Lindenbäume flankieren die ehemalige königliche Reitstrecke zwischen dem Platz vor dem Stadtschloss und dem Tiergarten in Berlin. An dieser Allee "Unter den Linden" wurde auch das Palais des Prinzen Heinrich errichtet, in dem 1810 die erste Berliner Universität ihren Sitz fand. Sie trug zunächst den Namen Friedrich-Wilhelms-Universität, fiel nach dem Ende des 2. Weltkrieges als "Berliner Universität" unter die Verwaltung der Sowjetischen Besatzungszone und wurde schließlich 1949 nach Wilhelm und Alexander von Humboldt benannt.
Der Titel des vorliegenden Sammelbands umfasst diese unterschiedlichen Zeitabschnitte als "Pädagogik Unter den Linden". Dabei nehmen die Herausgebenden Klaus-Peter Horn und Heidemarie Kemnitz eine historische Entwicklung in den Blick, die sowohl das Wirken der dortigen pädagogischen Fachvertreter als auch eine institutionengeschichtliche Perspektive von der Universitätsgründung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zu integrieren sucht. In zwölf an der Chronologie orientierten Beiträgen zeichnet der – in der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichtsreihe des Verlags Franz Steiner sorgfältig edierte – Band zentrale Stationen der pädagogischen Fachentwicklung in Berlin nach.
Allgemein bekannte Namen, wie Schleiermacher, Dilthey oder Spranger, finden ebenso Berücksichtigung wie weniger oft rezipierte Vertreter, so etwa Beneke, Paulsen oder Münch. Auch der Auftakt mag überraschen: Heidemarie Kemnitz zeichnet ein Portrait von Johann Friedrich Wilhelm Himly, dem ersten Privatdozenten für Pädagogik an der Berliner Universität. Zwar mag Himlys pädagogisches Wirken relativ folgenlos geblieben sein, doch scheinen in seiner Vita typische Problemlagen auf – etwa die Frage der Rekrutierung qualifizierter Lehrkräfte in der Phase des Aufbaus der Universität oder die Frage nach der Bedeutung von Theorie für ein sich etablierendes akademisches Fach angesichts unterschiedlicher Zielgruppen und ihrer Verwertungsinteressen. Der "Fall Himly" (20) kann als Lehrstück preußischer Bildungspolitik im Kontext der Auseinandersetzung mit den Lehren Pestalozzis gelesen werden.
Auch die Berufsbiographien von Robert Alt und Heinrich Deiters, die Ulrich Wiegmann in seinem Beitrag über die Zeit der DDR aufgreift, markieren die Spannung der Einbindung universitärer Pädagogik in staatliche und in politisch-weltanschauliche Interessen. Anhand von Alt und Deiters beschreibt Wiegmann den Einzug einer marxistischen Fundierung in die Erziehungswissenschaft – insbesondere in die Lehrerausbildung – als einen von internen Auseinandersetzungen getragenen, subtilen Prozess, dem ebenso der Kampf um die Anerkennung der Pädagogik als Wissenschaft zugrunde lag.
Unter dem Titel "Abwicklung und Neuaufbau" wird abschließend die Zeit nach der Wende betrachtet. Der an der Tokyo-Gakugei-Universität tätige Autor dieses Beitrags, Jun Yamana, war in diesen Jahren der Reform an der Humboldt-Universität beschäftigt und kann eine vergleichsweise distanzierte "Perspektive des von außen kommenden Beobachters" einnehmen (291). Er bilanziert "Abwicklung" und "Neuaufbau" unter dem Aspekt des personellen Umbaus – im allgemeinen wie in der Erziehungswissenschaft. Die Strukturdaten werden lebendig durch den Bezug auf unterschiedliche, die Wahrnehmung des Wandels aufgreifende Erzählweisen; so kommen ost- und westdeutsche, interne und öffentliche, kritische und hoffnungsvolle Stimmen zu Wort.
Die hier angeführten Beiträge stehen exemplarisch für den Anspruch des Buches, einen ersten vertiefenden Überblick zur Geschichte des Faches an der Berliner Universität zu geben (vgl. 18). Universitätsgeschichte wird jedoch nicht im Sinne von Nabelschau oder Selbstbestätigung betrieben, sondern als Ausgangspunkt gewählt für weitere Fragen an das Verhältnis von Institution und Person, von Theorie und Praxis, von Geschichte und Gegenwart. Auch verfolgenswerte methodische Aspekte werden angesprochen, so etwa eine Fundierung des quellentextlichen Zugangs zu Lehrinhalten und -alltag im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts jenseits der Angaben in Vorlesungsverzeichnissen. Auch weitergehende Perspektiven im Hinblick auf die Wirkungsgeschichte der Berliner Universitätspädagogik im deutschen bzw. internationalen Kontext wären zu eröffnen.
Im Sinne der "lokalhistorischen Wendung" (vgl. 9) wird zwar eine Spezifik in den Blick genommen, wobei aber das gewählte Beispiel der Berliner Universität für die Entwicklung des Faches allgemein von großer Bedeutung ist. Politische Einbettung und räumliche Kontextuierung lassen erkennen, wie durch eine Phase der Präsenz des Faches ohne formale Institutionalisierung das "Einfallstor" der Pädagogik in die Bereiche Theologie, Philosophie und Psychologie "durchschritten" wurde. Dass es sich bei der Professionalisierung des Universitätsfaches Pädagogik nicht allein um eine "Erfolgsgeschichte" handelt, machen die detailreichen Ausführungen der beteiligten AutorInnen zu den zum Teil um den Preis der eigenen Freiheit erkauften Standesrechten nur allzu deutlich.
EWR 2 (2003), Nr. 1 (Januar 2003)
Pädagogik Unter den Linden
Von der Gründung der Berliner Universität im Jahre 1810 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts
Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002
(314 Seiten; ISBN 3-515-07760-X; 58,00 EUR)
Nicole Hoffmann (Koblenz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nicole Hoffmann: Rezension von: Horn, Klaus-Peter / Kemnitz, Heidemarie: Pädagogik Unter den Linden, Von der GrĂĽndung der Berliner Universität im Jahre 1810 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.01.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/51507760.html
Nicole Hoffmann: Rezension von: Horn, Klaus-Peter / Kemnitz, Heidemarie: Pädagogik Unter den Linden, Von der GrĂĽndung der Berliner Universität im Jahre 1810 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.01.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/51507760.html