EWR 5 (2006), Nr. 5 (September/Oktober 2006)

Die Berliner UniversitÀt in der NS-Zeit

Christoph Jahr (Hrsg.)
Die Berliner UniversitÀt in der NS-Zeit
Band 1: Strukturen und Personen
(unter Mitarbeit von Rebecca Schaarschmidt)
Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005
(257 S.; ISBN 3-515-08657-9; 23,00 EUR)
RĂŒdiger vom Bruch (Hrsg.)
Die Berliner UniversitÀt in der NS-Zeit
Band 2: Fachbereiche und FakultÀten
(unter Mitarbeit von Rebecca Schaarschmidt)
Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005
(308 S.; ISBN 3-515-08658-7; 23,00 EUR)
Die Berliner UniversitĂ€t in der NS-Zeit Die Berliner UniversitĂ€t in der NS-Zeit In der UniversitĂ€tsgeschichte wird das Augenmerk in den letzten Jahren verstĂ€rkt auf die Zeit des Nationalsozialismus gerichtet. Die interdisziplinĂ€re Auseinandersetzung mit den zwölf Jahren zwischen 1933 und 1945 wird durch mehrere Publikationen dokumentiert [1]. Oft sind JubilĂ€en der UniversitĂ€tsgrĂŒndungen der Anlass fĂŒr die Aufarbeitung der Wissenschaftsgeschichte in der NS-Zeit. Im Rahmen der Vorbereitung solcher „Jubelfeiern“ stellt sich dann natĂŒrlich die Frage nach der eigenen Vergangenheit sowie nach der Rolle der UniversitĂ€ten im NS-Staat, nach Möglichkeiten und Formen des Erinnerns und des Gedenkens an die Opfer.

Die hier zu besprechenden BĂ€nde zur Berliner UniversitĂ€t in der NS-Zeit stehen im Kontext der Zweihundertjahrfeier der Humboldt-UniversitĂ€t und basieren auf einer dreisemestrigen Ringvorlesung vom Sommersemester 2003 bis zum Sommersemester 2004. Die Grundlage bildet ein Beschluss des Akademischen Senats zur Einrichtung einer Arbeitsgruppe, die vor dem Hintergrund des 60. Jahrestages des ‚Generalplan Ost‘ „VorschlĂ€ge fĂŒr den öffentlichen Umgang mit Verstrickungen dieser UniversitĂ€t in die NS-Vernichtungspolitik erarbeiten“ sollte (I, 7) [2]. Die Konzeption der BĂ€nde geht dann allerdings weit ĂŒber den konkreten Anlass hinaus, der „Generalplan Ost“ spielt eine eher untergeordnete Rolle. Vor dem Hintergrund der sich aufzeigenden Desiderate formuliert RĂŒdiger vom Bruch in seinem Beitrag „Die Berliner UniversitĂ€t 1933-1945 in der Erinnerungskultur nach 1945“ die Aufgabe umfassend: „Gerade die heutige Humboldt-UniversitĂ€t steht im Schatten der NS-Zeit, und die Jubelfeier 2010 wĂ€re ohne kritische historische AufklĂ€rung verlogen“ (I, 234). So wird in den beiden BĂ€nden ein weiter thematischer Bogen gespannt (auch wenn leider nicht alle FĂ€cher berĂŒcksichtigt werden konnten), bei dem – angesichts kaum vorhandener „wissenschaftlich solider Vorarbeiten“ (I, 7) – grundlegende Quellenstudien erforderlich waren.

Die zwei BĂ€nde sind inhaltlich wie folgt unterteilt: Band I ist den „Strukturen und Personen“ und Band II den „Fachbereichen und FakultĂ€ten“ gewidmet. Die thematische Aufteilung der BĂ€nde erweist sich als nicht sehr trennscharf, da im zweiten Band auch vor allem Strukturen und Personen im Zentrum des Forschungsinteresses stehen. Auf diese Problematik macht Christoph Jahr in der Einleitung des ersten Bandes aufmerksam und empfiehlt die zwei BĂ€nde in der LektĂŒre wechselseitig aufeinander zu beziehen (I, 9).

Der erste Band umfasst nach der Einleitung von Jahr 14 BeitrĂ€ge. Die inhaltliche Klammer sieht Jahr in dem „VerhĂ€ltnis von institutionellen sowie personellen BrĂŒchen und KontinuitĂ€ten nach 1933“ (I, 10). Dabei liege der Schwerpunkt auf dem „WechselverhĂ€ltnis von Wissenschaft und Politik“ als „Ressourcen fĂŒr einander“ (Ash) sowie auf den daraus folgenden Konsequenzen fĂŒr Forschung und Lehre (ebd.). Die Frage, ob die Berliner UniversitĂ€t im Nationalsozialismus auch eine nationalsozialistische UniversitĂ€t war, stellt fĂŒr Jahr die Leitfrage dar. Der zweite Band umfasst 16 BeitrĂ€ge und wird durch RĂŒdiger vom Bruch eingeleitet. Er stellt den zweiten Band unter die zentrale Frage „Wie verĂ€nderte sich in der Kombination von NS-Ideologie, zentralistischer Hochschulpolitik und Generationenwechsel das wissenschaftliche Profil der Berliner UniversitĂ€t?“ (II, 10).

Die einzelnen BeitrĂ€ge der beiden BĂ€nde sind stark geprĂ€gt von der Aufarbeitung der Fakten, von biographischen Daten und strukturgeschichtlichen Rekonstruktionen. Im Ergebnis der Analysen zeigen sich verschiedene Verhaltensmöglichkeiten und strukturelle Entwicklungen, die in sich anschließenden Untersuchungen einer weiteren Systematisierung und Theoriebildung bedĂŒrfen. Im Anschluss an die Aufarbeitung der Quellen werden erste ErklĂ€rungsansĂ€tze vorgelegt, so z.B. mit der Systematisierung der Neuberufungen an der Medizinischen FakultĂ€t zwischen 1933 und 1935 (Hess I, 37-48), mit der Erarbeitung von Karrieremodellen Berliner Wissenschaftler im „Osteinsatz“ 1939-1945 (Loose I, 49-70) oder einer Verhaltenstypologie der Agrarökonomen an der Berliner UniversitĂ€t (RĂŒckl/Noack II, 84-91). Die Autoren sind sich der Problematik dieser Typologien bewusst, hier bietet sich zur weiteren Differenzierung eine kollektivbiographische Kontextualisierung an [3].

In den Untersuchungen wird deutlich, dass die „wissenschaftlichen“ Anbiederungsversuche viele Gesichter hatten und einzelne Wissenschaftler bei der „Selbstindienstnahme fĂŒr die Ziele des Dritten Reiches“ (Schleiermacher I, 72) keine Grenzen kannten. Dies zeigt sich z.B. bei der „wissenschaftlichen“ Untersuchung von Zwangssterilisationen (vgl. Brill II, S. 234), dem „vorauseilenden Gehorsam“ von Hilfsschullehrern (ebd., 235-238), den Legitimationsversuchen des Eroberungskrieges (vgl. fĂŒr die Geomedizin Schleiermacher II, 31; die Kunstgeschichte Arend II, 195; die Agrarökonomie RĂŒckl/ Noack II, 84-86; die Germanistik Höppner II, 265) oder bei den Bestrebungen zur Vermittlung des „Àußeren Erscheinungsbildes“ der „Rassetypen“ im Unterricht der Blindenschule (vgl. Brill I, 96f.). Aber auch in dem Balanceakt, Schlimmeres zu verhĂŒten, bestand die Gefahr, „selbst Teil des Schlimmen“ zu werden, gibt Thomas Beddies mit Blick auf den Psychiater Karl Bonhoeffer zu bedenken (II, 61).

Bei alledem stellt sich die Frage nach den Merkmalen, mit denen die jeweilige Fachwissenschaft als nationalsozialistische Wissenschaft gekennzeichnet werden kann (vgl. u.a. zur Geschichtswissenschaft Oberkrone II, 130; zur Philosophie Mehring II, 204). In der PĂ€dagogik wurde in den achtziger Jahren versucht, das Problem dadurch zu lösen, die nationalsozialistische PĂ€dagogik als „Un-PĂ€dagogik“ (Blankertz) zu kennzeichnen, was zu einer intensiven Kontroverse fĂŒhrte, ohne dass sich dieser Begriff durchsetzen konnte. Die Beantwortung dieser Fragestellung steht nach wie vor auf der Tagesordnung [4] und wird im zweiten Band zur Berliner UniversitĂ€t in der NS-Zeit von Klaus-Peter Horn aufgegriffen (II, 215-228). Horn vergleicht in seinem Beitrag zur Erziehungswissenschaft das Lehrangebot und die pĂ€dagogischen Denkformen Eduard Sprangers und Alfred Baeumlers im Spannungsfeld von PĂ€dagogik und Politik. An der Berliner UniversitĂ€t war im April 1933 im Bereich der PĂ€dagogik durch die Berufung Alfred Baeumlers auf den neu geschaffenen Lehrstuhl fĂŒr politische PĂ€dagogik und mit der GrĂŒndung des Instituts fĂŒr politische PĂ€dagogik eine Doppelstruktur geschaffen worden, die sich auch in der Lehre und der pĂ€dagogischen Theoriebildung dokumentiert. In Baeumlers Ablehnung einer autonomen PĂ€dagogik und der Absolutsetzung der Politik sieht Horn den entscheidenden Unterschied zu Spranger und ein Kennzeichen nationalsozialistischer Wissenschaft, auch wenn sich Spranger anfĂ€nglich von der nationalsozialistischen „Bewegung“ die Verwirklichung seiner „nationalen Vorstellungen“ versprochen hĂ€tte (II, 227f.).

Insgesamt bietet sich dem Leser in den zwei BĂ€nden ein erster Überblick zum Wandel des wissenschaftlichen Profils der Berliner UniversitĂ€t im Nationalsozialismus. In den einzelnen BeitrĂ€gen finden sich viele Anregungen fĂŒr weiterfĂŒhrende und vergleichende Untersuchungen. Gleichzeitig werden mit dieser ersten Bestandsaufnahme auch die Desiderate der UniversitĂ€tsgeschichtsschreibung deutlich. Hier erscheint es notwendig, die jeweilige Disziplingeschichte noch stĂ€rker einzubeziehen und die Ereignisse – auch unter BerĂŒcksichtigung der Entwicklung an anderen UniversitĂ€ten – einer weiteren theoretischen Deutung zu unterziehen.

[1] Vgl. u.a. Eberle, H. (2002): Die Martin-Luther-UniversitĂ€t in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945. Halle; Hoßfeld, U./ John, J./ Stutz, R. (Hrsg.) (2003): „KĂ€mpferische Wissenschaft.“ Studien zur UniversitĂ€t Jena im Nationalsozialismus. Köln u.a.; Hehl, U. v. (Hrsg.) (2005): Sachsens LandesuniversitĂ€t in Monarchie, Republik und Diktatur. BeitrĂ€ge zur Geschichte der UniversitĂ€t Leipzig vom Kaiserreich bis zur Auflösung des Landes Sachsen 1952 (=BeitrĂ€ge zur Leipziger UniversitĂ€ts- und Wissenschaftsgeschichte, Reihe A Band 3). Leipzig; Eckart, W. U./ Sellin, V./ Wolgast, E. (Hrsg.) (2006): Die UniversitĂ€t Heidelberg im Nationalsozialismus. Berlin.
[2] Vgl.: Abschließender Ergebnisbericht der Arbeitsgruppe „Die Berliner UniversitĂ€t unter dem Hakenkreuz“. http://ns-zeit.geschichte.hu-berlin.de/Portals/_NS_Zeit/Documents/Abschlussbericht_AG-NS-Zeit_HUB.pdf [6.9.2006].
[3] Vgl. u.a. Parak, M. (2004): Hochschule und Wissenschaft in zwei deutschen Diktaturen. Elitenaustausch an sÀchsischen Hochschulen 1933-1952. Köln, Weimar, Wien.
[4] Vgl. Tenorth, H.-E.: PĂ€dagogik der Gewalt. Zur Logik der Erziehung im Nationalsozialismus. In: Jahrbuch fĂŒr Historische Bildungsforschung, Bd. 9 (2003). Bad Heilbrunn, S. 7-36.
Carsten Heinze (Augsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Carsten Heinze: Rezension von: Jahr, Christoph (Hg.): Die Berliner UniversitĂ€t in der NS-Zeit, Band 1: Strukturen und Personen (unter Mitarbeit von Rebecca Schaarschmidt). Stuttgart: Fraunz Steiner Verlag 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/51508657.html