EWR 5 (2006), Nr. 6 (November/Dezember)

Familienpolitik - Eine Sammelbesprechung

Rebecca Heinemann
Familie zwischen Tradition und Emanzipation
Katholische und sozialdemokratische Familienkonzeptionen in der Weimarer Republik
MĂŒnchen: Oldenbourg Verlag 2004
(349 S.; ISBN 3-486-56828-0; 34,80 EUR)
Christiane Kuller
Familienpoltik im föderativen Sozialstaat
Die Formierung eines Poltikfeldes in der Bundesrepublik 1949-1975
MĂŒnchen: Oldenbourg Verlag 2004
(393 S.; ISBN 3-486-56825-6; 54,80 EUR)
Familie zwischen Tradition und Emanzipation Familienpoltik im föderativen Sozialstaat Seit dem 19. Jahrhundert zĂ€hlt ein unter anderem rechtsphilosophisch formulierter sowie mit Privatheit, IntimitĂ€t und eigenverantwortlicher Erziehung des Nachwuchses konnotierter Autonomieanspruch gegenĂŒber Staat und Gesellschaft zu den Merkmalen des historischen Modells der bĂŒrgerlichen (Klein-)Familie in Deutschland. Doch dieses Modell war stets auch vielfĂ€ltigen Zumutungen, Anforderungen sowie Eingriffen aus Staat und Gesellschaft ausgesetzt, welche wiederum die öffentlich-rechtlich institutionalisierte und interventionsstaatlich (Kontrolle, Schutz, Hilfe) reglementierte „Ordnung der Familie“ (Donzelot 1980) prĂ€gten. Wie die aktuelle Familiendebatte zeigt, kennzeichnet der paradoxe Zusammenhang von Autonomie und Intervention auch noch im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die öffentliche Thematisierung von Familie, familiĂ€ren Aufgaben und Leistungen, Be- und Entlastungen. Untersuchungen zur Geschichte der Familienpolitik in Deutschland können somit durchaus erhellende Einsichten auch in die gegenwĂ€rtigen familienpolitischen Problemlagen und Problemdebatten bieten. Das trifft auf die beiden hier vorzustellenden zeitgeschichtlichen Monographien – fĂŒr die Veröffentlichung ĂŒberarbeitete Dissertationen – der Historikerinnen Rebecca Heinemann und Christiane Kuller zu.

Rebecca Heinemann (UniversitĂ€t Augsburg) verfolgt in ihrer Untersuchung „die öffentliche Diskussion ĂŒber die Familie in der Weimarer Republik“ (11). Konzentriert hat sich Heinemann hierbei auf „die gesellschaftliche Auseinandersetzung um das bĂŒrgerliche Familienmodell im katholischen und sozialdemokratischen Milieu der Weimarer Zeit“ (13). Doch bevor die Autorin sich den katholischen und sozialdemokratischen Positionen zuwendet, behandelt sie die Vorgeschichte des Weimarer Familiendiskurses im Ersten Weltkrieg: „die Sehnsucht nach der NormalitĂ€t des Familienlebens“ (21). In den Jahren von 1914 bis 1918, in denen sich als Folge und unter den Bedingungen dieses Krieges das interventionsstaatlich-sozialpolitische Handeln dynamisierte, fand in Deutschland erstmals der Begriff ‚Familienpolitik‘ Verwendung (vgl. 21-65). Auch die verfassungsrechtliche Institutionalisierung der Familie im neuen deutschen Staat, ihre Inschutznahme und Aufgabenbestimmung (Art. 119-121 Weimarer Reichsverfassung) wird von der Autorin nicht zuletzt als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg und seine dramatischen Auswirkungen auf die deutsche Bevölkerung gesehen (66-108). Folgt man ihrer Argumentation weiter, so fungierte der Erste Weltkrieg also als Katalysator der familienpolitischen Debatten und Initiativen ĂŒber die Novemberrevolution von 1918 hinaus. DafĂŒr stehen in der vorliegenden Untersuchung zum einen der katholische Familiendiskurs und zum anderen der sozialdemokratische Familiendiskurs.

Wie Rebecca Heinemann ausfĂŒhrt, galt fĂŒr den katholischen Familiendiskurs auch noch in den Jahren der Weimarer Republik die in der naturrechtlich-thomistischen Gesellschaftslehre verankerte Auffassung von der christlich-patriarchalischen Familie als einer autonomen, hierarchisch geordneten Fortpflanzungs- und Lebensgemeinschaft. Die Lebensgemeinschaft Familie wurde zugleich als sozial-ethische Grundform von Gesellschaft und Staat begriffen. Das von der katholischen Kirche in Deutschland in den 1920er Jahren verstĂ€rkt propagierte Kultbild ‚Heilige Familie‘ sollte, wie Heinemann ausfĂŒhrt, anschauliches „Vorbild fĂŒr Familien aller Gesellschaftsschichten sein und dadurch KlassengegensĂ€tze entschĂ€rfen“ (126). Es ging im zeitgenössischen katholischen Familiendiskurs mithin um die Restabilisierung der aus katholischer Sicht durch Krieg und massenkulturelle Moderne vom Zerfall bedrohten Familien in allen sozialen Klassen und Schichten und somit auch um die Erneuerung der ebenfalls in die Krise geratenen deutschen Nachkriegsgesellschaft eben durch die vorbildhafte christliche (katholische) Familiengemeinschaft.

Der restaurativ-antimoderne Geist des römischen Katholizismus aus der zweiten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts war in diesem Kontext noch immer oder wieder lebendig (108-133). Indem sie die mit der demographischen Frage (GeburtenrĂŒckgang) verknĂŒpfte Biologisierung des Sozialen im katholischen Familiendiskurs thematisiert, macht die Autorin aber auch auf dessen moderne, humanwissenschaftlich-bevölkerungspolitische ZĂŒge mit ihren eugenisch-sozialhygienischen BezĂŒgen aufmerksam. Hierbei behandelt Heinemann insbesondere die pronatalistischen BeitrĂ€ge des Jesuitenpaters und einflussreichen Eugenikers Herrmann Muckermann, eines der drei GrĂŒndungsdirektoren des Kaiser-Wilhelm-Instituts fĂŒr Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin. Muckermann propagierte als katholischer Ehe- und Familienratgeber vorrangig die kinderreiche „erbgesunde“ Familie und ihre tatkrĂ€ftige UnterstĂŒtzung durch einen familienfreundlichen Sozialstaat. Als wissenschaftlicher Politikberater der Zentrumspartei sprach er sich in den Krisenjahren des Weimarer Sozialstaats fĂŒr die Senkung der Pflegekosten von „Minderwertigen“ in Heil- und Pflegeanstalten aus und befĂŒrwortete zudem die Zwangssterilisation (253-273).

Der sozialdemokratische Familiendiskurs in den Jahren der Weimarer Republik thematisierte ebenfalls die demographische Frage und wies eugenisch-sozialhygienische BezĂŒge auf, wie Rebecca Heinemann an den Medizinern und sozialdemokratischen Gesundheitspolitikern Alfred Grotjahn und Julius Moses zeigt. Auch sie vertraten pronatalistische Positionen und befĂŒrworteten negativ-eugenische Zwangsmaßnahmen; letzteres gilt insbesondere fĂŒr Grotjahn. Im Gegensatz zum katholischen Familiendiskurs beinhaltete der vorrangig auf die Arbeiterfamilie bezogene sozialdemokratische Familiendiskurs jedoch die Förderung der Familienplanung (Sexualberatung, VerhĂŒtung, Abtreibung) und den Ausbau des gewerblichen und gesundheitlichen Mutterschutzes (273-288). Nach Rebecca Heinemann war „die Verwirklichung eines emanzipatorischen (und kinderfreundlichen; H. M.) Familienmodells das erklĂ€rte Ziel von Sozialdemokraten“ (133). Doch konstatiert die Autorin wenig spĂ€ter: „Die Einstellung von Sozialdemokraten zur Familie blieb in der Weimarer Republik zwiespĂ€ltig“ (138), denn trotz aller Kritik an der „autoritĂ€ren“ bĂŒrgerlichen Familie in der kapitalistischen Klassengesellschaft bildete ausgerechnet dieses Modell, nunmehr partnerschaftlich und kinderfreundlich gewendet und auf die Familie des Facharbeiters bezogen, im sozialdemokratischen Diskurs das sozial-ethische Fundament auch der zukĂŒnftigen – sozialdemokratischen – Gesellschaft. DafĂŒr sorgte nachdrĂŒcklich die KPD, die sich in ihren familienpolitischen Vorstellungen konsequent am sowjet-russischen Vorbild revolutionĂ€rer Ehegesetzgebung und Verstaatlichung der Kindererziehung orientierte. Folgt man den AusfĂŒhrungen von Rebecca Heinemann, hatte das kommunistische Bekenntnis zum sowjetischen Modell auf sozialdemokratische Familienpolitiker in Deutschland durchweg abschreckende Wirkung (144-149).

Trotz des unĂŒbersehbaren Zeitsprungs im zeithistorischen Kontinuum des 20. Jahrhunderts schließt fĂŒr den Rezensenten die auf die föderativ-sozialstaatliche Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1975 bezogene Untersuchung von Christiane Kuller (UniversitĂ€t MĂŒnchen) gewissermaßen nahtlos an die Studie von Rebecca Heinemann an. Denn wieder einmal sollte eine pronatalistische Familienpolitik in Deutschland zuerst der KriegsfolgenbewĂ€ltigung dienen, sodann auch dem weiteren GeburtenrĂŒckgang entgegenwirken. Vor einer drohenden Überalterung der (west-)deutschen Bevölkerung warnte Bundeskanzler Konrad Adenauer bereits 1953 eindringlich. Es war das Jahr, in dem auch das Bundesfamilienministerium eingerichtet wurde. Besonders lesenswert ist die von Christiane Kuller dargestellte Geschichte dieses Ministeriums bis Mitte der 1970er Jahre. Es „war [...] in erster Linie ein ZugestĂ€ndnis Konrad Adenauers an den katholischen Klerus“ (85). Folglich galt das Familienministerium in den 1950er und frĂŒhen 1960er Jahren als dezidiert katholisches Ministerium, zumal es bis 1962 mit Franz-Josef Wuermeling von einem strengglĂ€ubigen Katholiken geleitet wurde.

Doch macht die Autorin auch darauf aufmerksam, dass die SchlĂŒsselpositionen im Bundesfamilienministerium von Anfang an konfessionell paritĂ€tisch besetzt wurden, womit auch die evangelische Kirche Einfluss auf das familienpolitische Leitbild der Adenauer-Ära, die konservative bĂŒrgerliche (Klein-)Familie, auszuĂŒben vermochte. Erst mit der Sozialdemokratin KĂ€te Strobel, die im Zuge des Machtwechsels von der CDU zur sozial-liberalen Koalition zuerst das Gesundheitsministerium, dann auch das Familienressort ĂŒbernehmen musste, setzte nach Kuller die SĂ€kularisierung der Familienpolitik auf Bundesebene ein: „Unter dem Schlagwort der ‚rationalen‘ Familienpolitik distanzierten sich KĂ€te Strobel und ihre sozialdemokratischen Amtsnachfolgerinnen von den christlich geprĂ€gten familienpolitischen Leitgedanken ihrer VorgĂ€nger, die sie als reine Ideologie ablehnten“ (97).

Wie Kuller zeigt, hatte allerdings auch der wissenschaftliche Sachverstand von Anfang an seinen festen Platz im Bundesfamilienministerium. Die Autorin verweist hier unter anderem auf den von Minister Wuermeling 1954 berufenen Beirat aus Vertretern der FamilienverbĂ€nde, Ehe- und Familienberatern sowie wissenschaftlichen SachverstĂ€ndigen; unter ihnen der katholische Soziallehrer Josef Höffner (spĂ€ter Erzbischof von Köln und Kardinal) und der Soziologe Helmut Schelsky, aber auch der GrĂŒnder von Pro Familia, der Arzt und Sozialhygieniker Hans Harmsen. Harmsen, ein Grotjahn-SchĂŒler, war „vor 1945 an der Durchsetzung der Sterilisierungspolitik in den Anstalten der Inneren Mission beteiligt gewesen“ (99). Mit der Reorganisation des familienpolitischen Beirats am Ende der 1950er Jahre kamen ĂŒber die Deutsche Akademie fĂŒr Bevölkerungswissenschaft noch weitere Sozial- und Humanwissenschaftler als Politikberater hinzu, die ebenfalls schon in der NS-Zeit als Bevölkerungsexperten in Wissenschaft und Praxis tĂ€tig waren.

Cristiane Kullers Untersuchung beschrĂ€nkt sich aber nicht auf die Geschichte des Bundesfamilienministeriums (85-125). Zu den „institutionelle(n) Voraussetzungen der Familienpolitik“ (83) zĂ€hlt sie vielmehr auch die FamilienverbĂ€nde und ihre politischen AktivitĂ€ten (125-135) und die Entwicklung des Familienlastenausgleichs (155-222) als fiskalpolitisches Instrument (Familienlohn Kindergeld). Anschließend richtet Kuller ihr Interesse auf die föderativen ZĂŒge der westdeutschen Familienpolitik im Untersuchungszeitraum. Dabei hat sich die Autorin, fĂŒr sie naheliegend, auf das Bundesland Bayern konzentriert und hier wiederum die Familienbildung und -beratung sowie die KindergĂ€rten als familienpolitische Handlungsfelder in den Blick genommen (285-325). Diese erweiterte politikgeschichtliche Perspektive, die gerade auch die lĂ€nderspezifische Gestaltung von Familienpolitik erfasst, macht auf Initiativen und AktivitĂ€ten, auf inhaltliche Auseinandersetzungen und Kompetenzstreitigkeiten, auf symbolische Politik und Realpolitik aufmerksam, die auf der bundespolitischen Ebene so nicht zwingend sichtbar werden, die gleichwohl den von Christiane Kuller konstatierten „familienpolitischen Wandel“ (5) in der Bundesrepublik Deutschland vom Beginn der 1950er Jahre bis in die erste HĂ€lfte der 1970er Jahre kennzeichnen.

Beide Untersuchungen machen darauf aufmerksam, dass die Geschichte der Familie als Geschichte ihrer Leitbilder, ihrer ĂŒber die Familie hinaus weisenden Diskurse und ihrer fortschreitenden staatlichen Institutionalisierung in der industriegesellschaftlichen Moderne mittlerweile auch das Interesse der politikgeschichtlichen Forschung gefunden hat. Die Studie von Christiane Kuller enthĂ€lt ĂŒberdies Anregungen gerade auch fĂŒr eine Bildungsgeschichte, die als Sozial- oder als Diskursgeschichte den politischen Dimensionen von Erziehung und Bildung wieder vermehrt Aufmerksamkeit schenken will. Das gilt insbesondere fĂŒr das Kapitel Familienbildung und -beratung, weil es sowohl die programmatische als auch die reale KomplexitĂ€t der „Querschnittaufgabe“ Familienpolitik im föderativen Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland auf ĂŒberzeugende Weise darstellt; die Historische Bildungsforschung kann davon profitieren.
Hans Malmede (DĂŒsseldorf)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hans Malmede: Rezension von: Heinemann, Rebecca: Familie zwischen Tradition und Emanzipation, Katholische und sozialdemokratische Familienkonzeptionen in der Weimarer Republik. MĂŒnchen: Oldenbourg Verlag 2004. In: EWR 5 (2006), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/48656828.html