vom Einband schaut eine Frau, deren Alter sich schwer sagen lässt, vermutlich war sie jung. An einem schwarzen Samtband trägt sie ein großes mit Steinen besetztes goldenes Kreuz um den Hals. Unter einer feinen weißen Haube mit Spitzen blickt sie freundlich, wach, zurückhaltend. Ein Lächeln lässt sich ahnen, auch Selbstbewusstsein oder vielleicht eher Selbstgewissheit: als fromme Pietistin weiß Johanne Rosine Williardts, geb. Bengel (1720-1788), Tochter des wichtigsten pietistischen Theologen Württembergs, Johann Albrecht Bengel, dass sie zu den Kindern Gottes gehört und nicht zu den unbekehrten Weltmenschen, auch wenn sie in der bürgerlichen Welt Altwürttembergs fest in die „Ehrbarkeit“, in das Netz der Honoratiorenfamilien eingebunden ist, die die religiöse und bürgerliche Kultur des Landes maßgeblich prägten.
Dieses pietistische Bürgertum Altwürttembergs untersucht Ulrike Gleixner in ihrer Habilitationsschrift. Die Pietistin auf dem Titel ist kein Zufall: Gleixner schreibt aus einer geschlechtergeschichtlichen Perspektive. Die Studie liegt im Bereich der Bürgertums- und der Pietismusforschung, methodisch folgt sie der historischen Anthropologie. Was die Geschichte des Bürgertums angeht, zeigt Gleixner, um ein zentrales Ergebnis vorwegzunehmen, dass es nicht nur einen säkularen bürgerlichen, sondern auch einen frommen bürgerlichen Weg in die Moderne gab und dass dieser Weg von Männern und Frauen, pietistischen Bürgerinnen und Bürgern gleichermaßen gestaltet wurde. Damit stellt sie die gängige historiographische Sichtweise, in der Religion als ein vormodernes retardierendes Relikt gilt, in Frage.
Dass die Pietistinnen als Teil des Bürgertums verstanden werden, müsste eigentlich nicht erwähnt werden, wenn es in der am Staats- und männlichen Berufsbürger orientierten Bürgertumsgeschichte nicht die Ausnahme darstellen würde. Auch innerhalb der vorwiegend religions- und kirchengeschichtlich ausgerichteten Pietismusforschung markiert Gleixners Untersuchung eine vergleichsweise neue kultur- und geschlechtergeschichtliche Perspektive: die Geschichte des innerkirchlichen altwürttembergischen Pietismus wird hier nicht entlang der üblichen Traditionslinie von Männern mit ihren theologischen, beruflichen und sozialreformerischen Leistungen erzählt, sondern als die Geschichte einer sozialen Gruppe, die aus Männern, Frauen, Kindern und Heranwachsenden besteht.
Ins Zentrum ihrer Analyse stellt Gleixner die kulturelle Dimension von Religion und untersucht sie anhand von Frömmigkeitspraktiken, Lebensbewältigung, Subjektentwürfen, Gruppenkultur und Traditionsbildung des pietistischen Bürgertums. Den Schlüsselbegriff für diese Analyse der kulturellen Dimension des Pietismus stellt „Spiritualisierung“ dar. Darunter versteht Gleixner „den Prozess der vollständigen Durchdringung der Alltagslebens der Laienwelt mit einem religiösen Geist“ (25). Dieser äußert sich auch darin, individuelle religiöse Gefühle zu kultivieren und sich damit von jenen Nicht-Bekehrten abzusetzen, die das nicht taten; anders gesagt: sich als fromme Elite zu distinguieren. Insofern generiert die Spiritualisierung des Alltagslebens einen spezifisch pietistischen bürgerlichen Habitus, geprägt von bescheidener Lebensführung und innerweltlicher praxis pietatis, Arbeit am kommenden Reich Gottes. Einen Habitus, den die pietistischen Bürgerinnen als Mütter, Erzieherinnen der Kinder und Gefährtinnen ihrer Männer entscheidend mitprägen: Pietistische Frömmigkeit wurde vor allem familial gelebt. Spiritualisierung des Alltagslebens und Familiarisierung von Religion stellen, wie Gleixner zeigt, zwei Seiten der gleichen Medaille dar.
Gleixner nennt ihre Untersuchung „eine historische Anthropologie der Frömmigkeit“. Pietismus und Bürgertum erschließt sie in Absetzung von der an Großstrukturen orientierten Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, die in der deutschen Historiographie vorherrscht, historisch-anthropologisch. Clifford Geertz hat einmal gesagt, der Anthropologie gehe es darum, die Erfahrungen und Ideen anderer Leute im Kontext ihrer eigenen Ideen zu betrachten. Für die vorliegende Studie heißt das, dass Pietistinnen und Pietisten als historische Subjekte und Akteure mit ihren Wahrnehmungsweisen, Deutungen und Handlungsspielräumen untersucht werden: was sie, salopp gesagt, „machten“, ihre Praxen von Selbstthematisierung und Introspektion, von Kommunikation, von Vergesellschaftung, wie sie beispielsweise im Schreiben von Tagebüchern, in der regen Pflege von Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen, in der Bildung von Konventikeln zum Ausdruck kommen.
Zugleich geht es darum, was sie darüber „dachten“, welche Bedeutung diese Praxen für sie hatten, um den Sinnhorizont frommen Handelns. Gleixner fragt „einerseits nach der gestaltenden Kraft von Ideen, und in historisch-anthropologischer Absicht (sucht sie) andererseits nach der Praxis von Akteurinnen und Akteuren“ (14). Diese Praxis wird über das autobiographische und biographische Schreiben im pietistischen Bürgertum erschlossen, das Gleixner als Handeln versteht, ein Handeln im Spannungsfeld zwischen Individualisierung und Vergesellschaftung. Deutlich wird, dass es ein frommes Ich ist, das schreibend Kontur gewinnt und dass das fromme Schreiben als Teil und Medium der pietistischen Gruppenkultur zu sehen ist.
Die Studie basiert auf einer stupenden Fülle von Material. Zum einen sind das pastoraltheologische Texte der lutherisch-orthodoxen Erbauungsliteratur des 17. und der pietistischen des 18. Jahrhunderts, in denen sich die pietistische Reformfrömmigkeit artikuliert findet, zum anderen ist es das ausgesprochen breite Schrifttum des pietistischen Bürgertums, wie es in Tagebüchern, Tagebuchauslesen, Autobiographien, Lebensläufen, Korrespondenzen, handgeschriebenen religiösen Sammlungen, Letzte-Stunden-Berichten, Leichenpredigten, Lebensbeschreibungen und Biographien publiziert oder auch unpubliziert überliefert ist. Den württembergischen Pietistinnen und Pietisten war eine bemerkenswerte Schreibfreude oder, bedenkt man die häufig zu Papier gebrachten religiösen Selbstzweifel und -anklagen, auch Schreibwut eigen: es drängte sie, vor sich selbst und vor anderen Rechenschaft über ihren Glauben und das heißt letztlich über sich selbst abzulegen, aber im Dialog mit Gott ließen sich auch Trost und Entlastung in schwierigen Lebenslagen wie dem Tod eines Kindes oder ernster Krankheit finden.
Angelegt ist die Untersuchung in sechs großen Kapiteln. In ihrer brillanten Einleitung expliziert Gleixner ihren methodischen Ansatz sowie die Fragestellung und situiert sie knapp innerhalb der Forschungen zu Konfessionalisierung, Bürgertum und Familie, Pietismus sowie Frauen und innerkirchlichem Pietismus, um dann ihre Ausgangsbasis zu vertiefen, indem sie die Spezifika ihrer Untersuchungsgruppe, des württembergischen pietistischen Bürgertums, erläutert, daraufhin dessen Frömmigkeit als Lebenspraxis diskutiert, um schließlich ihre Untersuchung in die Individualismusdebatte einzuordnen und dabei auf die pietistische Subjektkonstitution sowie Familien- und Gruppenidentität einzugehen.
Im ersten Kapitel wird die pietistische Reformfrömmigkeit als Teil der Reform der praxis pietatis im 17. Jahrhundert, die vom orthodoxen Luthertum ausging und vom englischen Puritanismus vielfältige Impulse erfuhr, entfaltet. „Bausteine pietistischer Kultur“ heißt das zweite Kapitel. Hier wird die württembergische pietistische Frömmigkeit in ihren Spezifika (Wiedergeburtslehre, Chiliasmus, Erbauungsliteratur) beschrieben und gezeigt, dass durch eine intensive Kommunikations- und Freundschaftskultur in Erbauungsstunden, Korrespondenzen und Besuchen das pietistische Bürgertum als eine eigene Gruppe entstand, die, wie oben erwähnt, einen verbindlichen Habitus im Denken, Fühlen und Abgrenzen hervorbrachte und teilte.
Dass (auto)biographisches Schreiben eine ausgesprochen erfolgreiche Methode dieser Gruppenbildung darstellte, wird im dritten Kapitel „Pietistische bürgerliche Identität durch Schreiben und Lesen: Selbstdeutung, Zeugnis und Exempel“ herausgearbeitet. Wer autobiographisch schreibt im pietistischen Bürgertum, bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdkontrolle: das eigene Gewissen wird erforscht und zugleich vor der Gruppe Zeugnis abgelegt. So werden Mädchen und Jungen von früh auf zum Tagebuchschreiben angehalten, damit es ihnen zur Gewohnheit wird, sich selbst bzw. ihren Glaubensstand zu erforschen, aber genauso, ihren Tagesablauf zu protokollieren und Zeitökonomie einzuüben. Das Tagebuchschreiben ist eines der vielen Beispiele für die Spiritualisierung des Alltagslebens, an denen Gleixner zeigt, dass das pietistische Bürgertum wesentlich an der „Etablierung und Universalisierung bürgerlicher Werte in der ‚formativen Phase (1680-1815)’ des deutschen Bürgertums“ (403) beteiligt war.
Anhand unterschiedlicher biographischer und autobiographischer Genres wie Tagebuch, Leichenpredigt, Biographik des 19. Jahrhunderts zeigt Gleixner, wie pietistische bürgerliche Identität persönlich erschrieben und in beispielgebender Absicht für die eigene Gruppe beschrieben wird. Das gilt im württembergischen Pietismus für Männer und Frauen: auch Frauen konnten sich als „Ich“ denken. Dieses weibliche „Ich“ war so wenig autonom oder einmalig wie das männliche, darauf zielte autobiographisches Schreiben nicht, sondern vielmehr auf die individuelle Einpassung in die pietistische Gruppennorm. Das Spezifikum dieser Texte, innere Gefühlserfahrungen ausführlichst zu diskutieren, wird als Aktivität deutlich, in dem fromme Grundsätze individuell angeeignet und dokumentiert wurden. Dieses Kapitel, es ist auch das längste, stellt das Kernstück der Arbeit dar. Der historisch-anthropologische Ansatz – Gleixner versteht, wie oben schon gesagt, Schreiben als Handeln – kommt hier besonders prägnant zum Tragen.
Die nächsten drei Kapitel handeln von der pietistisch-bürgerlichen Geschlechterordnung in Theorie und Praxis. Grundlegend dafür ist der auf Spener zurückgehende pietistische Eheentwurf. Ehen mussten im – endogamen – pietistischen Bürgertum auf der gemeinsamen Religiosität basieren. Vor Gott waren Mann und Frau gleich und standen, das ist wichtig, in gegenseitiger Unterstützungspflicht. In geistlichen Dingen wurde von der Gleichheit der Geschlechter ausgegangen, womit Frauen, so Gleixner, ein Subjektstatus zuerkannt wurde, in weltlichen Dingen blieb die Geschlechterhierarchie aber unbenommen. Dieses Ehekonzept konnte zu inniger Verbundenheit der Gatten in Gott führen, zur Spiritualisierung der Ehe, aber genauso dazu, dass Ehekonflikte mit religiösen Argumenten ausgetragen wurden. Wie ehelicher Dissens als religiöser erlebt und thematisiert wird, rekonstruiert Gleixner für einen „Patriarchen“ und für eine „Widerspenstige“. Beate Paulus, geb. Hahn (1778-1842), wollte es nicht hinnehmen, dass ihr Mann, ein nicht-pietistischer Pfarrer, sein Einkommen und oft das von ihr mühsam durch eigene Bewirtschaftung des Pfarrhofes erworbene Geld für ein gutes Leben, vor allem guten Wein, ausgab, statt für die standesgemäße akademische Ausbildung der Söhne. Für sie zermürbend, aber letztlich erfolgreich ging sie auf Konfrontationskurs: als auserwählte Pietistin wusste sie sich gegenüber ihrem Mann, dem Weltmenschen, im Recht.
Diese Aufkündigung der ehelichen Gehorsamspflicht ist auf dem Hintergrund des engen Zusammenhangs von pietistischer Berufsethik und Chiliasmus zu sehen. Mutterschaft wird im Pietismus als der Beruf der Frau verstanden und gelebt, „die rastlose Mutterschaft, Schwangerschaft, Geburt und Kinderaufzucht“, so Gleixner, „ist für die wiedergeborene Pietistin das sichtbarste Zeugnis ihrer Arbeit für das Reich Gottes“ (401) und stellt damit im Deutungshorizont des pietistischen Bürgertums das Äquivalent zur erfolgreichen Berufsarbeit pietistischer Männer dar.
Frauen sind zuständig für Kinderaufzucht und Kleinkindererziehung, besonders die Frömmigkeitserziehung, für die Pflege von Wöchnerinnen und Kranken in den Familien, sie stehen der Hauswirtschaft vor, verwalten oft das gesamte Familieneinkommen. Zu den weiblichen Pflichten gehört es auch, „Gehülfin“ des Mannes zu sein. Mit ihrer Arbeit als Hausmutter stellt sie sicher, dass er seinen Amtsgeschäften nachgehen kann. Viele Pietistinnen nehmen darüber hinaus am intellektuellen Arbeitsprozess ihrer Mannes oder Vaters teil, etwa wenn sie Manuskripte abschreiben. Auch Frauen bezeichnen ihre Männer als „Gehülfen“ und legen damit die wechselseitige Unterstützungspflicht partnerschaftlich aus. Die eheliche Praxis bleibt allerdings davon bestimmt, dass das Konzept der Gehülfenschaft in erster Linie für Frauen gilt: die prinzipielle Asymmetrie bleibt und markiert die Grenze des Handlungsspielraums von Frauen im bürgerlichen Pietismus.
Im letzten Kapitel untersucht Gleixner das biographische Schreiben im pietistischen Bürgertum. Es entstand als familiale Erinnerungskultur, in der die Auserwähltheit der eigenen Familie belegt, Vorbilder installiert und Traditionen gestiftet wurden. Wie Gleixner anhand der Biographien von Charlotte Zell, geborene Heß (1815-1899), über ihre weiblichen Vorfahren zeigt, gab es auch pietistische Familiengeschichten aus weiblicher Perspektive. Im familialen Gedenken mochten solche Genealogien weiblicher Frömmigkeit und Auserwähltheit ihren Platz gehabt haben, in die mit dem 19. Jahrhundert entstehende gruppenorientierte und kirchengeschichtliche Traditionsbildung fanden sie aber keinen Eingang. Der historische Anteil von Frauen an der pietistischen Bewegung wurde sukzessive aus der Traditionsbildung ausgeklammert und büßte seine Geschichtswürdigkeit schließlich völlig ein. Die populäre Geschichtsschreibung des Pietismus konstruiert im 19. Jahrhundert fromme Helden, keine Heldinnen und findet ihre Fortsetzung in der patriotisch-regionalen, pietistischen Kirchengeschichtsgeschichtsschreibung, die den Pietismus als „Generationenfolge frommer Männer mit hervorragenden Leistungen“ (407) versteht, ein Vorverständnis, das, so Gleixner, bis heute die wissenschaftliche Erforschung des Pietismus bestimme. „Die vermeintliche Trennung zwischen familialer, populärer und wissenschaftlicher Geschichtsschreibung über den Pietismus,“ so Gleixners kritischer Schlusssatz an die Adresse der learned community, „ist von daher auch eine Illusion“ (407).
Dass sich jenseits dieser pietistischen Hagiographie großer Männer eine andere Geschichte des Pietismus rekonstruieren lässt, hat Ulrike Gleixner bewiesen. Sie hat gezeigt, dass es sich lohnt, die Geschichte von Bürgertum und Pietismus als Geschlechtergeschichte zu schreiben. Die Pointe dabei ist, dass in dieser Perspektive die Kontinuität zwischen Pietismus und Aufklärung, zwischen frommem und säkularen Bürgertum deutlich wird und damit der Anteil der Religion an der Ausgestaltung der Moderne.
EWR 5 (2006), Nr. 5 (September/Oktober 2006)
Pietismus und Bürgertum
Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Württemberg 17.-19. Jahrhundert
(Bürgertum Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft. Bd. 2)
(Bürgertum Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft. Bd. 2)
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005
(464 S.; ISBN 3-525-36841-0; 54,00 EUR)
Pia Schmid (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Pia Schmid: Rezension von: Gleixner, Ulrike: Pietismus und Bürgertum, Eine historische Anthrpologie der Frömmigkeit. Württemberg 17.-19. Jahrhundert (Bürgertum Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft. Bd. 2). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/52536841.html
Pia Schmid: Rezension von: Gleixner, Ulrike: Pietismus und Bürgertum, Eine historische Anthrpologie der Frömmigkeit. Württemberg 17.-19. Jahrhundert (Bürgertum Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft. Bd. 2). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/52536841.html